Freitag, 29. März 2024

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"Vergesst sie nicht!"

"Vergesst sie nicht!" Als Fritz Flatow, Mathematik-Student der West-Berliner Freien Universität, am 21. August 1951 im Ostteil der Stadt Flugblätter verteilte, da ahnte er wahrscheinlich nicht, dass ihn das vor ein sowjetisches Militärtribunal bringen würde. Er verschwand daraufhin spurlos und weder seine Verwandten noch Kommilitonen oder der damalige FU-Rektor konnten sicher herausfinden, was mit ihm geschehen war. Es war, als hätte Fritz Flatow niemals existiert. In den 50er Jahren verschwanden insgesamt zehn West-Berliner Studenten spurlos und wurden in der Sowjetunion ermordet. Erst im Jahr 2005, mehr als 50 Jahre später, entdeckte die russische Stiftung Memorial, dass auf dem russischen Friedhof Donskoje ungewöhnlich viele deutsche Opfer des stalinistischen Terrors verscharrt waren. Unter ihnen zehn Studenten der Berliner FU. Sie waren zum Tode verurteilt und im berüchtigten Butyrka Gefängnis in Moskau erschossen worden. FU und die Forscher des privaten Institutes Facts & Files versuchen nun, die Geschichten der jungen Männer zu rekonstruieren. Wer waren Fritz Flatow und seine Kommilitonen?

Von Andrea Lueg | 03.10.2005
    " Diese Geschichte fand ich auch persönlich ungeheuer erschütternd eigentlich, da ich einer Generation angehöre, die der Meinung war, der erste erschossene Student in Westberlin aus politischen Gründen in gewissem Sinne, sei Benno Ohnesorg gewesen, was uns damals in große Empörung versetzt hat, und uns war nicht bewusst, dass es damals an der FU Studenten gegeben hatte, die aus politischen Gründen für viele Jahre im Gefängnis verschwunden sind in der SBZ/DDR und vor allem die von sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Diese Geschichtslücke, diese Loch, also wenn man sich mit Geschichte professionell befasst, hat schon ein gewisses Erschrecken ausgelöst."

    Der Politologe Jochen Staadt von der Forschungsstelle SED -Staat an der Freien Universität Berlin beschäftigt sich mit dem Schicksal von zehn Studenten der FU, die zu Beginn der 50er Jahre in Moskau erschossen wurden.

    "Vergesst sie nicht!" - unter dieser Überschrift erschienen in der Westberliner Studentenzeitschrift "Colloquium" Anfang der 50er Jahre jeden Monat Namenslisten von Studenten, die in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert waren. Meist wusste man nur vom Hörensagen über ihre Verhaftung und über die Gründe für die Festnahmen. Nicht nur Studierende der DDR-Universitäten waren unter den Inhaftierten, sondern auch solche von der FU und der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr-Institut. Sie hatten zum Beispiel Flugblätter im Ostteil der Stadt verteilt oder das SED-Regime kritisiert. Von Verhaftungen war in dieser Zeit immer mal wieder etwas bekannt geworden, aber das Kommilitonen für so geringfügige Vergehen auch getötet wurden, davon ahnten die Studenten der FU nichts. Für sie zählte vor allem, dass sie sich nach den Kriegsjahren endlich den Traum vom Studium erfüllen konnten.

    " Man war zunächst froh, dass man es überlebt hatte. Man erlebte, das ist etwas, was ich auch erst neulich in der Literatur gefunden hab, ganz intensiv, dass es mit einem mal ganz still war, es wurde nicht mehr geschossen, es gab keinen Alarm mehr, es gab nicht mehr dieses Geräusch der zusammenbrechenden Häuser, es war mit einem mal unendlich ruhig. Und alles war so leicht staubbedeckt, aber man lebte. Wie man lebte, von was man lebte, das ist ja heute manchmal ein Rätsel nicht? Aber man hatte es überlebt und dann sammelte man sich zusammen und grade die etwas intellektuell Interessierteren zimmerten sich aus den Trümmern ihr neues Weltbild zusammen, denn wir waren natürlich alle nationalsozialistisch erzogen und entdeckten nun mit einem mal etwas ganz anderes. Und dann entdeckten wir die Literatur, wir lasen also Thomas Mann, Bertolt Brecht und dann lasen wir Anatol France und ich weiß nicht was, das waren also donnernde Erlebnisse für uns und man musste also nun sehen, dass man sich wieder zurechtfand, in dieser Trümmerwelt und das ist etwas was man sich heute gar nicht vorstellen kann, dass man Ende der 40er bis in die 50er Jahre hinein durch Straßenzüge in Berlin ging, in denen nichts stand, da waren nur Trümmer und Ruinen und irgendwo war ne Lücke und dort war ne kleine Bäckerbude und da verkaufte einer Zeitungen und dann waren da wieder nur Ruinen."

    In diesem Berlin der Nachkriegszeit in einer bereits geteilten Stadt nahm Joachim Knütter 1950 sein Studium auf - an der Freien Universität im Westteil der Stadt. Die Freie Universität gab es damals erst seit zwei Jahren, er gehörte zum ersten Semester der Medizinstudenten.

    "Und das war ein ziemlich großes Semester vom Personalumfang her, weil die dann ne ganze Menge der zum Teil Jahre Wartenden aufgearbeitet hatten, det waren also gesetzte Stationsschwestern die da als Medizinstudentinnen anfingen, bzw. Kriegsheimkehrer und Leute die irgendwo anders inzwischen gearbeitet hatten in der Hoffnung sie könnten irgendwann mal Medizin studieren und sie waren in der Humboldt Universität bzw. in den Universitäten der DDR, damals ja Sowjetzone abgelehnt worden, weil sie nicht Arbeiter und Bauernvorfahren hatten oder aus diesem Milieu stammten, sondern furchtbare Bürger oder weiß ich was die waren, die Väter waren dann vielleicht Ärzte oder Pastoren, und das war ja was ganz Schlimmes und dann durften die Kinder nicht studieren. Und die warteten nun alle voller Zuversicht, waren ja nun froh, dass wir nun alle den Krieg überstanden hatten und insofern hatte man Hoffnung, es könnte ja noch mal was kommen und dann bewarben die sich um das erste Semester an der Freien Universität. "

    Bevor die Freie Universität gegründet wurde, gab es in Berlin nur die Möglichkeit an der Berliner Universität, der späteren Humboldt-Universität zu studieren. Und die lag im Ostteil der Stadt, in der Sowjetischen Besatzungszone. Wer in der SBZ aus dem falschen Elternhaus kam oder sich zum Beispiel in einer der späteren Blockparteien engagierte, der hatte bei der Aufnahme eines Studiums allerdings schlechte Karten, daran erinnert sich auch Gerhard Kesler.

