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Verhaftung ohne Grund

Seit dem 11. September 2001 werden in den USA auf allen gesellschaftlichen Ebenen Kontrollen und Restriktionen verschärft und der Krieg gegen den Terror schränkt zunehmend die Bürgerrechte ein - teilweise in bizarrer Form.

Von Mirko Smiljanic |
    Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seine Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen.

    Mit diesen Sätzen beginnt Franz Kafkas Roman "Der Prozess". Er schildert die Geschichte des Bankprokuristen Josef K., der sich zwar trotz seiner Verhaftung frei bewegen darf, aber niemals erfährt, wessen er angeklagt wird und wer seine Richter sind. Weder die Öffentlichkeit noch der Angeklagte kann an dem Prozess teilnehmen, Angst und Willkür, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit beherrschen alles. Es sind wahrhaft kafkaeske Zustände, die der Prager Autor zu Beginn des 1. Weltkrieges beschreibt. Sind dies nur Fantasien eines genialen Schriftstellers, der die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts literarisch auf die Spitze treibt? Nein, sagt der Strafverteidiger Steven T. Wax, Kafka trifft man auch in Amerika. Heute:

    Brandon Mayfields Ehefrau Mona stieg am 8. April 2004 gegen 16 Uhr die Stufen zur Veranda des zweistöckigen Holzhauses hinauf. Mona blickte sich um, betrat vorsichtig das Haus und ging zunächst in die Küche, wo sie ihre Handtasche und ihre Einkaufstüte ablegte. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Als sie auf den Teppich trat, hielt sie plötzlich inne. Sie wusste nicht warum, aber sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.
    Später stellt sich heraus, dass Mona Mayfield einen Fußabdruck auf dem Teppich gesehen hatte, der dort nicht hingehört. Weitere Merkwürdigkeiten kommen hinzu: Autos, die langsam durch das Wohnviertel fahren, angezapfte Telefone, seltsame Anrufe – Angst und Unsicherheit breiten sich aus!
    Steven T. Wax erzählt die Geschichte zweier seiner Mandanten, die in das Antiterror-Netz der US-Regierung gerieten. Brandon Mayfield, Amerikaner, Familienvater und Anwalt, wurde nach den Madrider Bombenanschlägen vom März 2004 verhaftet, weil Fingerabdrücke auf einer in der Nähe des Anschlagortes in Spanien gefundenen Plastiktüte irrtümlich als seine identifiziert wurden. Der Sudanese Adel Hamad, der zweite Mandant, arbeitete in der Verwaltung eines pakistanischen Krankenhauses, bis US-Soldaten ihn ohne triftigen Grund aus seiner Wohnung verschleppten und in Ketten nach Guantánamo flogen. Beide Männer wurden von einem Tag auf den anderen verhaftet, erfuhren keine Details über die Vorwürfe und konnten sich daher auch nicht angemessen verteidigen. Als Adel Hamad um anwaltlichen Beistand bat, fiel die Antwort des Justizministers an das zuständige Gericht unmissverständlich aus.

    Er ließ das Gericht wissen, dass die Gefangenen nicht einmal das Recht hätten, um gerichtliche Hilfe zu bitten, weil Guantánamo außerhalb des Hoheitsgebiets der Vereinigten Staaten und damit auch außerhalb der Gerichtshoheit von Bundesgerichten liege. Und er fügte hinzu, die Gesuche seien abzulehnen, weil alle in Guantánamo einsitzenden Männer Ausländer seien und deshalb auch keine von der Verfassung garantierten Rechte für sich beanspruchen könnten, solange sie sich außerhalb des Staatsgebietes befänden.
    Für Steven T. Wax begann eine lange und mühselige Auseinandersetzung mit Staatsanwälten und Richtern. Minutiös beschreibt er seine Kämpfe auf knapp 500 Seiten, das Buch ist gespickt mit Fußnoten, einigen Bildern und – leider – zu viel Eigenlob. Trotzdem ist "Kafka in Amerika" empfehlenswert, liefert das Buch doch nebenbei eine umfassende Geschichte des amerikanischen Rechts bis hin zum Habeas-Corpus-Grundsatz, einer Rechtsverfügung aus der englischen Magna Charta von 1215.

    Habeas Corpus ist der wirksamste Schutz, den das angloamerikanische Recht gegen regierungsamtliche Übergriffe bietet. Er ermöglicht es unserer Judikative, als kritische Kontrollinstanz der Exekutive zu agieren, die sicherstellt, dass Letztere Einzelpersonen nur in Übereinstimmung mit Recht und Gesetz festhält.
    Für Brandon Mayfield wurde dieser Grundsatz allerdings stillschweigend außer Kraft gesetzt. Er wurde verhaftet als "wichtiger Zeuge" – so etwas ist in den USA durchaus möglich – allerdings hätten die Haftgründe niemals ausgereicht, ihn länger festzusetzen. Und er ist längst nicht die einzige Person, die nach dem 11. September 2001 unter missbräuchlicher Anwendung des "Gesetzes zu wichtigen Zeugen" verhaftet worden ist. Human Rights Watch und American Civil Liberties Union dokumentierten 70 ähnliche Fälle, in 69 dieser Fälle ging es um Männer muslimischen Glaubens, von denen 64 aus dem Nahen und Mittleren Osten oder vom indischen Subkontinent stammten. Immerhin gelang es Wax schließlich, beide freizubekommen. Brandon Mayfield verließ nach drei Jahren das Gefängnis und bekam zwei Mio. Dollar Schadenersatz zugesprochen, und Adel Hamad verließ nach mehr als fünf Jahren Guantánamo Richtung Sudan. Bis zum Schluss versuchten die Behörden seine Freilassung zu verhindern – unter anderem mit dem Argument, Hamad drohten in seinem Heimatland Repressalien.

    Was für eine Ironie. Meine eigene Regierung hatte Adel in Baghram gefoltert und ihn fünf Jahre lang ohne ordentliches Verfahren in Haft gehalten, und jetzt wollte sie ihn nicht freilassen, weil sie befürchteten, die Sudanesen könnten ihn ungerecht behandeln.
    Steven T. Wax beschreibt zwei Fälle, so absurd, so kafkaesk, dass man kaum glauben mag, wo sie sich abspielten: in den USA, dem Land, das so stolz auf seine demokratischen Traditionen ist. Zu glauben, dies allein reiche, um Übergriffe des Staates auf seine Bürger zu verhindern, ist eine Illusion. "Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit", zitiert Wax den irischen Politiker John Philpot Curran – ein Satz, von universeller Gültigkeit.

    Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war. An K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. 'Wie ein Hund', sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

    Mirko Smiljanic rezensierte Steven T. Wax: "Kafka in Amerika – Wie der Krieg gegen den Terror die Bürgerrechte bedroht". Deutsch von Werner Roller, verlegt in der Hamburger Edition. 496 Seiten zum Preis von 29 Euro und 90 Cent (ISBN 3868542086).