Donnerstag, 25. April 2024

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Was in den Medien fehlt
Die "Vergessenen Nachrichten" des Jahres 2022

Soziale Themen bestimmen in diesem Jahr die Rangliste der sogenannten "Vergessenen Nachrichten". Topthema war nach Einschätzung einer Fachjury aus Wissenschaftlern und Journalisten die schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit in den Schulen. Auch der dramatische Rückgang der Schmetterlingspopulation gehört zu den vernachlässigten Themen.

22.04.2022
    Ein Bläuling sitzt auf den Blättern einer gewöhnlichen Vogelwicke
    Das Verschwinden der Schmetterlinge - aus Sicht der "Initiative Nachrichtenaufklärung" eine der "Vergessenen Nachrichten" des Jahres 2022. (IMAGO / Gottfried Czepluch)
    Wann haben Sie zuletzt in den Medien über die Einschränkungen der Lernmittelfreiheit gehört? Wie oft haben Sie etwas über den dramatischen Rückgang der Schmetterlinge erfahren? Diese Themen sind aus Sicht einer Jury nur zwei Beispiele für die "Vergessenen Nachrichten“ dieses Jahres.
    Gemeinsam mit der Initiative Nachrichtenaufklärung e.V. (INA) veröffentlicht die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks einmal im Jahr eine Liste von Themen und Nachrichten, über die nach Einschätzung einer Jury zu wenig berichtet wird.
    Die Liste von zehn Themen, die in den vergangenen zwölf Monaten stark vernachlässigt wurden, wurde am 22. April 2022 auf einer virtuellen Pressekonferenz vorgestellt. Wir dokumentieren im Folgenden die Erläuterungen der Initiative Nachrichtenaufklärung.

    Die "Vergessenen Nachrichten 2022“

    1. Die fortschreitende Abschaffung der Lernmittelfreiheit

    Eigentlich sollen Lernmittel – also vor allem Schulbücher und Übungshefte – für alle Schulkinder in Deutschland kostenlos sein. Denn Schulbildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Doch in vier Bundesländern gibt es bereits keine Lernmittelfreiheit für Schulbücher etc. mehr, und der wirtschaftliche Druck auf die anderen Länder, diese Mittel einzuschränken, steigt. Das Thema geht alle Familien in Deutschland mit schulpflichtigen Kindern an. Dennoch wird darüber in den großen Medien viel zu wenig berichtet.

    2. Lücke im deutschen Gesundheitssystem: Tausende Menschen nicht krankenversichert

    Der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zufolge hat jeder Mensch das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet. Dennoch fallen in Deutschland rund 143.000 Menschen durch das soziale Netz unserer Solidargemeinschaft. Bürokratische Hürden und Gesetzeslagen verhindern oftmals eine Versicherung bestimmter Personengruppen. Als ehemalig selbstständige oder privatversicherte Person kann man in den Unversichertenstatus abrutschen. Viele Betroffene wissen dabei nicht um ihre Möglichkeiten der medizinischen Versorgung. Das Ausmaß dieser Lücke im Versicherungssystem ist zahlreichen Menschen nicht bewusst, auch aufgrund mangelnder Berichterstattung. Diesem wichtigen Thema sollte mehr Aufmerksamkeit zuteil werden, sowohl medial als auch gesamtgesellschaftlich.

    3. Pflegende Kinder und Jugendliche

    In Deutschland sind etwa 480.000 Kinder und Jugendliche regelmäßig an der Pflege ihrer Angehörigen beteiligt. Obwohl sie damit einen enormen Dienst für die Gesellschaft leisten, spielen junge Pflegende kaum eine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Nach großer, aber kurzzeitiger Medienaufmerksamkeit in den Jahren 2018 und 2019 sind weitreichende Veränderungen in Bezug auf altersgerechte Hilfestellungen ausgeblieben. Stattdessen sind pflegende Kinder und Jugendliche wieder weitestgehend von der Medien-Agenda verschwunden. Die fehlende Thematisierung dieser besonderen Pflegenden birgt allerdings das Risiko eines Zusammenbruchs des deutschen Pflegesystems, das gesamtgesellschaftlich nicht zu unterschätzen ist. Darüber hinaus wird übersehen, dass die Kinder und Jugendliche keine Lobby besitzen, die ihre Interessen vertreten und für eine Verbesserung ihrer schwierigen Situation eintreten, da die Pflege erhebliche Ressourcen binden. Dies ist erforderlich, um eine Überforderung der Minderjährigen zu vermeiden, die neben der allgemeinen psychischen und physischen Belastung auch eine Einschränkung der Arbeits- und Freizeitoptionen bedeuten kann.