    "Die vielen, vielen schönen Ablehnungen von den Universitäten der DDR, die hab ich alle aufgehoben und dann hörten wir in Berlin, West Berlin hat eine Universität aufgemacht und dann hat mich mein Vater an die Hand genommen und dann sind wir nach Westberlin gefahren"

    Kesler war in der SBZ politisch aktiv gewesen.

    "Ich hatte mich entschlossen in die LDP einzutreten und war da relativ aktives Mitglied und war zwangsweise in der FDJ hab mich auch da beteiligt, die haben mir auch eine Bescheinigung ausgestellt, dass sie ein Studium für mich befürworten und dann bekam ich eben von den Universitäten die Ablehnungen "

    Nicht nur für den Zahnmedizinstudenten Gerhard Kesler und seine spätere Frau Irmtraud entwickelte die Freie Universität große Anziehungskraft, sondern für viele, die in der späteren DDR keinen Studienplatz bekamen oder die sich mit der politischen Orientierung unwohl fühlten. Die FU war ein Ort, von dem sie hofften, dort tatsächlich in Freiheit studieren zu können. Auch wenn alles äußerst provisorisch begann.

    " Nun war die Freie Universität ja sozusagen aus dem Boden gestampft, nicht, die hauste in Räumen die der Kaiser Wilhelm Gesellschaft heute Max-Planck Gesellschaft gehörten in Berlin oder in Villen, die dort leer standen von irgendwelchen Nazigrößen, die getürmt waren und in irgendwelchen anderen Räumlichkeiten. Unsere medizinische Ausbildung begann in der Gärtnerlehranstalt, die gehörte eigentlich zum Besitz der Humboldt Universität, lag aber nun mal in Westberlin, und dort wurden wir dann untergebracht. Es wurden dort Gartenstühle reingestellt und wir saßen dort und hatten also keine Pulte sondern mussten auf den Knien mitschreiben und es hatte also sehr viel Improvisiertes auf der anderen Seite hatte es aber auch eine ungeheure Aufbruchstimmung."

    " Und es war ganz interessant, auf der einen Seite waren wir zu der Zeit alle noch etwas ausgepowert und verarmt und man erschien dort zum Teil noch in umgefärbten Wehrmachtsklamotten, auf der anderen Seite legte man damals Wert darauf dass man mit Schlips und Kragen kam."

    " Und auch mit Hut. Und man siezte sich. Wer sich nicht von der Schule oder Kindheit her kannte, wurde gesiezt.

    Das war damals offenbar eine Reaktion auf die Zwangskameraderie des Krieges, wo man mit jedem mehr oder minder Begabten sich duzte oder duzen musste und jetzt konnte man endlich wieder Individuum sein. Das ist das was mir einfiel als ich neulich mal ein Foto sah über die Erstsemester der Freien Universität, die erschienen also, sofern sie es hatten, in Schlips und Kragen und Hut. "

    Das Hin- und Herfahren zwischen Der SBZ und Westberlin war zunächst mal überhaupt kein Problem - es gab keine geschlossene Grenze. Es gab auch in der Bevölkerung keine Animositäten zwischen Ost und West, man empfand sich noch nicht als geteiltes Land.

    Die Gründung der FU 1948 war dennoch auch ein politischer Akt und: er ging zunächst von Studenten aus, die an der Humboldt-Uni politisch diszipliniert worden waren. Otto Hess, Otto Stolz und Joachim Schwarz gaben eine Zeitschrift heraus, das Colloquium. Darin erschienen unter anderem SED-kritische Artikel. Den drei studentischen Redakteuren wurde die Studienerlaubnis entzogen. Ein Reporter des RIAS wollte damals an der entscheidenden Sitzung in der Humboldt Universität teilnehmen.

    Als sich für die Studenten andeutete, dass die Berliner Universität immer mehr in ein politisches Fahrwasser geriet, begannen sie mit der amerikanischen Besatzungsmacht Fühlung aufzunehmen, von der sie sich Unterstützung erhofften, erzählt der Politologe Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED Staat der Freien Universität Berlin.

    " Viele dieser Studenten waren in der NS Zeit oppositionell, konnten nicht studieren aus rassischen oder politischen Gründen und wollten nun wirklich in Freiheit studieren und nun erlebten sie, dass da Marxismus Leninismus eingeführt wurde und da Funktionäre auftauchen, die da an einer Gleichschaltung der Universität jetzt in einer anderen Richtung arbeiten und das war der erste Impuls Überlegungen anzustellen, ob man nicht im Westen Berlins eine freie Bildungsstätte, eine freie Universität einführt."

    Die Amerikaner unterstützten das Projekt, schließlich wollte sie eine neue Intelligenz heranbilden, eine demokratisch orientierte neue Generation. Und so entstand 1948 die Freie Universität.

    " Zunächst war das auf der allgemeinen Ebene ne Konkurrenzgründung die FU, für die damaligen Akteure und die Zeitgenossinnen und Genossen, die studierten war es nicht unbedingt so, es gab noch viele Leute, die im Westsektor wohnten und unter den Linden studiert haben und es gab viele Leute, die in den Ostsektoren, bzw. dann in der neu gegründeten DDR wohnten und an der FU studierten, weil sie dort nicht studieren konnten, es gab eine starke Hin- und Herbewegung noch in den ersten Jahren. Dann wurde es aber immer hermetischer noch vor dem Mauerbau im Zuge der sich verhärtenden Fronten wurde es dann doch für Leute, die im Umland , immer schwieriger an der FU zu studieren, sie mussten es auch oft kaschieren, aber es gab bis 1961 einen Prozentsatz von 20 Prozent der FU Studenten, die aus dem Umland kamen."

