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Verführung der Moral

Es muß Steine geregnet haben, da wo Tom Murphy geboren wurde, da wo er jetzt seinen Landsitz hat. In Connemara, an Irlands Westküste. Kühe und Schafe staksen durch das Geröll; eiszeitliche, tonnenschwere Findlinge liegen im Torf. "Tom Murphy? Der wohnt in der alten Schule, gleich neben der Kirche", sagt ein Schafzüchter und lacht. "Ein Interview wollen Sie machen mit Tom Murphy. Da sehen sie sich mal vor. Der hat auch schon mal die Schrotflinte angelegt, auf eine von der Zeitung."

Brigitte Neumann |
    Ich glaube ihm kein Wort. Erinnere mich aber an einen Artikel in der "Irish Times", in dem es hieß, Tom Murphy sei ein ‘tough guy’, so eine Art Cowboy, einer, der offenbar mit der Zigarette im Mundwinkel geboren wurde. Tom Murphy empfängt mich - ohne Zigarette im Mundwinkel - in seinem Garten; hinter Büschen versteckt steht ein nagelneues Glanzstück der Bayerischen Motorenwerke. In dunkelblau. Das Ding sieht so teuer aus, daß ich versuche, jetzt nicht irritiert zu gucken. Aber ich merke mir: Der Autor ist erfolgreich, und er neigt nicht zum Understatement. Und er ist Künstler. In seinem schwarzen T-Shirt klafft ein Loch in Herzhöhe. Er ist klein. Seine Haut gelblich. Wie die Zähne. Seine Lippen sind schmal.

    Tom Murphy ist 62. Und ein bißchen geniert. Beim Interview raucht er dann tatsächlich eine nach der anderen. Wenn er spricht, schaut er angestrengt aus dem Fenster. Er ist sehr auf Präzision bedacht. Und ich folge seinen Gedanken, weil sie etwas Magnetisches haben. "Nach meiner wirklich aller-aller-ersten Theateraufführung in London vor vielen vielen Jahren, kam eine Frau zu mir", erzählt Tom Murphy. "Sie sagte: Das war gut, Tom, und so weiter, aber: Du verstehst überhaupt nichts von Frauen! Dieser Satz lag mir dann mehr als 30 Jahre lang auf der Seele. Irgendwann hab ich’s geschafft und in den letzten 12 Jahren habe ich, in allem was ich tat, mich mehr auf Frauen konzentiert als auf Männer. Ich wurde erzogen wie alle Iren und wie die Kinder anderer Völker auch: nämlich im Bewußtsein, daß Männer und Frauen zwei unterschiedliche Rassen sind. Meine Haltung früher war: Über eine Frau zu schreiben, ist so was wie eine Grenzüberschreitung. Oder als würde ich versuchen, die deutsche oder englische Psyche zu knacken. Aber mit der Zeit fand ich diese Haltung dumm. Außerdem hat es für einen männlichen Autor durchaus Vorteile, über eine Frau zu schreiben. Man kann sich hinter ihr besser verstecken. Gleichzeitig kommt man auch besser von der eigenen Geschichte los. Man ist kreativer, kann Gefühle freier erfinden. Ist also nicht so an sich selbst, aber auch weniger an die dazugehörigen regionalen und nationalen Besonderheiten angebunden. Seltsamerweise ist es für mich als Schriftsteller sehr befreiend gewesen, über eine Frau zu schreiben."

    Vera, die Hauptfigur des Romans "Verführung der Moral", beweist, daß Tom Murphy etwas von Frauen versteht. Daß er sie nicht als Klischee sieht - nicht als das Ewigweibliche, nicht als das Eigentlichbessere und nicht nicht als das Mütterlichaufopfernde - sondern er sieht sie als Menschen. Einfach als Menschen. Und das ist durchaus etwas Besonderes.

    Der Roman "Verführung der Moral" war nicht Tom Murphys erster Frauenversuch, aber sein erfolgreichster. "Seduction of Morality", wie das Buch im Original heißt, ist bei Erscheinen in Irland sofort auf Platz eins der Bestsellerliste gekommen. Und Tom Murphy, der ja eigentlich Theaterautor ist, hat seither das Kritiker-Etikett "der neue James Joyce" zu ertragen.

    Tatsächlich sprechen die Leute in seinem Roman, wie Leute im wahren Leben auch sprechen: zerrissen, abgehackt, nicht sehr geschliffen. Es ist, als würden Vera und ihre Familie Beziehungen nach dem Motto "trial and error" knüpfen. Heute machen sie sich mit Machtspielen fertig, und morgen ist alles wieder vergessen. Und während gespielt wird, werfen wir einen Blick in ihr Herz. Gelegentlich gibt’s Störungen beim Lesen. Der Übersetzer Friedhelm Rathjen hat sich ein paar Ausrutscher geleistet. Zum Beispiel den Satz über Vera: " Ihr ganzes Leben lang hatte sie nicht die Vorreiterrolle spielen können, von der sie wußte, daß sie in ihre Zuständigkeit fiel." Tom Murphy schreibt: "All her life she could not take the lead that she knew was her responsibility." Schöner, kürzer, genauer.

