Archiv


Vergangenheitsaufarbeitung in der Slowakei

Ein staatliches Institut in der Slowakei forscht über die Nazi-Vergangenheit des Landes. Die Schicksale der jüdischen Opfer, so ist das erklärte Ziel der Historiker, sollen im Internet veröffentlicht werden - mit den Namen und Daten von jedem einzelnen der etwa 75.000 deportierten Juden. Kilian Kirchgeßner berichtet über das Projekt, das in Europa bislang einmalig ist.

Von Kilian Kirchgeßner |
    Zehn Minuten vom Stadtzentrum in Bratislava entfernt, braust der Verkehr an grauen Häuserschluchten entlang. Ein Hotel steht hier, eine Bankfiliale und - einen Steinwurf entfernt - ein unscheinbares Hochhaus. Nur ein Schild im Foyer weist die Mieter aus - "Ustav pamäti naroda" steht dort auf einer Messingplatte, 4. und 5. Stock. Es ist das Institut für Nationales Gedenken, das so bescheiden residiert und doch von hier aus buchstäblich Geschichte schreibt. Der leitende Historiker ist Jan Hlavinka.

    " Gerade haben wir Informationen über die Schließung von jüdischen Unternehmen veröffentlicht, die wir aus offiziellen Regierungsunterlagen aus der Zeit von 1939 bis 1945 gewonnen haben. Zwei weitere Schritte werden noch folgen: Wir arbeiten die Geschichte derer auf, die von den Rassegesetzen betroffen waren und deren Eigentum arisiert wurde."

    Die Arbeiten, von denen Jan Hlavinka so betont sachlich erzählt, sind eine Premiere - nicht nur in der kleinen Slowakei, sondern in ganz Europa. Bei dem Projekt geht es um die Aufarbeitung der düsteren Kapitel in der nationalen Geschichte. Nur, dass sie diesmal nicht hinter verschlossenen Türen unter Historikern stattfindet, sondern transparent und für jeden zugänglich ist. Die gewonnenen Daten kommen ins Internet. Innerhalb von drei Jahren soll das Schicksal eines jeden Opfers der nationalsozialistischen Verfolgung in der Slowakei abrufbar sein. Wie das funktionieren wird, ist schon heute erkennbar.

    Ein Computer und ein Internetanschluss reichen aus, um auf den Seiten des "Instituts für Nationales Gedenken" weit in die düstere Zeit des Nationalsozialismus abzutauchen. Gezielt kann man nach dem Namen des Opfers, seinem Beruf oder seinem Wohnort suchen. Wer beispielsweise mehr über das Schicksal der jüdischen Uhrmacher erfahren möchte, bekommt nach einer Sekunde Wartezeit 152 Ergebnisse auf den Bildschirm. Allesamt persönliche Schicksale, feinsäuberlich nach Alphabet geordnet. Wann die Nationalsozialisten das Geschäft geschlossen haben steht dort und auch, wer als so genannter Liquidator dafür verantwortlich war - einschließlich Adresse und Beruf. Jaroslav Franek vom Zentralrat der Juden in der Slowakei begrüßt diese radikale Form der öffentlichen Geschichtsaufarbeitung

    " Dadurch, dass in der Slowakei der Kommunismus herrschte, haben sich gewisse Vorstellungen gehalten. Eine De-Nazifizierung wie in Deutschland hat hier nie stattgefunden. Viele schauen noch heute auf den slowakischen Staat in der Nazi-Zeit mit einer gewissen Verklärung, wie gut und wie demokratisch doch damals alles war. Ich denke, dass es deshalb für die Aufarbeitung der Vergangenheit wichtig ist, dass die Daten veröffentlicht werden. Das hält der Gesellschaft den Spiegel aus dieser Zeit vor."

    Das aufwendige Projekt bezahlt die slowakische Regierung. Vor vier Jahren hat sie das Institut für Nationales Gedenken gegründet - ursprünglich als eine Art Gauck-Behörde, die den Nachlass des sozialistischen Geheimdienstes dokumentieren und veröffentlichen sollte. Erst danach kam die Aufgabe dazu, auch die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Seit die Details über die Schließung jüdischer Geschäfte veröffentlicht wurden, ist die Besucherzahl auf der Homepage sprunghaft gestiegen. Es wird vermutet, dass unter den Interessenten auch die Nachfahren von jüdischen Opfern sind, die möglicherweise Restitutionsansprüche an den Staat richten werden. Noch allerdings ist keine entsprechende Klage eingereicht worden. Nur eine Auswirkung hat die Datenbank schon gehabt, sagt Jaroslav Franek vom Zentralrat der Juden: Die Familien der namentlich aufgeführten Liquidatoren, die für die Schließung der jüdischen Geschäfte zuständig waren, fühlen sich an den Pranger gestellt.

    " Es gibt Bedenken, weil tatsächlich nicht jeder der so genannten Arisatoren ein kaltblütiger Faschist war. Manche wurden auch von den ursprünglichen jüdischen Besitzern gebeten, das Geschäft abzuwickeln, weil es Bekannte der Familie waren. In unserem kleinen Land kennt schließlich jeder jeden. Heute berufen sich aber alle darauf und sagen: Jawohl, mein Vater war Arisator, aber er ist von den Juden darum gebeten worden. Das wird jetzt wohl zur typischen Ausrede."