    Gerhard Kesler zum Beispiel wohnte noch im Ostteil der Stadt, als er schon an der Freien Universität im Westteil studierte. Die Situation wurde zusehends mulmig, auch wenn er versuchte, einfach gar niemandem zu erzählen, dass er täglich hin - und herfuhr.

    " Meine Hauswirtin erinnerte mich täglich daran, Herr Kesler, sie müssen sich ins Hausbuch eintragen, ich habe mich die ganze Zeit nicht in dieses Buch eingetragen, war auch nicht polizeilich gemeldet, also ich war ein Blindgänger und habe mich darum gedrückt."

    Zum Glück hatte er damals schon seine spätere Frau kennen gelernt, die mit ihren Eltern im Westteil lebte.

    " Für uns Westberliner war eigentlich im Mai 52 Mai oder Anfang Juni 1952 von da an durften wir Westberliner nicht mehr in die Zone, die spätere DDR, wir durften zwar noch in den Ostsektor, hier Friedrichstraße Potsdamer Platz, aber von dem Moment an nicht mehr in die Ostzone, nur wenn wir umständlich einen Passierschein beantragten, dann mussten wir extra zur Passierscheinstelle hin, n paar Tage später dann hingehen, diesen Passierschein dann abholen und das war dann eigentlich ein Grund noch mit, dass mein Mann dann zu uns zu meinen Eltern mit zugezogen ist, und damals vor 55 Jahren war das ja noch nicht so dass der Freund da einfach so mit eingezogen ist, dann erst so mit Trauschein. " (lacht)

    Ein Teil der FU-Studendenten hatte mit Politik nichts im Sinn. Wie Joachim Knütter und die Keslers wollten sie einfach rasch ihr Studium beenden, Geld verdienen, endlich ein Leben aufbauen. Doch vielen, gerade denjenigen, die die Gründung der Uni betrieben hatten, bedeutete eine freie Ausbildung sehr viel.

    "Die Gründungsstudenten der FU waren politisch hoch wach, sie waren und das steht ja auch in der Gründungserklärung, die unter Beteiligung von Studenten verfasst ist, sie verstanden sich als Gegner des Nazi Regimes und des Nationalsozialismus und sie verstanden sich als Gegner des Kommunismus, also es war ein anti-totalitärer Geist, der die Gründung dieser Universität prägte, das hatte auch sehr viel damit zu tun, dass neben den Hochschullehrern die aus dem inneren Exil kamen, siehe die Gründerrektoren der FU Meinecke und viele der frühen Hochschullehrer, auch viele aus dem Exil aus dem Ausland zurückkamen, Ernst Reuter hat sich bemüht, Leute die mit ihm im Exil in der Türkei waren, an die FU zurückzuholen von Anfang an, er hat dieses Projekt von Anfang an unterstützt maßgeblich und so hatten Sie eine hochpolitische Atmosphäre, sowohl von der Professorenseite als auch von der Studentenseite. Nicht zuletzt hat sich das auch darin ausgedrückt, das als erste Universität im Westen die FU eine Universität war in der die Studenten Stimmen in allen Gremien hatten, was nirgendwo sonst der Fall war und was auch dazu führte, das die Westuniversitäten, also die Universitäten in der Bundesrepublik am Anfang der FU sehr reserviert gegenüberstanden. "

    An der FU begann sich rasch Widerstand gegen die SED Regierung im Osten des Landes zu formieren, erzählt der Historiker Jörg Rudolph vom Berliner Forschungsinstitut Facts & Files:

    "Dieser Widerstand bestand darin, dass man also Flugblätter in die S-Bahn Züge klebte, Flugblätter am Potsdamer Platz also hart an der Sektorengrenze streute, dass man versuchte, Funktionäre oder auch einfache Polizisten aus Ostberlin zu agitieren, bestimmte Dinge nicht zu tun oder in die Bundesrepublik zu fliehen. Man hatte auch an Radiosendungen sich beteiligt und man kanalisierte Informationen aus der DDR in bestimmte Organisationen Westberlins. Diese Dinge wurden von dem Ministerium für Staatsicherheit und den Oberen in Ostberlin argwöhnisch beobachtet, man sah in ihnen eine Gefährdung des eigenen Regimes und natürlich auch sofort Spionagehandlungen. Denn Tatsache ist, dass aus der DDR Einwohnerverzeichnisse, bestimmte Telefonbücher aber auch Nachrichten aus der Industrie und Wirtschaft über die Versorgungslage hier in Westberlin gezielt gesammelt worden sind. Kernpunkt und Kristallisationspunkt all dieser Organisationen war die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, hier in Westberlin beheimatet, von Ernst Hillich, Professor an der Hochschule für Politik und Widerstandskämpfer schon im Dritten Reiche gewesen, hatte eine solche Organisation um sich aufgebaut, hatte Studenten seines Faches geworben. Es gab natürlich auch Ausstrahlungen auf die Freie Universität, weil die Studenten die Bereiche wechselten aber auch über freundschaftliche Beziehungen. "

    Agitiert wurde in beide Richtungen, auch die Ostberliner versuchten den Westen von ihrer Ideologie zu überzeugen.

    Staadt:
    " Die FDJ versuchte, da zu ihren großen Kundgebungen, die in Ostberlin stattfanden, Weltjugendfestspiele und was es alles gab, Leute an der FU zu agitieren, dass sie dorthin kamen, Es gibt zum Beispiel, und das ist meines Erachtens sehr kennzeichnend, ein Ereignis, als diese Weltjugendspiele stattfanden, stand die Drohung im Raum, dass die FDJ mit großem Brimbamborium nach Westberlin marschiert, und die Medizinstudenten haben daraufhin in einigen Räumen ihrer Gebäude Stroh aufgeschüttet und dort übernachtet um die Gebäude gegen die FDJ zu verteidigen."

    Fritz Flatow, Student an der FU, war einer der zehn Ermordeten. Bei der Fahrt in einem Zug von Berlin nach Dresden, also in die SBZ, war er in eine Ausweiskontrolle geraten.

