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Vergessener Landstrich

Am Samstag vor Ostern auf dem Viehmarkt von Chust in Transkarpatien. Es ist neun Uhr morgens – oder zehn Uhr, je nachdem welche Zeitrechnung gerade gilt. Denn hier schlägt keine keine einheitliche Stunde.

Von Christiane Seiler |
    Offiziell gilt die Kiew-Zeit, also Mitteleuropäische Zeit plus eine Stunde. Aber die Bewohner der Gegend ignorieren weitgehend die staatlichen Vorgaben und richten sich hartnäckig nach Budapest, Wien oder Prag. Deshalb ist es ratsam immer nachzufragen, wie die Uhr des Gesprächspartners tickt, sollte man vorhaben, eine Verabredung zu treffen. Hier spürt man immer wieder: Dieser einstige Teil der Habsburgermonarchie gehört zu Europa.

    Wegen des nahen Feiertages ist der Markt nur mäßig besucht, aber immer noch stehen gut hundert Händler am Rand der viel befahrenen Hauptstraße und bieten feil, was ihre heimische Viehzucht hergibt: Ferkel, Kälber, Fohlen; Gänse-, Enten- und Hühnerküken. Im Kofferraum eines Autos liegen auf Stroh gebettet zwei schlafende Ferkel und harren eines neuen Besitzers. Ein älterer Mann mit blauer Mütze trägt in zwei festen Säcken seinen erzürnt quiekenden Kauf vom Platz. Ein Fohlen steht neben einer dürren, ungepflegten Stute, die vor einen ärmlichen Pferdekarren gespannt ist. Dazwischen verkaufen Frauen Kaffee aus großen Thermoskannen, Gebäck und Piroschki. Laster brausen vorbei. Auf der anderen Straßenseite, hinter einem mit Plastikmüll gefüllten Graben, stehen Zigeuner mit ihren Pferden auf der Wiese.

    Mitten in diesem chaotischen, geschäftigen Anti-Idyll soll ein Kindertraum in Erfüllung gehen: Zehn Gänslein wandern aus ihrem Käfig in einen Pappkarton, herausgehoben von Kinder- und Männerhänden, sorgsam bewacht von einem stämmigen Verkäufer mit imposantem Schnurrbart. Dann wird der Karton im Kofferraum eines uralten Ladas verstaut.

    Chust ist eine Bezirkshauptstadt der ukrainischen Oblast Transkarpatien oder Sakarpattia, wie es in der Landessprache heißt. Die Stadt hat rund 30.000 Einwohner, außerdem mehrere Kirchen, eine Synagoge, einen Marktplatz, ein Kriegerehrenmal im sowjetischen Stil und eine geschichtsträchtige Burgruine. Straßen und viele Häuser befinden sich in desolatem Zustand, aber überall herrscht kommunikative Geschäftigkeit. Chust ist das Handelszentrum der Gegend, hier gibt es alles zu kaufen, was die Läden und Märkte in den kleineren Orten nicht hergeben. Mit Bus und Bahn kommen die Leute aus der näheren Umgebung und weiter entfernten Städten.
    Die Stadt liegt in einer weiten Ebene, nahe der Mündung der Rika in die Theiß. Dieser längste Nebenfluss der Donau entspringt rund 150 km flussaufwärts in den Karpaten, bei der Stadt Rachiv und bildet die Grenze zu Rumänien und Ungarn, am Rand der pannonischen Ebene, in der schon die Römer und die Hunnen geherrscht haben. Im Süden beginnt Rumänien in der sogenannten karpatischen Schweiz, deren spitze, von Laubwäldern bedeckte Vulkankegel sich malerisch am Horizont erheben. Im Nordosten erstrecken sich wenige Kilometer hinter Chust die ersten Ausläufer der Waldkarpaten, auf dem 1500 Meter hohen Gipfel des Manschul liegt noch Schnee.

