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Vergiss es!

Neurologie.- Während es Kindern meist gut gelingt, ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten, haben Erwachsene dagegen oft lange mit wiederkehrenden Ängsten zu kämpfen. Doch warum können die Kleinen vergessen, die Großen aber offenbar nicht? Neurowissenschaftler sind dem Phänomen auf der Spur.

Von Marieke Degen | 07.09.2009
    Es braucht nicht viel, um einer Maus ein Trauma zuzufügen.

    "Wir spielen unseren Versuchsmäusen einen Ton vor, 30 Sekunden lang. Und am Ende bekommen sie einen Elektroschock in die Pfote – das ist ungefährlich, aber die Tiere mögen das überhaupt nicht. Nach einer Weile zeigen sie eine typische Angstreaktion: Sobald sie den Ton hören, fallen sie in eine Art Schockstarre, ihre Bewegungen frieren förmlich ein. Und je länger die Tiere regungslos ausharren, desto größer ist ihre Angst",

    sagt Cyril Herry, Neurobiologe am Friedrich-Miescher-Institut für biomedizinische Forschung in Basel. Es sei allerdings auch relativ einfach, den Mäusen die Angst wieder zu nehmen.

    "Wenn man der Maus dann nur noch den Ton vorspielt, ohne Elektroschock, dann lernt sie, dass Ton und Schmerz nicht länger miteinander verbunden sind. Mit der Zeit wird ihre Bewegungsstarre immer kürzer. Und ganz am Ende hat das Tier überhaupt keine Angst mehr vor dem Ton."

    Extinktion oder Löschung des Angstgedächtnisses heißt diese Prozedur im Fachjargon. Ein Begriff, der leicht in die Irre führen kann. Denn nur bei jungen Mäusen wird das Angstgedächtnis tatsächlich gelöscht. Auch Wochen später lässt sie der Ton völlig kalt. Bei erwachsenen Mäusen wird die Erinnerung nicht gelöscht, sondern nur mit der neuen Information – der Ton ist nicht gefährlich – überspielt. Doch schon nach ein paar Tagen fallen sie beim Erklingen des Tons wieder in Schockstarre. Ihre Angst ist zurückgekehrt. Ganz ähnlich ist das auch bei Menschen. In Verhaltenstherapien werden Trauma-Patienten immer wieder mit der für sie bedrohlichen Situation konfrontiert, um neu zu lernen, dass die Situation nicht gefährlich ist. Sie müssen nach einem schweren Autounfall zum Beispiel regelmäßig mit dem Auto fahren. Doch die Angst kann immer wieder hervorbrechen. Und das macht es so schwer, Panikattacken oder posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln.

    "Die Extinktion zerstört die Erinnerungen von Erwachsenen nicht, sondern behindert sie nur für eine Weile. Bislang konnte sich aber keiner erklären, was für ein Mechanismus dahinter steckt. Bis wir uns damit beschäftigt haben."

    Cyril Herry und seine Kollegen haben sich den Mandelkern im Mäusehirn vorgenommen. Der Mandelkern, auch Amygdala genannt, ist eine kleine Hirnregion, die für die Entstehung von Angst verantwortlich ist. Einige Nervenzellen dort sind von einem Netz umgeben, dem sogenannten perineuronalen Netz. Es besteht aus großen zuckerhaltigen Molekülen. Die Forscher wissen noch nicht genau, wozu das Netz gut ist. Was sie wissen: Das Netz bildet sich erst bei älteren Mäusen aus.
    "Sobald sich das perineuronale Netz in der Amygdala der Mäuse gebildet hatte, ließen sich die Erinnerungen nicht mehr auslöschen, sondern nur noch unterdrücken."

    Die Neurowissenschaftler vermuteten also, dass das Netz irgendwie die schlimmen Erinnerungen von erwachsenen Mäusen schützt. Um sicher zu gehen, spritzten sie älteren Mäusen eine Substanz in den Mandelkern, die das Netz auflöst. Anschließend haben sie den Tieren wieder Angst antrainiert und abgewöhnt. Doch diesmal kehrte die Furcht nicht zurück. Nicht nach einer Woche, und auch nicht nach einem Monat.

    "Das ist der entscheidende Punkt: Bei erwachsenen Tieren schützt das Netz das Angstgedächtnis davor, gelöscht zu werden. Und wenn man das Netz zerstört, befindet sich ihr Gedächtnis im gleichen Zustand wie bei einem Jungtier. Und die erwachsene Maus kann ihre Angst komplett vergessen."

    Möglicherweise wäre das auch ein Ansatz für neue Medikamente gegen Angststörungen beim Menschen. Allerdings müsste man wahrscheinlich auch beim Menschen das Netz zerstören, bevor es zu einem traumatischen Erlebnis kommt – so ein Verfahren käme dann am ehesten für Soldaten in Frage, oder für Ärzte. Zukunftsmusik. Denn: Was genau spielt sich ab auf der Ebene der Nervenzellen? Welche Nebenwirkungen gibt es? Werden möglicherweise auch andere Erinnerungen gelöscht? Das alles müssen die Forscher erst noch herausfinden – und dafür werden wieder Versuchsmäuse herhalten müssen.