    " Flatow wollte daraufhin sofort zur Toilette. Durch dieses Verhalten wurde er einer sofortigen Leibesvisitation unterzogen. Vorgefunden wurden: Eine aufgerissene Zigarettenschachtel (leer) mit einer Meißener Adresse. Eine weitere leere Zigarettenschachtel mit der Aufschrift zweier sowjetischer Fahrzeugnummern.
    Eine Tüte mit der Aufschrift einer weiteren sowjetischen Fahrzeugnummer.
    Eine Kinokarte, auf der Rückseite mit Beschriftung undefinierbar.
    In einer Streichholzschachtel unter den Streichhölzern drei Blatt Zigarettenpapier zerknüllt mit einer kleinen Beschriftung auf beiden Seiten. Diese Auszeichnungen lassen auf Ermittlungstätigkeit schließen.
    Ein HO Zettel mit einer Westberliner Adresse, wo gleichfalls besondere Zeichen extra vermarkt sind.
    In der Außenseitentasche des Anzuges befand sich ein Weltbund- und ein SED Abzeichen. "

    Diese Fundstücke reichten aus, um Fritz Flatow wegen Spionage vor ein sowjetisches Militärtribunal zu stellen und zum Tode zu verurteilen. In seiner Bewerbung für das Studium an der FU hatte er geschrieben, er strebe eine wissenschaftliche Karriere an. Fritz Flatow war der Sohn eines Ärzteehepaares aus Berlin. In seinem Lebenslauf stand:

    " Mein Vater war Volljude. Daher begann mit der Machtergreifung eine schlechte Zeit für uns. Bei allen Gelegenheiten wurden uns Schwierigkeiten bereitet. Die dauernden Aufregungen mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass mein Vater, obwohl in den besten Jahren, immer mehr verfiel, im Herbst 1936 schwer erkrankte und am 16. März 1937 verstarb. Um diese Zeit kam ich auf die 15. Volksschule in Berlin-Grünewald und nach der entsprechenden Zeit auf die Fichte Oberschule zu Berlin Wilmersdorf, die ich dann später verlassen musste. "

    Um ihre Kinder vor zunehmenden Repressalien in der Schule zu schützen, ließ sich Fritz Flatows Mutter in der Nähe von Braunau am Inn, als Ärztin nieder. Ausgerechnet hier, bei Hitlers Geburtsort verbrachten die Flatow Kinder dann unbehelligt ihre Jugend. 1949 kehrte Fritz Flatow nach Berlin zurück, machte sein Abitur und begann an der FU mit dem Mathematikstudium.
    Nach seiner Verhaftung und Verurteilung wurde er mit dem Zug nach Moskau gebracht, in das Butyrka-Gefängnis. Nach der Strafverkündung durften die Gefangenen ein Gnadengesuch einreichen, über das der Oberste Sowjet innerhalb von 96 Tagen entschied. In neunzig Prozent der Fälle kam es nicht zu einer Begnadigung. Auch bei Fritz Flatow nicht.

    Er starb am 20. März 1952 gemeinsam mit seinen beiden Kommilitonen Ägidius Niemz und Friedrich Prautsch. Bis zu dreißig Verurteilte wurden in einer Nacht durch Genickschüsse getötet.

    Nicht nur in Berlin wurden aufmüpfige Studenten verhaftet, zur Zwangsarbeit in Sibirien oder sogar zum Tode verurteilt. Auch in Halle, Leipzig, Rostock und anderen Städten der SBZ. Und eine der wenigen Sendungen, die über solche Verhaftungen berichtete hieß "Studenten haben das Wort" und lief im RIAS

    Auch Horst Hennig war Student in Halle.

    " Ich bin 1926 im Mannsfelder Gebirgskreis, etwa 30 Kilometer westlich von Halle geboren, war kurz noch ein paar Monate im Kriege, kam in amerikanische Gefangenschaft, bin 1946 mit dem Lazarettschiff von England in ein Lazarett nach Hamburg transportiert worden. Von dort erreichte ich die sowjetische Besatzungszone und wurde im Sommersemester 1948 an der Martin Luther Universität Halle für die Fachrichtung Medizin immatrikuliert."

    In den Semesterferien, zwischen dem vierten und fünften Semester wurde Hennig mit sechs anderen festgenommen.

    " Wir wurden verhaftet durch den sowjetischen Geheimdienst aus für uns zunächst unerklärlichen Gründen. Uns wurde Spionage, anti-sowjetische Propaganda und eine illegale Organisation vorgeworfen. Was war passiert? Im Vorgriff auf die Studentenratswahlen an der Universität Halle hatten wir uns im Januar und Februar dagegen ausgesprochen, vorgegebene Kandidaten, die wir nicht kennen, die aber Parteifunktionäre waren, wählen zu sollen, wir verkündeten, dass das mit Demokratie und Wahl nichts zu tun habe, denn gewählt werden kann ja nicht, das allein genügte offensichtlich für die Verhaftung durch den KGB und die eben genannte Anschuldigung Spionage und so weiter und zur Verurteilung zu 25 Jahren Zwangsarbeit."

    Heinz Hennig konnte zwar kaum fassen, welches Urteil da über ihn gefällt worden war, doch gemeinsam mit anderen wurde er schon bald darauf abtransportiert, über Moskau nach Workuta in Sibirien.

    " Ich selbst erreichte im Lager Nummer 10, Schacht 29 im Januar 1951 den Kohlenschacht in Workuta. Nördlich des Polarkreises wächst eigentlich überhaupt nichts, es sind neun Monate Schneestürme, 30, 40, und mitunter auch 50 Grad minus und nur etwa zwei Monate scheint die Sonne blüht die Tundra, allerdings nicht mit trockenem Unterboden, sondern feucht so dass mitten im Lager Holzstege sind, um nicht mit den Filzstiefeln nasse Füße zu bekommen."

    Heinz Hennig kam mitten im Winter in Sibirien an, musste schwer in den Kohlengruben arbeiten und glaubte zunächst nicht daran, zu überleben.

    " Wir hatten es im Lager sehr, sehr schwer, es gab nur Wassersuppe, unzulängliche Kleidung für diese Kältegrade, eine grade eben ausreichende medizinische Versorgung (...) auch wer Fieber hatte musste zur Arbeit gehen, es sind dort einige Leute verstorben 1951/52."

