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Vergangenheitsbewältigung und Geschichtskultur

Wenn Historiker sich treffen, dann streiten sie sich gern untereinander. Kaum eine Disziplin der Wissenschaft ist zwischen politischer Ausrichtung, philosophisch-methodischer Ausbildung und Interpretation gerade der jüngsten Vergangenheit so geeignet, das Grundverständnis unserer Gesellschaft, unsere Identität also, zu beschreiben und auch zu kritisieren. Auf der großen Tagung der Villa Vigoni, bei der sich rund dreißig Historiker und Fachleute aus Italien und Deutschland austauschten, zeigten sich einerseits Brüche zwischen den beiden Kulturkreisen, anderseits spiegelte sie auch die jeweiligen Auseinandersetzungen in den beiden Ländern wieder. Deutlich wurden ebenfalls Unterschiede zwischen den Generationen, wie in der Frage um die Wertung historischer Vorgänge aus der Zeit des Nationalsozialismus oder des Faschismus. Ein älterer Historiker, wie der 70-jährige Wolfgang Mommsen, antwortet

    Im Prinzip ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, moralische Urteile zu fällen, weil das ist eine andere Ebene, der Wirklichkeit. Ein Wissenschaftler muss Sachverhalte intersubjektiv überprüfbar präsentieren, moralische Urteil lassen sich nicht intersubjektiv überprüfen.

    So einfach könne man es sich aber nicht machen, sagt der Berliner Bernd Sösemann, der Leiter dieser Tagung, der zur Generation der Funfzigjährigen gehört. Das könne man zum Beispiel an der Diskussion um den Film "Rosenstraße" sehen, wo sich ein Teil der Wissenschaft auf reines Quellenstudium zurückgezogen habe.

    Das ist aber eine Argumentation aus dem Elfenbeinturm, vom Schreibtisch her. Wir wissen längst, dass in der Mediengesellschaft neben der Geschichtswissenschaft mindestens genauso einflussreich ist: das Fernsehen, der Hörfunk, die Tageszeitung, das sind Medien, die heute Zeitgeschichtsschreibung mitmachen.

    Die Fragen von Vergangenheitsbewältigung, Geschichtskultur und Erinnerungspolitik, die am Wochenende am Comer See diskutiert wurden, zeigten aber auch erneut, wo es noch im deutsch-italienischen Dialog knirscht. Christiane Liermann, die Fachleiterin der Villa Vigoni, fasst das zusammen:

    Es ist sicher das sprachliche Problem vom Gros der deutschen Historiker, die schlicht keine italienische wissenschaftliche Literatur lesen, nicht lesen können und die sehr wenig in Deutschland rezipiert wird. Im umgekehrten Sinne ist es viel besser. Es gibt eine gute Rezeption deutscher wissenschaftlicher Literatur in Italien. Das andere ist aber, es knirscht im Unverständnis zwischen den beiden Wissenschaftskulturen, weil es in Italien ein sehr viel stärkere Politisierung nach wie vor gibt, während sich die deutsche Geschichtswissenschaft durch zunehmende Distanzierung und Neutralisierung des Themas Drittes Reich sich ein bisschen davon befreit.

    So ganz will die Befreiung aber nicht gelingen, wie gerade die Diskussionen um die antisemitischen Äußerungen des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, um das Holocaust-Mahnmal oder um die Erfahrungen der Vertreibung zeigen. In Italien dagegen erlebt man gerade unter der Berlusconiregierung den Ver-such, gegen die antifaschistische Interpretation der Mussolinizeit und der Gründung der Republik ein konkurrierendes Geschichtsbild aufzubauen, weil der Antifaschismusbegriff nach dem Geschmack konservativer Kräfte zu stark von einer linken, gar kommunistischen Interpretation geprägt sei. Und wenn man in der Villa Vigoni bei Grundsatzproblemen oft nebeneinander her sprach, kam man sich bei konkreten Fragen näher, wie Bernd Sösemann beschreibt:

    Nun zeigte es sich, als es um Konkreta ging, dass wir eine gemeinsame Basis haben, nur die muss erst einmal erkennbar werden für beide Seiten. Dann wurden die Diskussionen bei den Themen am heftigsten, die am stärksten in die unmittelbare Gegenwart hineinreichten. Also Mahnmaldebatten, museale Präsentation, das verstanden italienische Kollegen sofort, wie Gedächtniskultur in die unmittelbare politische Gestal-tung hineinwirkt.

    Die Villa Vigoni ist in den letzten Tagen ins Gerede gekommen. Das Bundesbildungsministerium, das von deutscher Seite federführend gleichsam als Aufsichtsbehörde auftritt, möchte gerne den Präsidentenposten mit einem verdienten Altgenossen besetzen, der zwar wissenschaftliche Reputation vorweisen kann aber von Italien nichts versteht, nicht einmal die Sprache. Es wäre schade, wenn solch eine wichtige wissenschaftliche Bühne wie die Villa Vigoni im deutsch-italienischen Austausch zum Abstellbahnhof der Personalpolitik einer Berliner Behörde verkommen würde.