    20 Kilometer flussaufwärts in südöstlicher Richtung, in dem 2000-Seelen-Dorf Steblivka, haben die Gänslein ihren Bestimmungsort erreicht: Wiesen und Wassergräben, dazu ein liebevoll gezimmerter Stall und eine Kuschelecke aus Stroh mit einer Infrarot-Wärmelampe. Hier, auf dem Gelände einer ehemaligen Kolchose, auf den Auenwiesen und in den Weichholzwäldern der Theiß verbringen wir die Osterferien, Vater, Mutter, Tochter bei einem ländlichen Arbeitseinsatz: Wir räumen Wiesen und Weiden von Ästen und Plastikschrott frei, füttern die Tiere, bauen einen Futtertrog. Zwei Wochen lang nehmen wir am Leben der Menschen hier teil.

    Wir besuchen den gebürtige Kieler Michel Jakobi. Seit einem Jahr lebt er auf dem Gelände. Zur Zeit schreibt er seine Diplomarbeit in Forst- und Umweltwissenschaften. Darin widmet er sich dem sogenannten Karpatenbüffel:

    "Die Büffel waren hier in Transkarpatien und in der gesamten Maramuresch eine beliebte Mehrzwecknutzungsrasse. Das heißt, deren Qualitäten als Tragtier, Zugtier, Milchlieferant, Fleischlieferant wurden in allen Dimensionen genutzt, die wurden vor den Pflug gespannt, und sie haben Lasten von über 250 Kilo tragen können und das über viele Kilometer, können im sumpfigen Gelände und auch im Winter eingesetzt werden; mit der Maschinisierung ist die Arbeitskraft immer weiter weggebrochen, die Tiere geben weniger Milch als eine Hochleistungsmilchkuhrasse, also dieser Mehrzwecknutzungsaspekt ist weggefallen, und dadurch ist durch die Haltung eines Karpatenbüffels am Ende des Jahres weniger Geld in der Tasche als würde ich mir jetzt eine normale Hauskuh halten und so haben alle die auf Tradition und Kultur nicht so viel Wert legen, rein rechnerisch diesen Büffel wegrationalisiert."

    Zu Sowjetzeiten wurde die hochwertige Büffelmilch noch als Delikatesse geschätzt. Aber nach dem Zusammenbruch des Imperiums verschwand auch der Markt für die teuren Büffelprodukte. Alle Tiere der Kolchose wurden geschlachtet.

    "Wir befinden uns jetzt hier in einem ehemaligen Büffelstall. Also diese Kolchose war ein Büffelbetrieb mit bis zu 300 Tieren die in der Umgebung jeden Tag weiden konnten, das war ein Milch erzeugender Betrieb, der unter anderem Büffel gehalten hat. .... Das heißt man hat denen Morgens die kette losgemacht und sie wurden auf die Weiden getrieben. Die Milchprodukte gingen in die großen Städte über Lviv, Lemberg über Kiew bis nach Moskau."

    Nur wenige Exemplare des Karpatenbüffels überlebten in verstreuten Bauernhöfen. Bis Michel Jacobi kam und seine Liebe zu den urtümlichen zottigen Tieren entdeckte. Es gelang ihm, ehemalige Züchter an einen runden Tisch zu holen. Darunter war auch Valeri Pawlowitsch, damals wie heute der Direktor der Kolchose:

    "Bei ihm habe ich das Gefühl, ihm tut leid, was er damals getan hat. Er war von Anfang an bereit, uns hier alles an Unterstützung zu geben, was er kann, das Gelände das Know-how. Geld ist hier keins vorhanden, aber die Stallruinen und die Gebäude und was davon übrig ist und durch deren Unterstützung konnten wir einiges wieder aufbauen und die Büffel hier für ne symbolische Miete hier wieder integrieren."

    Zur Zeit grasen 18 Karpatenbüffel auf dem Gelände und suhlen sich in den Wassergräben: Stiere, Kühe und Kälber. Dazu Pferde, Hunde, Katzen, Schafe, Ziegen, Schweine und neuerdings auch Gänse. Michel Jacobi wird von der Schweizer Save Foundation unterstützt und hat noch andere Sponsoren aufgetrieben. Und er ist nicht alleine gekommen. Begleitet haben ihn Ana Ardelianou und Markus Bergmann, ein Ingenieur für Energie- und Umwelttechnik:

    "Man hat halt viele Möglichkeiten, und bei uns ist halt so, dass sehr viel geregelt ist. Also, ich hab auch viele Grenzerfahrungen gemacht, wo man dann zum Beispiel mit der Polizei in Konflikt gerät, ich hab viel Zeit im Wagen verbracht, viele politische kämpfe auf der Straße getan, habe halt gemerkt, du kannst nicht alles machen, du kommst irgendwann an Grenzen, und hier geht das halt schon noch ganz gut, man kann sich ausprobieren, bei uns geht das nicht so gut. Ich kann hier einen Bauwagen hinstellen und drin wohnen, und das wird erst mal niemanden interessieren, das ist erst mal allen Leuten egal. Es kommt nicht darauf an, den ganzen Luxus zu haben, den wir in Deutschland haben, sondern man sollte sich auf das beschränken, was einen glücklich macht und also ich hab auf jeden Fall festgestellt, dass dazugehört, nicht unbedingt Luxus im materiellen Sinne anzustreben, so wie es mal viel gemacht wird in Deutschland oder Europa."

    Draußen vor dem Stall stehen die Karpatenbüffel an der Heuraufe und fressen. Michel Jacobi kennt sie alle mit Namen

    Auch die Gänslein dürfen schon hinaus auf die Wiese, zupfen frisches grünes Gras, machen erste Schwimmübungen im Straßengraben. Hoffentlich erkälten sie sich nicht. Vor allem das kleinste, Gipsy genannt, wirkt so zart und verletzlich.:

    In sicherer Entfernung verharrt eine Schafherde und traut sich nicht an den unbekannten Menschen vorbei. Dann kommen die Schäfer: Baba Christina und ihr Mann Iwan.

    Die Schäfer wohnen in einem Haus bei den Fischteichen, schräg gegenüber dem Büffelstall liegt der Schlachtplatz für Schafe und Ziegen. An einem Gerüst hängen einige Felle zum Trocknen. Halbwilde Hunde freuen sich über herumliegende Schlachtabfälle, Schädel und Knochen. Michel, Markus und dessen Freundin Anna, die zur Zeit mit Fieber und Durchfall das Bett hütet, wohnen in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude, ohne Heizung und fließendes Wasser. Ein Fresko im realsozialistischen Stil schmückt eine Wand des früheren Versammlungsraums: stämmige blonde Bäuerinnen mit diversen landwirtschaftlichen Geräten schauen freudig in die Zukunft. Wasser muss man aus dem Brunnen holen und gut abkochen, wenn es einem nicht so ergehen soll Anna. Was ist das für eine Gemeinschaft, in der die drei jungen Deutschen jetzt leben?

    "Das Interessante hier ist das Zusammenleben mit den Menschen. Es existiert hier in verschiedenen systemischen Ebenen eine Gemeinschaft unter den Hirten, die sich im Austausch mit Produkten, Wissen oder den Freundschaften gegenseitig helfen, bis hin zu verschiedenen Hierarchien, die auch in dieser Gesellschaft existieren, es werden also auch Leute von oben herab behandelt, weil sie in einem bestimmten Stand groß geworden sind. Hier auf diesem Gelände identifiziere ich mich mehr mit den Hirten, also mit den einfachen Leuten, und hab festgestellt, dass eine sehr, ja, herzliche Kultur sich hier entwickelt hat, die auf Geben und Nehmen beruht, hier grade in dieser, man kann es fast Kommune nennen, die hier zwischen den Hirten und den Händlern existiert, wird halt der Geldfluss fast unterbunden, sondern es findet halt ein Güteraustausch statt. Also sprich, Milch wird gegen Kleidung getauscht, oder gegen Fisch oder Wurst oder Fleisch, und Nüsse, also jeder bringt so seine Fähigkeiten, auch grade die Korbbinder oder die Wolle, mit der wir hier handeln können oder mit der gehandelt wird, also jeder bringt seine Fähigkeiten und seine Güter auf diesen Minimarkt, und dadurch, dass so eine starke Kommunikation zwischen den wenigen Leuten hier existiert, weiß auch jeder, wie er wo auf wen zurückgreifen kann, und durch das Handy ist auch jeder sofort erreichbar und abrufbar, wenn man diese Produkte oder Dienstleistungen halt braucht. Also es ist ne ganz spannende Kleinstökonomie, die hier existiert, und in der ich mich wirklich wohl fühle, weil, dadurch, dass ich auch ein Handy hab und auch die ganzen Telefonnummern der Hirten, ist es wirklich lustig, wenn man dann auf der Wiese steht und für abends halt Milch bestellt, im Austausch gegen einen Pullover, den ich aus Deutschland mitgebracht hab."