    Die Beerdigungskommandos im Lager legten die Leichen einfach auf dem Tundra-Boden ab, weil sie keine Kraft hatten, den gefrorenen Boden aufzuhacken. Als Heinz Hennig Anfang der 90er Jahre im Archiv von Workuta seine eigene Akte einsehen konnte, stand dort für seine Entlassung: 14. März 1975 - da wäre seine Haft offiziell zu Ende gewesen. Tatsächlich kam er aber 1955 frei, nachdem Konrad Adenauer mit Nikita Chruschtschow über die Freilassung von Kriegsgefangenen verhandelt hatte. Die Zivilverurteilten wurden dann mit den Kriegsgefangenen zusammen freigelassen. In Köln beendete er sein Studium und wurde Arzt bei der Bundeswehr.

    Wie gefährlich ihre vergleichsweise harmlosen Aktionen für sie werden könnten, das ahnten viele Studenten damals wohl nicht, meinen Frank Drauschke und Jörg Rudolph vom Institut Facts and Files:

    Drauschke:
    " Ich glaube, also ihnen war natürlich allen bewusst, dass der Staatssicherheitsdienst existierte und ihnen war bewusst, dass die DDR hinterher war hinter solchen Aktionen, aber ich glaube, den meisten war nicht die letzte Konsequenz bewusst, die meisten hatten einen gewissen jugendlichen Leichtsinn natürlich auch und ihnen war nicht bewusst dass sie vielleicht deswegen zum Tode verurteilt werden und erschossen werden."

    Rudolph
    " All diese Verfahren über die wir hier reden waren Geheimprozesse, waren Geheimverfahren, das heißt, das stand also nicht an der Plakatsäule angeschlagen, dass ein Todesurteil verhängt worden war, wie zum Beispiel im Dritten Reich üblich, es gibt ganz, ganz wenige Artikel zu dem endgültigen Ausgang dieser Prozesse und sehr, sehr wenige spuren in der Presse Ost wie West über Hinrichtungen, und also über die Todesstrafe und den Vollzug dieser Todesstrafen, so dass also die Nachricht über das Verschwinden sehr oft da war, man sicher auch hoffte und sich innerlich wünschte das diese Person in Lagern das überleben konnten aber niemand rechnete mit diesem hohen Blutzoll. Und als es bekannt wurde innerhalb der Organisationen hat man versucht massiv die Leute zu schützen also durch bessere Konspiration, durch den Einsatz von Ballons für den Abwurf von Flugblättern, durch so genannte Raketenwerfer, die dann Flugblätter breit streuten ohne dass man dabei sein musste und andere technische Hilfsmittel, aber man muss dazusagen, dass der ostdeutsche Geheimdienst und der KGB all diese Organisationen dermaßen stark unterwandert hatten, also quasi über jede Aktion informiert waren, jede Deckadresse kannten und auch mehr oder weniger jeden Kontakt darüber überprüfen konnten."

    Der Rektor und auch die Studentenvertretung warnten Kommilitonen davor, Flugblätter in die SBZ mitzunehmen, aber einige machten es trotzdem, manche vielleicht aus Leichtsinn, andere aus Überzeugung.

    Einer der Professoren der deutschen Hochschule für Politik schrieb etwa 1951:

    " Wir bitten, insbesondere sämtliche Studenten der Hochschule für Politik, die aus der Sowjetzone dorthin gekommen sind, immer wieder mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, dass sie das Gebiet er Sowjetunion und des Sowjetsektors nach Möglichkeit zu meiden haben und es ausschließlich auf eigene Gefahr hin wieder betreten."

    Über fünfzig Jahre nach dem Tod der FU-Studenten versuchen die Historiker der Geschichtsagentur Facts & Files in Berlin und die Forschungsstelle SED-Staat an der FU herauszufinden, wer die Getöteten eigentlich waren und was genau mit ihnen geschah.

    Drauschke:
    " Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, die arbeiten seit Zeiten der Perestroika, seit Gorbatschow daran Totenbücher zu veröffentlichen, und überhaupt die ganzen Opfer des Stalinismus namhaft zu machen, also sie aus der Anonymität wieder herauszuholen und das Ausmaß der Verbrechen bekannt zu machen

    Und im Rahmen ihrer Arbeiten zum Friedhof Donskoje also zu dem Moskauer Friedhof wo das Krematorium in Moskau stand, sind sie darauf gekommen dass in der letzten Phase Stalins von 1950 bis 53 die größte Gruppe Deutsche waren, die dort in Moskau erschossen wurden. "

    Die russische Stiftung Memorial suchte deshalb nach Partnern, die auf deutscher Seite nach Informationen über die Getöteten recherchierten, um auch ein deutsches Totenbuch zusammenstellen zu können. Sie wandte sich an das Berliner Forschungsinstitut Facts & Files. Die Historiker dieses Instituts wiederum stellten fest, dass unter den Toten auch eine Reihe von Studierenden der FU und Deutsche Hochschule für Politik in Berlin waren. Daher wurde auch die FU aktiv und suchte nach Immatrikulationsunterlagen und anderen Materialien.

    Für Frank Drauschke und Jörg Rudolph waren zunächst mal die Suchkarteien des Deutschen Roten Kreuzes Quellen, dann die zentralen Archive des Bundes und der Länder, aber auch die Stasi-Unterlagen. Die Forscher waren überrascht wie viele Informationen sie fanden.

    Drauschke:
    "Wenn man jetzt betrachtet, wo wir recherchieren, wir recherchieren in internen Akten, in damals immer geheim gehaltenen Akten und das ist das normale für den historischen Forscher, dass er natürlich einen anderen Blickwinkel bekommt. In Deutschland aber genauso natürlich in Russland hat die Bürokratie immer sehr akribisch gearbeitet und natürlich alles aufgelistet, jedes wurde aufgehoben, jedes Dokument wurde aufgehoben und aus diesem Grund haben wir als Forscher heute die Möglichkeit, Dinge zu rekonstruieren, die natürlich für die damals Lebenden top secret waren und wo überhaupt nicht denkbar war, irgendwelche Informationen herauszubekommen. Auch die damaligen Stellen MfS oder auch die örtliche Polizei die hatten immer nur einen Teil der Informationen, die wir jetzt haben. Wir können jetzt Sachen vernetzen aus Westdeutschland aus Geheimdienstquellen aus russischen Quellen, auch das MfS hat die russischen Quellen natürlich nicht gekannt und so weiter "

    Die Historiker kamen im Laufe ihrer Arbeit immer mehr auch mit den Familien der Getöteten in Kontakt.

