Donnerstag, 28. März 2024

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Verhältnis EU-Türkei
"Alles Dinge, die nicht mehr hinnehmbar sind"

Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich hat die Forderung seines Parteivorsitzenden Martin Schulz nach einem Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verteidigt. Die Verhaftung deutscher Staatsbürger etwa sei nicht hinnehmbar und bedürfe einer Reaktion, sagte Mützenich im Dlf.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Martin Zagatta | 09.09.2017
    Der Kölner SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich
    Der Kölner SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich (Deutschlandradio/ Nina Voigt)
    Martin Zagatta: Mit seinem überraschenden Vorstoß, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei abzubrechen, ist der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ganz schön abgeblitzt bei den EU-Partnern. Nur Österreich vertritt diese Position, der Deutsche Sigmar Gabriel war ziemlich isoliert beim Außenministertreffen jetzt in Estland, so heißt es in Berichten. Opportunismus ist im deutschen Wahlkampf das Gebot der Stunde, wenn es um die Außenpolitik geht, das schreibt beispielsweise die "Neue Zürcher Zeitung". Und in der Tat, man wundert sich, was Martin Schulz da geritten hat, nachdem sich die SPD bis zum TV-Duell mit Kanzlerin Merkel immer gegen einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen ausgesprochen hat. Rolf Mützenich ist bei mir im Studio, der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und auch dort für die Außenpolitik zuständig. Guten Morgen, Herr Mützenich!
    Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Mützenich, die Politik der SPD und jetzt auch die Außenpolitik, ist das eine Wundertüte?
    Mützenich: Nein, es ist keine Wundertüte, sondern es ist eine Reaktion auf Ereignisse, die wir mit der Türkei haben erleben müssen, insbesondere mit dem türkischen Präsidenten. Und ich glaube, es zeigt ja auch, dass Meinungsumfragen, aber auch die Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern darauf hindeuten, dass die bisherige Türkeipolitik, die ja in der Tat – und darauf haben Sie hingewiesen – auch von Sozialdemokraten mitgetragen wurde, scheinbar keinen Resonanzboden in der Türkei selbst mehr hat, zumindest bei den Regierenden und die sie Wählenden.
    "Dinge, die nicht mehr hinnehmbar sind und einer Reaktion bedürfen"
    Zagatta: Aber gewundert haben wir uns schon, als Martin Schulz da beim TV-Duell mit Frau Merkel ganz überraschend angekündigt hat, jetzt für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen einzutreten. Haben Sie davon gewusst oder waren Sie genauso überrascht wie Außenminister Gabriel?
    Mützenich: Wir müssen nicht immer jedes Einzelne im Gespräch erörtern, aber wir haben ja nun seit mehreren Wochen erlebt – und darauf hat Martin Schulz unter anderem auch hingewiesen: Allein aus Selbstachtung eines Landes, deren Bürger unterschiedslos verhaftet werden, auch verfolgt werden von Interpol, durch Zufälle, letztlich nur auch geholfen werden kann, in Spanien wie den Autor Akhanli. Das sind doch alles Dinge, die nicht mehr hinnehmbar sind und auch einer Reaktion bedürfen. Und Martin Schulz und andere haben ja zum Beispiel gesagt, wir müssen auf jeden Fall gucken, dass die Beitrittshilfen nicht mehr gewährt werden, die Frage der Zollunion stand auf der Tagesordnung, und alles das muss natürlich auch mit einem bestimmten Beschluss …
    Zagatta: Das sagt Frau Merkel ja genauso.
    Mützenich: Das ist mit einem bestimmten Beschluss in der Europäischen Union ja auch verbunden, deswegen ist es nur konsequent.