    Wir drei Besucher wohnen im Dorf, bei Igor Woloschuk und seiner Familie. Dazu gehören noch seine Frau Natascha, zwei kleine Kinder, eine Großmutter und eine Urgroßmutter. Sie empfangen uns herzlich und quartieren uns im Elternschlafzimmer ein. Im Haus ist es warm, es gibt eine Dusche und Wasser; trinken kann man es nicht.

    Zur Toilette geht's über den Hühnerhof. "Nehmt einen Besen mit", erklärt uns die Großmutter, "um die Hähne abzuwehren". Wir verständigen uns auf Russisch, das auch für unsere Gastgeber eine Fremdsprache ist, in der Schule wird es kaum mehr gelehrt. Untereinander sprechen die Familienmitglieder nicht Ukrainisch, erklären sie uns, sondern Ruthenisch, das mehr mit dem Russischen als mit dem Ukrainischen verwandt sei. Jeden Morgen und Abend werden wir üppig verpflegt: Gefüllter Karpfen, frittierte Kartoffeln, scharfe rote Soße, Karottensalat, Spiegeleier, Frikadellen, Pelmeni, selbst gemachter Frischkäse, der mit Zucker und Rahm gegessen wird und das Nationalgericht Golubzi: kleine, mit Reis und Hackfleisch gefüllte Kohlrouladen, in Tomatensoße gekocht. Alles ist nahrhaft und köstlich und alles stammt aus der eigenen kleinen Landwirtschaft, wie uns stolz berichtet wird. Das bedeutet harte Arbeit. Wie die meisten anderen Einwohner des Dorfes sind die Woloschuks Nebenerwerbsbauern: Hühner sorgen für Eier, Kuh und Schwein im Stall für Milch und Fleisch, im lang gestreckten Garten hinter dem Haus befinden sich ein sorgfältig bestellter Kartoffelacker und Gemüsebeete für Zwiebeln, Tomaten, Kohl. Damit sind auch schon die Grundnahrungsmittel benannt, die in immer wechselnden Zusammenstellungen auf dem Speiseplan stehen. Und was man selbst gerade nicht hat, bekommt man von den Nachbarn.

    Familienvater Igor Woloschuk sorgt für den Gelderwerb. Er ist den ganzen Tag auf Achse, mit seiner russischen Limousine mit Stufenheck und unermesslichem Kofferraum. Ein Arbeitstier, erklärt er zufrieden. Igor hält Schweine in einem Stall der ehemaligen Kolchose und wird von Nachbarn gerufen, wenn deren Tiere krank sind. Denn er selbst hat zwar Zahntechniker gelernt, praktiziert aber als Tierarzt wie sein Vater, von dem er alles Nötige abgeschaut hat. Der Rücksitz seines Autos ist übersät mit Ampullen und kyrillisch beschrifteten Fläschchen.

    Während Igor seiner Erwerbsarbeit nachgeht, bestellen die drei Frauen Haus und Hof und kümmern sich um die Kinder. Die Urgroßmutter, fast achtzig Jahre alt und nicht mehr sehr gut zu Fuß, kümmert sich um den kleinen Jurek. Die Großmutter ist Mitte fünfzig und war Buchhalterin, bis sie in Rente ging. Sie erzählt von den vielen Arbeitslosen im Dorf. Kaum jemand hat eine geregelte Anstellung. Sie würden gerne nach Deutschland kommen, zum arbeiten, sagt sie mit einem Anflug von Bitterkeit.

    Die Großmutter ist für den Garten, die Hühner und die sechsjährige Slavka zuständig. Eines Morgens empfängt sie uns mit dem Stolz einer Hebamme: Die Sau hat Ferkel geworfen, 14 an der Zahl.

    Am Ostersonntag, morgens früh um sechs, begleiten wir die Familie zum Gottesdienst. Die Männer im Anzug, die Frauen individuell festlich gekleidet, alle, bis auf wenige Ausnahmen, tragen das obligatorische Kopftuch.