    Drauschke:
    " Und teilweise sind wir dann die ersten die ihnen über das Schicksal ihrer Angehörigen berichten und also sie haben 50 Jahre gewartet um überhaupt irgendwelche Informationen zu bekommen haben eben viele verzweifelte Briefe an alle obersten Personen der DDR geschrieben, an Mielke, an den Staatspräsidenten, an ZK, an alle möglichen Leute und nie Informationen bekommen, weil das damals absolut unerwünscht war."

    Tatsächlich erfuhren die Angehörigen der getöteten Studenten nichts über deren Schicksal. Die Eltern von Karl-Heinz Wille zum Beispiel, Student der Rechtswissenschaften an der Freien Universität wussten nichts über seinen Verbleib und schrieben verzweifelte Briefe an die Behörden:

    " Unser Sohn, der Student der Rechte, Karlheinz Wille wurde am 10.3.51 nachts ein Uhr ohne Haftbefehl und ohne jede Begründung in unserer Gastwirtschaft festgenommen und ist seit dieser Zeit auch nicht mehr zurückgekehrt.

    Seit Monaten rennen wir von einer Behörde zur andren und niemand kann uns Bescheid geben. Wir wandten uns an den Herrn Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik mit der Bitte in der öffentlichen Sprechstunde vorgelassen zu werden. Wir sind unpolitisch, was beiliegende Bescheinigung von KPD und SED-Mitgliedern besagt. Wir können uns die Sache nicht anders vorstellen, als dass hier ein großer Irrtum oder aber ein Racheakt vorliegt.

    Wir Eltern wollen nun endlich wissen, warum unser Sohn interniert wurde und wo man ihn hingebracht hat.

    Da verschiedentlich lautbar wurde, dass unser Sohn nicht studieren würde, füge ich Fotokopien amtlicher Unterlagen der Freien Universität mit der Bitte bei, selbe als Beweismaterial den Untersuchungsakten beizulegen. Bemerken möchte ich noch, dass mein Sohn dreimal versuchte, an der Humboldtuniversität, an der Tierärztlichen Fakultät zu immatrikulieren. Er wurde jedes Mal abgewiesen mit der Bemerkung, dass sie überfüllt sei. Die amtlichen Unterlagen sind noch vorhanden.

    Welchen Trost können Sie mir nun auf den Heimweg mitgeben? Was hat mein Sohn verbrochen und wo hat man ihn untergebracht?

    Die Mehrzahl unserer Weferlinger Mitbürger könnten bestimmt genau das sagen, was wir als Eltern auch nicht anders wissen, dass man unserem Sohne Karlheinz nichts Nachteiliges nachsagen kann. "

    Die Eltern von Karlheinz Wille und den anderen getöteten Studenten erfuhren nichts. Erst durch die Recherchen von Facts & Files stellte sich fünfzig Jahre später heraus, das Karlheinz Wille im Februar 1952 durch ein Militärtribunal verurteilt und am 26. Juni 1952 hingerichtet wurde.
    Auch wenn ein großer Teil des Materials, dass die Historiker durchforsten, trockene Akten sind und es kaum noch Zeitzeugen gibt, die erzählen können, wie die Studenten Werner Schneider oder Peter Püschel oder eben Karlheinz Wille als Menschen waren, entstehen doch auch Bilder von den jungen Männern.

    Drauschke:
    " Zusätzlich zu den teilweise sehr bürokratischen Dokumenten haben wir auch Fotos gesammelt, also Passfotos meistens nur, die wir teilweise aus deutschen Akten bekommen, oder aus Studentenausweisen oder anderen Dokumenten oder auch eben die auch sehr stark das Schicksal widerspiegeln die Fotos des MGB aus Moskau, die halt in Haft kurz vor der Hinrichtung gemacht wurden, wo man schon sieht, wie das Schicksal sie getroffen hat und wenn man sich so eine Reihe der Fotos ansieht bekommt man so einen viel persönlicheren Eindruck von den Personen, von ihrem Schicksal und das ist eben auch Teil des Totenbuches, zusätzlich zu den biografischen Angaben wird eben auch, soweit wir es haben, ein Foto erscheinen, dass sie ein Gesicht wieder bekommen."

    Die Fotos der Studentenausweise zeigen Männer in Schlips und Kragen, die nicht ganz so jung aussehen, wie wir uns Studenten vorstellen.

    Staadt:
    "Unter den vielen, die von der FU festgenommen, verhaftet wurden in dieser frühen Zeit, 50er Jahre sind 10 wo wir jetzt wissen, dass sie zum Tode verurteilt worden sind und in Moskau hingerichtet wurden, bei diesen zehn kann man schon sehr genau sagen, was für ein Typus von Student es war, also es waren alles keine ganz jungen Leute mit einer Ausnahme, es waren auch überwiegend Leute, die in der SBZ schon gelebt hatten vorher, zur Schule gegangen waren, zum Teil sogar auch studiert hatten an Universitäten oder in Ostberlin an der Berliner Universität, und die schon in Konflikte geraten waren und deswegen an die FU gegangen sind, Oft Mitglieder von Blockparteien oder denen nahe stehend, damals war das ja noch im Prozess befindlich die Gleichschaltung von CDU,LDP und anderer Massenorganisationen zum Teil auch kirchlicher Leute, aber es waren Leute die schon eine Geschichte mit dem System hatten wenn auch nur ne kurze und sich engagiert haben aus diesem Grund, zum Teil waren es aber auch einfach nur Leute, die nur ihre Eltern besuchen wollten, weggegangen sind aus politischen Gründen, dann zu Besuch bei ihren Eltern waren und bei diesen Besuchen dann denunziert wurden oder aus irgendwelchen Gründen ins Visier der Staatssicherheit gerieten und festgenommen wurden. "

    Nicht nur die Angehörigen auch die Universität versuchte, etwas über die Verschwundenen in Erfahrung zu bringen. Die Westberliner Studentenzeitschrift Colloquium enthielt jeden Monat eine Rubrik mit dem Titel "Vergesst sie nicht". Sie führte die Namen von Akademikern und Studenten auf, die in der DDR aus politischen Gründen verhaftet worden waren. Meist wusste man nur vom Hörensagen, dass sie festgenommen worden waren. An der FU arbeitete seit 1950 außerdem das Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen des Verbandes Deutscher Studentenschaften VDS.