    Zagatta: Aber in der Europäischen Union, das hat sich ja jetzt bei dem Außenministertreffen gezeigt, da steht Deutschland ja ziemlich isoliert da, da macht nur noch der österreichische Außenminister mit. Und als der beim letzten Außenministertreffen – ich hab das noch mal nachgelesen – genau das, also einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen gefordert hat, da hat ihm Sigmar Gabriel noch Populismus vorgeworfen. Er sei im Wahlkampf nur auf Beifall zu Hause aus, also da war Österreich gemeint. Erleben wir jetzt das Gleiche?
    Mützenich: Ja, ich verstehe das schon, Herr Zagatta, nur ich meine, Sie müssen dann natürlich auch fair feststellen, dass seit der Zeit auch noch mal eine Menge wieder passiert ist, dass Menschen in der Türkei selbst verhaftet worden sind, die deutsche Staatsbürger waren – ich hab darauf hingewiesen.
    "Zumindest Suspendierung der Beitrittsgespräche wäre konsequent"
    Zagatta: Ist klar, aber mir geht's um den Abbruch.
    Mützenich: Natürlich, ich verstehe das schon, aber noch mal, der Abbruch ist natürlich auch Voraussetzung für bestimmte Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union, zumindest die Suspendierung, die ja auch festgelegt worden ist vor dem Hintergrund der Kopenhagener Kriterien. Und deswegen wundert es mich auch, dass andere europäische Regierungen zumindest nicht mal über die Suspendierung dieser Beitrittsgespräche nachdenken. Ich fände das sehr konsequent.
    Zagatta: Aber da unterscheidet man sich ja dann gar nicht von der Position von Frau Merkel. Wenn man der glauben darf, dann war Außenminister Gabriel zwei Tage vor dem Fernsehduell noch ganz anderer Meinung, und im Wahlprogramm der SPD steht ja offenbar auch etwas anderes.
    Mützenich: Ich war nicht bei dem Gespräch dabei. Frau Merkel wird das, ich hoffe, wahrheitsgetreu auch so berichten. Nur Sie müssen natürlich sehen, das Wahlprogramm ist zu einem ganz anderen Zeitpunkt auch geschrieben worden. Und ich finde auch, die Freiheit eines Spitzenkandidaten und Parteivorsitzenden muss doch auch im Wahlkampf sein, auf aktuelle Themen zu reagieren. Und die Geduld ist natürlich durchaus auch irgendwann nicht mehr gegeben, gerade vor dem Hintergrund, wie auch mit deutschen Staatsbürgern umgegangen wird, und dass er – ein Thema, was ja auch im Wahlkampf uns beschäftigt – dazu auch Stellung nimmt. Ich meine, das darf man ihm nun wirklich nicht vorwerfen. Es ist oft immer Wahlkampf an unterschiedlichen Stellen. Wir haben Landtagswahlen, und ich meine, es ist doch auch sehr, finde ich, etwas herbeidiskutiert, dass man sagt, diese Haltung ist jetzt nur durch den Wahlkampf passiert. Damit vertauscht man doch den Verursacher, und das ist Erdogan.
    "Herr Schulz hat es aus seiner Grundüberzeugung heraus gemacht"
    Zagatta: Na ja, gut, man wundert sich halt über diese Umkehr oder diese Kehrtwende. Haben Sie den Eindruck oder befürchten Sie, dass das vielleicht jetzt auch mit dazu beigetragen hat, diese Verwirrung in der Türkeipolitik, die er da angerichtet hat, dass die SPD einfach nicht aus den Puschen kommt, dass sie in Meinungsumfragen jetzt sogar noch weiter abgestürzt ist?
    Mützenich: Ich glaube, es ist nicht der eine Grund, aber noch mal: Ich glaube, man muss auf jeden Fall zu politischen Ereignissen – und das wollen ja auch die Wählerin und der Wähler letztlich auch –, zu politisch entscheidenden Fragen eine Stellungnahme hören. Und das ist ja auch, was immer bei der Bundeskanzlerin vermisst worden ist, die ja sehr lange auch gewartet hat, wo die Meinungsbildung hingeht. Man könnte ja genauso jetzt unterstellen, nach den neuesten Meinungsumfragen, wo die Bundesbürger eben eine Wende wollten, hätte Frau Merkel sie vielleicht in den nächsten Tagen verkündet. Und Herr Schulz hat es nun mal eben auch aus seiner Grundüberzeugung her gemacht, deswegen finde ich die Vorwürfe nicht berechtigt.
