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Verhärtete Fronten

Erneut wird über Carl Diem gestritten, und zwar heftiger denn je. Gleich zwei Tagungen beschäftigen sich in der kommenden Woche mit dem Organisator der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, der wie kein anderer die heikle Vergangenheit des deutschen Sports personifiziert.

Von Erik Eggers | 05.12.2010
    Anlass beider Konferenzen ist der Historiker-Streit über Diem, der in den letzten Monaten zunehmend eskalierte. Auslöser dieser Debatte ist der Oberhausener Historiker Frank Becker, der im Auftrag der Sporthochschule, des Deutschen Olympischen Sportbundes DOSB und der Krupp-Stiftung eine kritische Diem-Biographie vorgelegt hat. Darin wies er nach, dass Diem sich im Kaiserreich zahlreicher antisemitischer Klischees bediente und bereits 1943 über den Holocaust informiert war. Die berühmte "Sparta"-Rede Diems am 18. März 1945 in Berlin vor einer Volkssturmeinheit ordnete Becker als "Durchhalte-Rede" ein. Nach 1945 habe Diem weder Reue gezeigt, jedwede eigene Verstrickung vertuscht und sich als Opfer des Hitler-Regimes stilisiert, kritisiert Becker.

    Ungeachtet dieser Forschungsergebnisse urteilte der Projektbeirat unter der Leitung des Sportwissenschaftlers Michael Krüger und des Pädagogen Ommo Grupe, Diem sei weder Nationalsozialist, Militarist und Antisemit gewesen. Vor diesem Hintergrund sei eine Revision des Diem-Bildes unangebracht. Man könne den Kommunen nicht empfehlen, Diem-Straßen oder -Wege umzubenennen.

    In einem 18-seitigen Abschlussbericht aus dem April, der dem Deutschlandfunk vorliegt, kritisieren Krüger und Grupe die Methodik Beckers scharf. Die Arbeit liefere zwar interessante Einsichten zu Diems Rolle im Nationalsozialismus, aber es gelinge Becker nicht, diese Epoche im Zusammenhang des gesamten Lebens und Wirkens von Diem verständlich zu machen, heißt es. Der Autor habe die Tagebucheinträge Diems zumeist "ohne quellenkritische Distanz" ausgewertet. Im Fazit werfen sie Becker vor, die Arbeit erfülle weder aus theoretischer Sicht noch gemessen an den methodischen Standards, die heute an eine wissenschaftlich fundierte Biographie gelegt würden, die Anforderungen biografischer Forschung. Daher initiierten Grupe und Krüger die Tagung am Wochenende in Köln, um dort das Ziel des Projektes, nämlich "einen Beitrag zu einer theoriegeleiteten und vergleichenden Biografiegeschichte besser realisieren zu können".

    Becker sieht sich als Opfer einer Kampagne. Er klagt, Diem werde von Krüger und Grupe "in jeder Hinsicht weißgewaschen", ein solcher Persilschein sei mit seinen Forschungsergebnissen unvereinbar. Bizarr erscheint, dass Becker von den Kölner Organisatoren nicht eingeladen wurde, um dort seine Ergebnisse verteidigen zu können. Stattdessen spricht er in Berlin zur Kontroverse über Diems Rede im März 1945. Becker hat im Übrigen prominente Fürsprecher. Der renommierte NS-Experte Professor Hans-Ulrich Thamer etwa bezeichnete die Kritik seitens des Projektbeirats als absurd.

    Und auch der Historiker Ralf Schäfer, der das Berliner Symposium organisiert, springt Becker bei. In einem aktuellen Aufsatz für die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft bezeichnet Schäfer Diem als Antisemiten und belegt, dass Diem sich bereits im Kaiserreich und noch 1949 antisemitischer Topoi bediente.

    Vor dem Hintergrund des aktuellen Gelehrtenstreites macht Schäfer außerdem Krüger, Grupe und dem DOSB heftige Vorwürfe: Hier werde ein wissenschaftliches Ergebnis disqualifiziert, nur weil es seinen erinnerungspolitischen Absichten zuwiderlaufe. Die DOSB-Erinnerungspolitik basiere auf einem geschönten Geschichtsbild und tradiere längst überholte undemokratische Normen, so Schäfer. Der Konflikt um Diem mache deutlich, dass eine umfassende Neubestimmung der Geschichte des deutschen und olympischen Sports noch ausstehe.

    Kurzum: Die geschichtspolitischen Fronten im Deutungskampf um Carl Diem sind so verhärtet wie noch nie.