    Staadt: "
    Der hatte hier ein Büro und der hat sich speziell um alle Belange der Oststudenten gekümmert, das heißt also die haben sich auch um Stipendienvergabe gekümmert, wenn die hier rüberkamen oder geflüchtet sind, um Unterkünfte, um Bewerbungen an der Universität, aber sie haben sich eben auch gekümmert um Studenten, von denen bekannt wurde, dass sie in der DDR verhaftet waren oder in Gefängnissen saßen, nicht nur Westberliner Studenten sondern überhaupt Studenten, wenn an den DDR-Universitäten irgendwer aus politischen Gründen verhaftet wurde und verschwand, kam das per Mundpropaganda hier bei diesem deutschen Studentenausschuss an und die veröffentlichten Listen in der Studentenzeitschrift Colloquium, dieser verhafteten Studenten. Und da tauchten auch jene auf, die von der FU kamen und verschwunden waren. Interessanterweise wurde dieser gesamtdeutsche Studentenausschuss von einem später bekannten Politiker Dietrich Spangenberg geleitet, der später unter Gustav Heinemann das Bundespräsidialamt geleitet hat und mit den Ost-West-Beziehungen auch zu tun hatte. "

    Auch Otto Suhr von der Deutschen Hochschule für Politik und FU Rektor Ernst Eduard Hirsch nutzten alle ihre Quellen und Verbindungen, um etwas über die vermissten Studenten herauszufinden.

    " Es gab die Bemühung über Rechtsanwälte Auskünfte zu bekommen, den Familien wurden bestimmte Rechtsanwälte angeraten, die auf diesem Gebiet kenntnisreich waren und Beziehungen unterhielten, es gab viele Bemühungen es über das deutsche Rote Kreuz herauszubekommen, der Rektor Hirsch hatte über seine Kontakte zum Roten Halbmond versucht auf Seitenwegen etwas über die Leute herauszubekommen, Otto Suhr hat sich persönlich als damaliger Rektor der deutschen Hochschule für Politik um diese Dinge gekümmert und über die Amerikaner versucht, Anfragen an die Sowjets zu stellen, also es gab ne ganze Reihe von Bemühungen etwas herauszufinden, wo sind die verschwundenen Studenten geblieben, es wurde nicht an die öffentliche Glocke gehängt, weil man die Befürchtung hatte, wenn man das öffentlich macht in der Presse, wird das als Kampagne aufgefasst und man schadet damit diesen Leuten. Man hat es also auf den verschiedenen stillen Kanälen betrieben, deswegen sind diese Fälle zwar in den Archiven einigermaßen dokumentiert, es gibt aber praktisch keine öffentlichen Medienverlautbarungen aus dieser Zeit, bis auf einen Fall, der in den Medien bekannt wurde, über diese Vorgänge."

    Die Geheimhaltung ihrer Schicksale gehörte zur Politik des KGB, es war fast als hätten die Ermordeten niemals existiert. Den Politologen Jochen Staadt erinnert dieses Verhalten an den Roman 1984 von George Orwell. Darin sagt der Vernehmungsoffizier O'Brien zu dem Häftling Winston Smith:

    " Die Nachwelt wird nie von Ihnen hören. Sie werden restlos aus dem Strom der Geschichte entfernt. Es wird nichts von ihnen übrig bleiben, kein Name in einem Register, nicht die Spur einer Erinnerung Sie werden sowohl in der Vergangenheit, wie für die Zukunft annulliert sein. Sie werden nie existiert haben."

    Staadt:
    " Man wusste nicht was mit ihnen passiert ist, es gab einzelne Auskünfte, wiederum entweder aus Familien oder von Mitverurteilten, meistens waren das so Gruppenprozesse, dass nicht nur einer vor Gericht stand, sondern eine ganze Gruppe, man suchte dann die Kontaktpartner in der DDR und die wurden mitangeklagt und dann gab es Mitteilungen, dass es diese Prozesse gab und dass es Haftstrafen gab. Über Todesurteile gab es keine Mitteilungen und die sowjetischen Militärtribunale haben das auch ganz bewusst geheim gehalten und die sowjetische Regierung hat auch nach dem Ende des harten Stalinismus nach dem Tode Stalins auf Anfragen immer nur, wenn sie irgendetwas an Auskünften gegeben hat, dann im Laufe der Jahre nach und nach mitgeteilt, dass dieser oder jener im Arbeitslager, im Lazarett gestorben sei, an Seuchen, an Krankheiten, die Tatsache des Todesurteils wurde nicht mitgeteilt. Die Sowjetunion hatte ja Ende der 40er Jahre im Kontext der Gründung der Vereinten Nationen ein Moratorium eingelegt und die Todesstrafe zeitweise abgeschafft und das Eingeständnis, dass man in den frühen 50er Jahren aus nichtigen Gründen so viele Leute, wie es dann sich ja jetzt herausgestellt hat, zum Tode verurteilt hat, hätte in der internationalen Öffentlichkeit einen enormen Schaden angerichtet."

    Am 2. März 1953 kam es zu einer Zäsur, nach der keine Todesurteile gegen deutsche Studenten mehr durch Sowjetische Militärtribunale verhängt wurden. Josef Stalin starb. Der DDR -Rundfunk berichtete von seinem Begräbnis damals voller Pathos:

    Mit dem Tod Stalins und endete zwar sein totalitäre Gewaltregime und die Ermordungen, die Informationspolitik der Sowjetunion blieb jedoch die gleiche. Es drang nichts nach außen.

    Die Universität und die Deutsche Hochschule für Politik strichen die verschwundenen Studenten schon bald aus ihren Immatrikulationslisten, wenn sie sich nach den Semesterferien nicht zurückmeldeten. Die Bemühungen der Professoren und Rektoren verliefen rasch im Sande und die verzweifelten Angehörigen, die oft noch jahrelang Briefe schrieben und suchten wussten irgendwann auch nicht weiter. Die Studenten gerieten, so wie viele andere Opfer sowjetischer Militärtribunale in den 50er Jahren in Vergessenheit. Dazu, meint Jochen Staadt, trug aber auch eine ganz bestimmte politische Stimmung in Deutschland bei.

