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Verfassungsreferendum in Algerien
Echte Reformen?

Am 1. November soll die Bevölkerung Algeriens über Änderungen an der Verfassung abstimmen. Die stammt noch aus der Zeit des langjährigen Präsidenten Bouteflika, der nach Protesten sein Amt niedergelegen musste. Doch die Protestbewegung stellt sich auch gegen den Bouteflika-Nachfolger Tebboune und sein Verfassungsreferendum.

Von Jens Borchers | 29.08.2020
Abdelmajid Tebbounev, Präsident von Algerien, bei seiner Vereidigung
Abdelmajid Tebboune, Präsident von Algerien (dpa/ MAXPPP / Billal Bensalem)
Für Algeriens Präsidenten Abdelmajid Tebboune ist politisch alles auf einem guten Weg. Anfang Juli gab er dem französischen Fernsehsender France24 ein Interview. Darin lobte er den Prozess der anstehenden Verfassungsänderungen. Der Präsident sagte, eine eigens eingesetzte Kommission befasse sich mit den etwa 2.000 Änderungsvorschlägen die eingegangen seien. Dennoch: Präsident Tebboune schien schon zu wissen, was am Ende stehen wird:
"Es geht in Richtung eines halb-präsidentiellen Regimes, das enorm viel Autorität an die Parlamentarier der Nationalversammlung abgeben wird. Das Parlament wird dann erstmals selbst Gesetze vorschlagen können. Die Nationalversammlung wird dann Kontrollkommissionen für ein bestimmtes Thema, für ein bestimmtes Ministerium einrichten können. Sie wird also die Arbeit der Regierung kontrollieren."
Tebboune hatte eine Verfassungsänderung versprochen, als er im vergangenen Dezember zum Präsidenten gewählt worden war. Nach einer Wahl übrigens, an der sich – nach offiziellen Angaben – gerade mal 41 Prozent der wahlberechtigten Algerier beteiligt hatten.
Vertrauenskrise zwischen Machthabern und Bevölkerung
Damals schon hatten monatelange Demonstrationen, jeweils dienstags und freitags, überall im Land offengelegt, wie fundamental in Algerien die Vertrauenskrise zwischen Machthabern und weiten Teilen der Bevölkerung ist. Die Protestmärsche gingen immer weiter. Die Demonstranten fordern nichts weniger als einen Regimewechsel. Sie glauben, dass das Militär seit Algeriens Unabhängigkeit von Frankreich 1962 im Hintergrund die wirkliche Macht im Land hat. Die Aufstandsbewegung will ein Ende der zivilen Marionetten-Regierungen, so hat sie es immer wieder bei den Massenprotesten zum Ausdruck gebracht.
Dann kam die Corona-Pandemie. Auch nach Algerien. Slimane Zeghidour, Franko-Algerier und Kolumnist beim französischen Sender TV5 Monde, beschreibt die Folgen so:
"Der Lockdown hat den Protest ausgesetzt. Umso mehr als er in Algerien besonders strikt war. Und obendrein galt ja auch noch eine nächtliche Ausgangssperre von Sonnenuntergang bis zum Tagesanbruch."
Zensur in Algerien
Gleichzeitig aber erlebte Algerien eine Verhaftungswelle: Oppositionelle, Journalisten, Blogger – viele wurden festgenommen. Unter ihnen auch Khaled Drareni, Journalist und Gründer der Internetseite "Casbah Tribune". Mitte August wurde er wegen "Gefährdung der nationalen Einheit" und "Illegaler Versammlung" zu 3 Jahren Haft verurteilt. Kollegen antworteten auf dieses Urteil mit lautstarken und wütenden Protesten:
Sie fordern, dass Khaled Drareni sofort wieder freikommt. Unmöglich erscheint das nicht. In den zurückliegenden Wochen hat das Regime einige Vertreter der Protestbewegung, die bereits verurteilt waren, begnadigt. Aber die Botschaft, die von diesen Begnadigungen ausgeht, wird in Algerien so verstanden: Wir, die Machthaber, lassen euch wieder frei, wenn ihr euch anschließend ruhig verhaltet.
Karim Kebir ist ebenfalls Journalist, er arbeitet bei der algerischen Zeitung "Liberté". Er beschreibt die Welle der Festnahmen und die Strategie der Machthaber so:
"Alle Fernsehstationen, auch die staatlichen Radios und TV-Sender, wurden angewiesen, nicht mehr über diese Protestbewegung zu berichten. Es gab nur noch wenige Zeitungen die der Bewegung einen Widerhall gaben".
Amnesty International, Reporter Ohne Grenzen und andere Organisationen haben Algeriens Machthaber vorgeworfen, die freie Meinungsäußerung massiv einzuschränken. Und auch Slimane Zeghidour, Algerien-Experte beim französischen Sender TV5 Monde, sagt:
"In Algerien sagen Menschenrechtsaktivisten, Rechtsanwälte und Intellektuelle, in der Bouteflika-Regierungszeit habe es nach ihrer Erinnerung keine derart verbissene Fokussierung auf Blogger und Journalisten gegeben."
In diesem politischen Klima soll nun also am 1. November ein Referendum über Verfassungsänderungen abgehalten werden. Said Salhi, Vizepräsident der algerischen Liga für Menschenrechte, sprach auf seiner Facebook-Seite von einem "Referendum der vollendeten Tatsachen". Vertreter des "Paktes für die demokratische Alternative", in dem viele Gruppierungen der Protestbewegung zusammengeschlossen sind, sprechen von "Flickschusterei": Damit lasse sich die Legitimationskrise der Machthaber aber nicht beenden.
In der Bevölkerung trifft das Referendum zu den Verfassungsänderungen offenbar auch nicht auf allzu große Begeisterung. Als Journalisten der Nachrichtenagentur afp in der Hauptstadt Algier nachfragten, bekamen sie unter anderem diese Antworten. Rachid, Angestellter in einem Unternehmen, sagte:
Alle Macht beim Präsidenten?
"Die Forderungen der Protestbewegung müssen konkretisiert werden. Sie müssen einen Platz haben in der neuen Verfassung. Momentan sieht der Entwurf für mich genauso aus, wie die alte Bouteflika-Verfassung, in der alle Macht beim Präsidenten lag und die Gewaltenteilung nicht garantiert ist. Damit kann man nichts anfangen."
Und Mourad, ein 35jähriger Unternehmer aus Algier, meinte:
"Ich denke, die heutige politische und soziale Situation in Algerien erlaubt kein Referendum zur Verfassung. Vor allem, weil das alles nicht ausreichend mit den Bürgern und allen Vertretern der politischen Szene durchgearbeitet worden ist."
Für Karim Kebir, den Journalisten der Zeitung Liberté, zielt die Strategie der Machthaber vor allem auf eines:
"Das Wichtigste ist für sie, wieder eine zivile Fassade zu errichten, hinter der aber tatsächlich die Militärs weiterhin die Entscheidungsmacht behalten."