    Wie viele Ukrainer gehören auch die Woloschuks zur griechisch katholischen Kirche. Sie entstand aus der Union von Uschgorod im Jahr 1646. Orthodoxe und Katholiken gingen einen Bund ein und erkannten den Papst in Rom als Kirchenoberhaupt an. Die orthodoxe Liturgie wurde beibehalten. Außerdem dürfen die Priester nach wie vor, anders als ihre römisch-katholischen Kollegen, heiraten und eine Familie gründen. Während der Sowjetzeit war die Kirche verboten, bestand aber im Untergrund weiter. Erst seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 darf der Glaube offiziell wieder praktiziert werden.

    Der Gottesdienst dauert drei Stunden lang. Die Gemeinde sitzt auf langen, mit bunten Flickenteppichen bedeckten Sitzbänken, ein Teil der Männer seitlich rechts und links von der leuchtend farbigen Ikonostase, die Chorraum und Altar vom Kirchenschiff abtrennt. Das sind die Vorsänger. Immer wieder tritt der jüngere, stämmige Priester mit der schönen Stimme aus dem Altarraum ins Kirchenschiff, schwenkt gekonnt ein Weihrauchfass und verschwindet wieder hinter der Ikonenwand. Der ältere liest das Evangelium in betörendem Singsang. In der Kirche herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, nicht nur die Kinder werden unruhig.
    "Christos Woskres", Christus ist auferstanden. Endlich kommt der Moment, den alle sehnsüchtig erwarten. Es geht hinaus zu den Osterkörben, die in einem großen Kreis auf der Wiese neben der Kirche stehen . Liebevoll haben Natascha, ihre Tochter Slavka und die Großmutter den Korb ihrer Familie schon am Vorabend gepackt: Wurst, Schinken, Butter, Sahne, ein besonderer, süßer Käse, Eier, Salz, ein verziertes, selbst gebackenes Osterbrot und eine Kerze. Als alle im Kreis versammelt sind, werden die bestickten Tücher von den Körben genommen, die Kerzen angezündet. Die beiden Priester machen die Runde, einer segnet Gemeinde und Körbe mit einem Bündel aus Buchsbaumzweigen, das er immer wieder in einen Eimer Wasser taucht. Der Priester holt schwungvoll aus, Wasser spritzt, jeder bekommt einen ordentlichen Spritzer ab. Nach gut drei Stunden sind wir endlich wieder zuhause und die Leckereien aus dem Korb werden aufgetischt, dazu gibt es Wodka, bis auch die Urgroßmutter ganz lustig wird.

    Nach Ostern machen wir noch ein paar Ausflüge: Eine Fahrradtour führt uns zu einigen der Holzkirchen in den Dörfern rund um Steblivka. Sie gehören zu den kulturellen Schätzen Transkarpatiens. Gebaut aus riesigen Bohlen, ohne Nägel zusammengefügt und gedeckt mit Holzschindeln, auf denen Moos und Flechten bizarre Muster bilden. Einmal stoßen wir auch an den Rand des Biosphärenreservates Karpaten vor. Hinter dem Dorf Mala Uholka, wo die Äcker noch mit Pferdekraft gepflügt werden, erstrecken sich schier endlose Buchenwälder und Gebirgssteppen. Hier leben Luchse und Wildschweine, Bären und Wölfe. Die Karpaten sind ein fast unberührtes Paradies für Wanderer und Naturfreunde. Allerdings gibt es für das Gebiet nur einen lückenhaften deutschsprachigen Wanderführer und ausschließlich kyrillisch beschriftete Karten. Wer also unerfahren und nicht sehr abenteuerlustig ist, sollte sich lieber einer Gruppe anschließen.