    " Unsere Generation ist aufgewachsen im Prinzip in den Jahren der Entspannungspolitik und wir hatten eine gewisse Prägung erhalten, schon in den Schulen aber auch im Verlauf des Studiums die möchte ich anti-anti-kommunistisch nennen, wir waren der Meinung das vieles was in den 50er Jahren passiert ist und was uns überliefert wurde durch Personen, bei denen wir studiert haben aber auch durch Schrifttum, was noch zum Teil vom Lehrkörper angeboten wurde, dass das antikommunistische Propaganda sei und deswegen setzte sozusagen die intensive Beschäftigung mit Politik für uns in den Jahren und unter den Vorbildern der Entspannungspolitik ein und wir waren der Meinung, dass all diese finsteren Dinge, die man zum Teil im allgemeinsten Sinne hörte, was in den 50er Jahren an kaltem Krieg zwischen Ostberlin und Westberlin sich abgespielt hatte, dass das Machenschaften der Geheimdienste waren, dass das mit aufrichtiger Politik, wie wir sie verstanden, nichts zu tun hatte."

    Staadt ist selbst ein 68er, kann sich erinnern an die Atmosphäre zu Zeiten seines eigenen Studiums an der FU Ende der 60er Jahre und wundert sich heute zum Teil selbst über die eigenen Scheuklappen in dieser Zeit.

    "Das Bild hat sich grundlegend revidiert, weil man wenn man sich heute das anschaut die Impulse der Studierenden, die die FU gegründet haben und auch dieser Leute, die sich engagiert haben, waren zutiefst freiheitliche Impulse. "

    Für die Angehörigen der verschwundenen Studenten war nicht nur die Tatsache schmerzhaft, dass sie im Grunde über Jahrzehnte noch nicht einmal mit Gewissheit wussten, ob ihre Söhne oder Brüder noch lebten oder tot waren, sondern auch, dass sie wie Kriminelle dastanden, die zum Tode verurteilt worden waren, die irgendwie selbst Schuld waren an ihrem Schicksal, denn schließlich lautete der Vorwurf für die Verurteilungen in der Regel Spionage. Doch dieser Vorwurf, erklärt Jochen Staadt, erfüllte vielmehr einen politischen Zweck als das er einen kriminellen Tatbestand beschrieb.

    Staadt:
    " Der Vorwurf der Spionage war damals für Aburteilungen in der DDR gängig. Es wurden viele Dinge als Spionage bezeichnet die man heute als Kommunikation zwischen Ost und West bezeichnen würde, aber es gab eben auch regelrechte Planvorgaben der sowjetischen Militärtribunale, die mussten ne bestimmte Anzahl von Spionen aburteilen, weil die Sowjetunion zentral der Meinung war, es muss diese Spione geben, die müssen gefunden werden."

    Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte man einen neuen Versuch starten, Genaueres über die Schicksale der Verschwundenen herauszufinden. Die Moskauer Militärstaatsanwaltschaft hat in den letzten Jahren hunderte gegen Deutsche verhängte Todesurteile für ungültig erklärt und die Hingerichteten rehabilitiert. Die Studenten der FU und der Deutschen Hochschule für Politik sind darunter.

    Memorial, die russische Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge begann nach der Wende einen jahrelangen historischen Kleinkrieg mit der Nachfolgeorganisation des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Sie erhielt Erschießungslisten und biografische Daten von über 5 000 Menschen, deren Asche man namenlos auf dem Friedhof Donskoje verscharrt hatte. In den 1990er Jahren erführ man nach und nach Details über die Erschießungen im Butyrka Gefängnis. Aber erst 2005 gelang es dem Forscherteam von Facts &Files, das Schicksal der zehn in den 50er Jahren verschwundenen Studenten der FU und der deutschen Hochschule für Politik aufzuklären. Auch ihre Namen werden in einem Totenbuch erscheinen, dass im Oktober von Facts & Files veröffentlicht wird.

    Rudolph:
    " Ziel unserer Arbeit ist es auch gewesen, einen biografischen Abriss zu liefern dieser Person, die weit über 50 Jahre verschollen war, erstens einen Namen wieder zu geben, der stimmt, zweitens die biografischen Daten zu geben, die hoffentlich stimmen, ihn in ein soziales Umfeld einzuordnen, das heißt also deutlich zu machen, war er verheiratet, wie viele Kinder hatte er, aus welchem Berufsfeld ist er herausgerissen worden, welche Sprünge gab es in seinem Leben, wie hat er sich verhalten? Das ist glaube ich das wichtigste für unser Totenbuch gewesen."

    Für die Historiker Jörg Rudolph und Frank Drauschke ist die Geschichte damit aber noch nicht abgeschlossen.

    Rudolph:
    " Wir wollen mit unserem Buch eigentlich die Forschung zu diesen Biografien weiter anregen und den Familien den Verfolgungstatbestand mit all seinen Einzelheiten soweit das uns möglich war rekonstruiert darstellen."

    Von den meisten Studenten ließ sich eine kleine Biografie erstellen, es gibt ihr Immatrikulationsfoto und andere Details. Von Wolf Utecht, geboren 1929, hat man kaum Informationen. Seine Mutter hatte Otto Suhr von der deutschen Hochschule für Politik berichtet, ihr Sohn sei im Juli 1950 in Magdeburg festgenommen worden. Er habe Material der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit dabeigehabt.
    Nach 1957 ging man davon aus, er sei in einem sowjetischen Zwangsarbeitslager. Doch nach den Recherchen von Facts & Files war er da schon längst tot. Erschossen wegen angeblicher Bildung einer Widerstandsgruppe in einem sibirischen Arbeitslager.

    Auch die FU will an die in Moskau ermordeten Studenten erinnern. An Günter Beggerow, Fritz Flatow, Günter Malkowski, Kurt Helmar Neuhaus, Ägidius Niemz, Friedrich Prautsch, Peter Püschel, Karlheinz Wille, Werner Schneider und Wolf Utecht.