    Zagatta: Frau Merkel hat aber da schon drauf hingewiesen, dass sie Realpolitik betreiben will, dass das ja mit den anderen europäischen Partnern gar nicht zu machen ist, dass das auch der Einstimmigkeit bedürfe. Ist sie da ein bisschen weitsichtiger?
    Mützenich: Herr Schulz ist genauso Realpolitiker, das haben wir im Europäischen Parlament erlebt, aber sie braucht, wenn es – und das hab ich ja gerade angedeutet, die Suspendierung wird ja zum Beispiel auch für die Beitrittshilfen eine gewisse Unterstützung sein, wenn die nicht mehr gewährt werden sollten. Dafür muss sie sich einsetzen. Und ich glaube, es geht letztlich darum …
    Zagatta: Das will sie aber auch, oder hab ich Sie da falsch verstanden?
    Mützenich: Ich hoffe, dass sie das tut, weil das wäre ja auch nur konsequent, weil sie hat es ja letztlich auch in dem Fernsehinterview versprochen. Da würden wir sie jetzt auch noch in den wenigen Wochen bei unterstützen, wo diese Bundesregierung eben auch zusammenarbeitet. Und ich glaube, genau diesen Pfad hat ja auch Martin Schulz versucht zu legen in diesem Interview.
    "Reisewarnung nicht ausgeschlossen"
    Zagatta: Er hat aber dann doch immer versucht, in den letzten Tagen und Wochen ja auch ein bisschen so den Eindruck zu erwecken, er trete da für eine härtere Türkeipolitik ein. Warum zum Beispiel gibt es dann keine Reisewarnung, alles andere hätte Merkel ja genauso gesagt?
    Mützenich: Diese Reisewarnung muss natürlich innerhalb der Bundesregierung abgestimmt werden durch verschiedene Ressorts, aber immerhin sind die Reisehinweise ja noch mal verschärft worden. Es ist ja gar nicht ausgeschlossen, wir wissen ja nicht, was sozusagen der nächste Schritt auch von Erdogan und seiner Regierung letztlich ist und den willfährigen Behörden, dass möglicherweise irgendwann auch diese Reisewarnung ausgesprochen werden muss. Das wäre ein klares Zeichen, aber ich finde, man soll sich auch darauf konzentrieren, die Gespräche über die Zollunion – das sind ja sozusagen Belohnungen letztlich auch für ein Herantasten an die Europäische Union … Alles das sind Dinge, die Martin Schulz eben auch gefordert hat, und das finde ich auch berechtigt.
    Zagatta: Und die Angela Merkel, oder sehe ich das falsch, genauso unterschreiben würde?
    Mützenich: Ja, wenn sie das sozusagen tatkräftig unterstützt, ist ja gar nichts dagegen einzuwenden, aber nun mal bin ich derjenige, der mit Martin Schulz zusammen in einer Partei ist, der zurzeit eben auch versucht, Mehrheiten zu bilden, und von daher, glaube ich, muss ich mir nicht Gedanken über Frau Merkel machen, sondern letztlich über Martin Schulz und auch den Wahlkampf.
    Zagatta: Das wollten wir ja in dem Gespräch auch machen. Die Außenpolitik der SPD ist keineswegs und überhaupt nicht so wirr, wie sie manchem vielleicht vorkommen mag in diesen Tagen, sagt Rolf Mützenich, der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Herr Mützenich, danke schön für Ihren Besuch heute Morgen hier im Studio?
    Mützenich: Danke für die Einladung, Herr Zagatta!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.