    4. Palliativversorgung für Wohnungslose

    Quälend und unbemerkt, so lässt sich der Tod vieler Wohnungslosen in Deutschland beschreiben. Nach dem Kampf um das Überleben auf der Straße folgt der Kampf um einen würdevollen und schmerzfreien Tod. Dabei können Hospize helfen, welche eine Palliativversorgung gewährleisten. Jedoch kann keine Aufnahme in ein Hospiz ohne Diagnose erfolgen, die aber oftmals nicht vorliegt, da sich Wohnungslose aus psychosozialen Motiven oder aus Angst nicht ärztlich behandeln lassen. Die größte Hürde stellt die fehlende Krankenversicherung bei vielen Wohnungslosen dar, die die Übernahme der Kosten für eine Palliativversorgung nach dem Hospiz- und Palliativgesetz ausschließt. Denn die Kosten für die Behandlung können demnach lediglich bei Versicherten übernommen werden. Während die Berichterstattung zu diesem relevanten Thema fast ausschließlich durch Hospize, wohltätige Vereine sowie Lokal- und Fachzeitungen erfolgt, ist das Schicksal der Wohnungslosen auf der Agenda großer Medienhäuser kaum nachzulesen.

    5. Keine Macht den Räten? Betriebsrätemodernisierungsgesetz fast unbekannt

    In Deutschland arbeiten weniger als die Hälfte der Beschäftigten in einem Betrieb mit Betriebsrat – Tendenz sinkend. Die Änderungen durch das Betriebsrätestärkungsgesetz sollte die längst überfällige Reform des Betriebsverfassungsgesetzes werden und die Gründung sowie die betriebliche Mitbestimmung, in der sich verändernden Arbeitswelt stärken. Aber nicht nur der Name, auch der Inhalt wurde wesentlich eingeschränkt. Am 18.6.2021 trat das Betriebsrätemodernisierungsgesetz in Kraft und stellt im Kontrast zum vorangegangenen Referentenentwurf insgesamt nur eine geringere Weiterentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes dar. Trotz der Wichtigkeit für die Beschäftigten in ganz Deutschland wurde das Thema nur in Fachkreisen erörtert und kommuniziert.

    6. Nachhaltige Autobahn aus Asche

    Seit über 2.000 Jahren nutzen Menschen Zement als Baustoff für Gebäude und Straßen. Die Herstellung ist jedoch durch den hohen Ausstoß von CO2 enorm klimaschädlich. In mehreren europäischen Ländern wird derzeit eine Alternative getestet: Im Autobahnbau wird der Zement dabei durch Flugasche ersetzt. Zwar ist das Thema Klimaschutz in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Konkrete Berichte über solche Pilotprojekte gibt es jedoch in vielen Medien noch zu wenig. Eine vielfältigere Berichterstattung und mehr Positivbeispiele könnten dazu beitragen, die Klimakrise nicht als abstraktes Schicksal wahrzunehmen.

    7. Sexismus in politischen Parteien

    Vier von zehn Politikerinnen haben im politischen Arbeitsalltag schon Sexismus und Belästigungen erlebt, zeigt eine Studie der europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF). Die Studie zeigt auch: Wenn Frauen sich in kleinen, ländlichen Gemeinden politisch engagieren möchten, müssen sie mit erschwerten Bedingungen rechnen. Dabei wünscht sich die Mehrheit der Deutschen mehr Frauen in verantwortungsvollen Positionen - wie eben in politischen Ämtern. Um das zu erreichen, versuchen viele Parteien mit einer selbstauferlegten Quote den Frauenanteil zu erhöhen, um in den Parlamenten für eine Ausgewogenheit der Geschlechter zu sorgen. Die Herausforderungen der Parteien auf Bundes- und Landesebene, Parität zu erreichen, zeigen sich auf Kommunalebene noch viel deutlicher. Sexismus, intransparente Nominierungsprozesse und sogenanntes Platzhirschgehabe sorgen dafür, dass Frauen gar keinen Zugang zu politischem Engagement bekommen und dass Männer bei den Mandaten und leitenden kommunalen Aufgaben überrepräsentiert sind.
    Auch wenn das Thema Sexismus in verschiedenen Kontexten medial thematisiert wurde, ist die Berichterstattung über Sexismus in Parteien mit Fokus auf die Ortsverbände bislang weitgehend unbeachtet geblieben. (Anmerkung der Redaktion: Die Jury hat getagt vor der jüngsten Berichterstattung zu den Vorwürfen innerhalb der Linkspartei.)