    Und dann machen wir uns noch zu einer ganz besonderen Sehenswürdigkeit auf den Weg. Dazu besteigen wir am Vormittag einen rappeligen, überfüllten Kleinbus Richtung Osten. Wann die Busse fahren, ist hier auf dem Dorf schwer herauszubekommen, aber das macht nichts, denn öffentliche oder halböffentliche Transportmittel gibt es in Hülle und Fülle. Überhaupt ist sehenswert, was für unterschiedliche Gefährte sich auf den schlechten Straßen mit den vielen Schlaglöchern tummeln. Pferdekarren, Fahrräder, Motorroller, Autos vor allem russischer Bauart, manche aufgemotzt mit Kühlergrill und Heckspoiler, zivil genutzte Militärlaster und Busse jeder Größe und jeden Alters befahren die Hauptverkehrsadern Transkarpatiens. Überall am Wegesrand stehen geschmückte Kreuze und zeugen von den Opfern dieses Durcheinanders. Nicht umsonst schützen die Busfahrer ihren Arbeitsplatz mit einer Unzahl von Heiligenbildchen und Madonnen mit dem Jesuskind.

    Hinter dem Seitenfenster holpert die Landschaft vorbei, manche Ortschaften haben sowohl ukrainische als auch ungarische oder rumänische Namen. Bis 1918 lag Transkarpatien in Österreich-Ungarn, danach hat es mehrfach die Nationalität gewechselt. Durch die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Dörfer, Städte und Familien willkürlich auseinandergerissen. An einer Bushaltestelle erzählt ein Mann, er sei Rumäne, in der Ukraine geboren, ein Großteil seiner Familie lebe aber jenseits der Theiß, in Rumänien. Ein Visum zu beantragen ist aufwendig und teuer, seit Rumänien zur EU gehört.

    Weiter geht es mit dem nächsten Bus, rechts liegt die Theiß. Abfall, hauptsächlich in Form von Pet-Flaschen säumt das Flussufer, bunte Girlanden aus alten Plastiktüten hängen in den Sträuchern auf den Böschungen, als flatterndes Mahnmal der Wegwerfgesellschaft. Jedes Hochwasser bringt Nachschub und Plastik verrottet nicht. Ein Aufgabenfeld für den Umweltingenieur Markus Bergmann:

    "Es gibt hier Ansatzpunkte, wo es was zu realisieren gibt. Also, wenn man durch das Land fährt, sieht man sehr viele Probleme, die das Land hat, also mir fällt sehr stark auf, dass sie ein sehr großes Müllproblem haben, dass sie energietechnisch, weil sie gute Gasvorkommen haben, Russland, gar nicht nach alternativen gucken, ich denke aber, dass man in diese Richtung was erreichen kann. Vor allem, was ich auch sehe, dass die Ukraine ein Landstrich ist, der sehr geprägt ist durch Landbevölkerung, wo eben auch so eine alternativ ansetzende Energieversorgung sehr viel Sinn mache könnte. Man muss träumerisch sein, Ideale haben, ... wir wollen die Zeit und Kraft reinstecken, um die Welt besser zu machen einfach."

    Dann, 70 Kilometer von Steblivka entfernt, sind wir am Ziel unserer Busfahrt. Diese Quelle sprudelt am geografischen Mittelpunkt Europas. Ein Gedenkstein mit goldener lateinischer Inschrift auf himmelblauem Grund markiert den Ort. Dahinter wächst dichter Buchenwald, Schlüsselblumen blühen im Frühlingssonnenschein. Hier beginnt der wildere Teil der Karpaten, der mit 2061 Metern höchste Berg, der Hoverla, ist nicht mehr weit, rauschend stürzt die Theiß aus dem Gebirge. Das hier ist natürlich nicht der einzige Mittelpunkt Europas und die Messmethoden sind umstritten. Diesen haben österreichisch-ungarische Ingenieuren im Jahr 1887 ermittelt, als eine neue Eisenbahnstrecke gebaut wurde. Aber der Ort wird gepflegt und touristisch genutzt, in einer rustikalen Blockhütte stärken sich Besucher mit Hausmannskost, Kaffee und Bier. Auf der Rückfahrt sehen wir einen Brückenpfeiler mitten im Fluss, die Brücke fehlt. Die Kirche am anderen Ufer steht auf rumänischen Boden. Vielleicht ist dieser Pfeiler ohne Brücke ein Sinnbild für die aktuelle Situation Transkarpatiens: Mitten im Fluss der Zeit, abgeschnitten von Europa und doch Teil einer alten, zusammenhängenden Kulturlandschaft. Wo die Uhren ticken wie in Prag, Wien oder Budapest.