    Worum geht’s in "Die Verführung der Moral"? Von ihrer Familie wegen eines Todesfalles und Erbschaftsangelegenheiten aus den USA nach Irland geholt, erlebt Vera wieder das Gefühl der Fremdheit, das sie schon immer befällt, wenn sie zu Hause ist. Sie fühlt sich ausgeschlossen, einsam. Und hat nicht viel Kraft, sich aufzulehnen. Früh war sie von der Mutter zur Großmutter - einer Hebamme und Leichenwäscherin - aufs Land gebracht worden. Die Mutter, eine Wuchtbrumme im blaßrosa Angorakostüm, wollte sich ganz ihrem zweitgeborenen Sohn Tom widmen. Als Vera zehn ist, holt die Mutter sie wieder heim. Aber da ist dieses Gefühl in Vera schon fest verwurzelt: Irgendwie muß sie schuld sein, oder böse. Ein geiler Priester im Beichstuhl bestätigt ihre Befürchtungen und sagt, sie sei des Teufesls. Damit scheint ihr Schicksal besiegelt. Vom Paria der Familie entwickelt sie sich zum Paria der Gesellschaft.

    Heimatlosigkeit, Einsamkeit ist Tom Murphys Lebensthema. In allen seinen Stücken stehen diese Gefühle im Mittelpunkt. Ob in "A Whistle in the Dark", "Conversations on a Homecoming" oder "The Wake", letzteres die Bühnenfassung des Romans "Verführung der Moral". Das Thema ist unerschöpflich, denn Leben ist nur der ständige Versuch, dem Gefühl der Einsamkeit zu entgehen.

    "Scheint so als wäre ich gefangen in etwas, das mit dem Gefühl der Isolation zu tun hat", bekennt Tom Murphy. "Menschen, die immer ihren Platz suchen, ihren Platz in der Welt. Die anderen Leute scheinen es abzulehnen, sich näher mit dem Tod zu befassen. Und es gibt genau die gleiche Ablehnung, sich mit der eigenen Einsamkeit zu befassen. Es ist doch so : Egal, zu welcher Familie Sie gehören, wie groß die ist - man ist immer allein. Nehmen Sie nur mal einen Mann: er kann 3 Frauen haben und mit allen dreien gleichzeitig im Bett liegen - er wird trotzdem total alleine sein. Und ich bin einer, der hat so eine Art Ahnung, ein Bewußtsein seiner eigenen Einsamkeit. Einer der Gründe, der Hauptgründe, warum ich schreibe, ist, daß ich nicht realitätstauglich bin. Ich bevorzuge es, eine bestimmte Wirklichkeit für mich zu erschaffen. Und Ordnung in das Chaos der Realität zu bringen. Andererseits - was mein eigenes Leben oder das Leben meiner Familie angeht, bin ich dazu nicht fähig. Mir ist die wirkliche Wirklichkeit vielleicht einfach egal."

    Einmal wollte Tom Murphy aussteigen aus dem einsamen, und wie er sagt "lunatic business" der Schriftstellerei. Raus aus der erfundenen Wirklichkeit, rein in die echte, die zum Anfassen. Und zum Aufessen. Er wollte seinen Traum als Obstanbauer verwirklichen. Auf einem großen Grundstück in den Dubliner Bergen. Mit Wald, Fluß und Wiesen drauf. Aber nach zwei Jahren war’s aus mit dem Traum. Obst rumtragen - Tom Murphy fühlte sich wie ein Lastesel. "Ich dachte mir, wenn mein einziges Talent darin bestünde zu pfeiffen oder weit zu spucken, dann wäre das besser als das. Nach zwei Jahren fing ich wieder an zu schreiben. Arbeitete noch im Garten, aber ich war froh, als ich ihn nach neun Jahren wieder los war. Und ich hatte was gelernt: Wenn du in einem Garten nicht glücklich werden kannst, dann kannst Du nirgendwo glücklich sein. Vielleicht kommen wir jetzt wieder auf diese Sache mit der Einsamkeit zurück. Die zu akzeptieren ist ein großer Schritt. Der Garten sollte ja meine Idylle sein. Aber das war’s nicht. Also mußte ich mit dem Glück leben, zu dem ich fähig war." Manchmal liegt er wochenlang im Bett, weil ihm nicht einfällt, wie sein nächstes Stück weitergeht. Dann braucht er Inspiration von draußen. Einmal mit den Schafzüchtern ins Pub, über Fleischpreise oder Fußball reden. Oder einen Honeymoon. Dann geht’s weiter. Und wenn er so richtig drin ist, im Schreiben, will er keine Menschenseele mehr sehen. Es stört ihn sogar, wenn morgens um sechs die Lichter in den Häusern angehen. Er will dann alleine sein. Am liebsten alleine auf der ganzen Welt.