    8. Das Aussterben der Schmetterlinge

    Bereits ein Drittel aller Schmetterlingsarten sind von unserem Planeten verschwunden. Gründe hierfür sind der fehlende Lebensraum, der Mangel an Futterpflanzen, der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft und schließlich der Klimawandel. Schmetterlinge erfüllen jedoch – ähnlich wie Bienen und andere Insekten – eine elementare Rolle für das Ökosystem: Sie tragen zur Bestäubung von Pflanzen bei und schaffen damit eine wesentliche Basis für die Nahrungsmittelproduktion; sie und vor allem ihre Raupen dienen als Nahrungsquelle für viele andere Tiere; schließlich stellt ihre Präsenz einen sichtbaren Bioindikator für den Zustand von Naturräumen dar und bildet damit ein wichtiges „Frühwarnsystem“ für deren Gefährdung. Der Artenschwund von Schmetterlingen ist nicht nur als solcher bedauerlich, sondern er hat gravierende Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht. Auch wenn der Rückgang von Insekten wiederholt medial thematisiert wurde, ist das Aussterben der Schmetterlinge bislang weitgehend unbeachtet geblieben.

    9. Nachhaltige Bauinnovation durch „Lego“-Konstruktion und Baumaterial aus verwertetem Kunststoff und Reststoffen

    Wohnungsnot, Erdbeben, Flutkatastrophen, Kriege - es gibt vielfältige Szenarien, welche einen schnellen und nach Möglichkeit nachhaltigen Wiederaufbau erfordern. Im ökologischen Fokus steht hierbei nicht nur die Gewinnung von Baustoffen, sondern auch deren Wieder- bzw. schnelle Weiterverwertung. Die australische Nichtregierungsorganisation „Classroom of Hope“ hat in Zusammenarbeit mit dem finnischen Start-Up „Block Solutions“ eine nachhaltige, ressourcenschonende und bautechnisch unkomplizierte Alternative zu Ziegelsteinen entwickelt. Dieser „Eco-Block“, einem überdimensionierten Lego-Stein nicht unähnlich, besteht zur Hälfte aus recyceltem Plastik und zu 50 % aus Fasern, zum Beispiel aus abgenutzter Kleidung, Fasern aus der Forstwirtschaft, Resten von Zellstoff oder Sägemehl.
    Die „Lego-Konstruktion“ erlaubt es auch bautechnisch unausgebildeten Helfern sehr schnell bauliche Erfolge zu erzielen. Besteht dennoch Umbau- oder gar erneuter Aufbaubedarf, so können die „Eco-Blocks“ in der Regel rasch erneut verbaut werden. Erste Projekte im (warmen) Indonesien nach der Erdbebenkatastrophe 2018 und im (kalten) Finnland verlaufen erfolgversprechend.

    10. Psychischer Missbrauch im Tanzsport

    Tänzerinnen und Tänzer sind im Gegensatz zu den Aktiven anderer Sportarten weitaus häufiger von Essstörungen, ungesundem Leistungsdruck, Bodyshaming und sexuellen Übergriffen betroffen. Die Bereitschaft im Breiten- und Freizeitbereich des Tanz- und Ballettsports, den Missbrauch anzuzeigen und sich psychologische Hilfe zu suchen, ist jedoch im Tanzsport aufgrund des autoritären Unterrichtsstils sehr gering. Dieser vermittelt, dass alles, was von der Perfektion abweicht, Schwäche ist. Es handelt sich hierbei um ein systematisches Problem, das immer noch von vielen Lehrenden gefördert wird. Tanz- und Ballettsport wird von vielen Kindern und Jugendlichen betrieben - in einer, gerade für Mädchen, oftmals schwierigen Lebensphase. Während Missbrauch im Profisport sowie in zahlreichen Amateur-Disziplinen aufgedeckt, diskutiert und zu Teilen vor Gericht gebracht wird, vernachlässigt die Berichterstattung die aktuellen Zustände im Tanz- und Ballettsport und deren Gründe.

    Zum Hintergrund

    Die Themen hat auch in diesem Jahr wieder eine Jury aus Medienwissenschaftlern, Journalisten und Experten ausgewählt. Ausgangspunkt sind Vorschläge aus der Bevölkerung. Per E-Mail, Post oder Webformular können bei der Initiative Nachrichtenaufklärung auch jetzt bereits wieder vernachlässigte Nachrichten für das kommende Jahr vorgeschlagen werden. Studentinnen und Studenten an mehreren deutschen Hochschulen überprüfen dann, ob die Themen und Nachrichten zutreffend sind und ob sie tatsächlich von den Medien vernachlässigt wurden. Alle Themen, die diese Kriterien erfüllen, werden dann der Jury vorgelegt. Diese entscheidet dann, welche der Themen sie für besonders relevant hält.