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Verheugen befürwortet Ausweitung des Entsendegesetzes

EU-Industriekommissar Günter Verheugen unterstützt die von der Bundesregierung geplante Ausweitung des Entsendegesetzes. Man dürfe sich nicht auf ein sinkendes Lohnniveau einlassen. Mit der vorgesehenen Regelung könne auch in Deutschland ein fairer Wettbewerb geschaffen werden. Zugleich sprach sich Verheugen für die Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland aus. Er verwies darauf, dass es entsprechende Vereinbarungen bereits in 18 EU-Ländern gebe.

Moderation: Elke Durak |
    Elke Durak: Drei Fragen, ein Mann: Weshalb unterstützt EU, Industrie und Wirtschaftskommissar Günter Verheugen die Bundesregierung in der Absicht, die nationalen Entsenderichtlinien auf alle Branchen auszuweiten, also Mindestlöhne für deutsche und ausländische Arbeitnehmer zu vereinbaren? Immerhin gehört er der Partei des Bundeskanzlers an, aber ist das Grund genug? – Zweitens: Wie kommt die Kapitalismuskritik der SPD in der EU an? Und drittens: Was meint der deutsche EU-Kommissar damit, wenn er ein mögliches französisches Nein zur EU-Verfassung vor Augen hat? Davon geht die Welt nicht unter. – Guten Morgen Herr Verheugen.

    Günter Verheugen: Guten Morgen!

    Durak: Weshalb halten Sie die Ausweitung des deutschen Entsendegesetzes für richtig?

    Verheugen: Weil wir uns nicht auf einen Lohnwettbewerb nach unten einlassen dürfen. Das Ziel der europäischen Wirtschaftspolitik kann es ja nicht sein, dass der Lebensstandard sinkt, sondern wir wollen ja, dass überall in Europa der Lebensstandard steigt. Und wenn wir es zulassen, dass Billiglöhner Gesetzeslücken ausnutzen – und das ist in Deutschland der Fall -, dann besteht die Gefahr, dass ein solcher Lohnwettbewerb nach unten beginnt. Deutschland hat schon seit langem die Möglichkeit, solche Auswüchse zu verhindern, und ich bin froh, dass jetzt eine Initiative ergriffen worden ist, die sicherstellt, dass wie in anderen europäischen Ländern auch in Deutschland ausländische Arbeitnehmer zu deutschen Bedingungen arbeiten müssen.

    Durak: Das hat auch etwas mit der noch nicht beschlossenen Dienstleistungsrichtlinie in der EU zu tun. Zieht Deutschland da jetzt nur nach?

    Verheugen: Es hat nichts mit der Dienstleistungsrichtlinie zu tun, weil die Dienstleistungsfreiheit in Europa ja bereits besteht. Es ist ja nicht so, dass durch diesen Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie die Dienstleistungsfreiheit erst eingeführt wird, sondern bei dieser Initiative geht es darum, Hindernisse abzubauen, die es in einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern noch gibt und die den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr behindern. Das ist der Sinn der Sache. Dienstleistungsfreiheit besteht und es können heute schon aus allen Mitgliedsländern der Europäischen Union in Deutschland Dienstleistungen erbracht werden. Dazu können auch Arbeitnehmer aus diesen Ländern zeitweise eingesetzt werden und wenn dann keine Regelung besteht im Hinblick auf die Löhne und im Hinblick auf die übrigen sozialen Standards, dann haben wir das Problem, dass es in einigen Bereichen in Deutschland heute gibt.

    Durak: Aber was die Dienstleistungsrichtlinie betrifft – ich muss es noch mal ansprechen, weil es auch viele Menschen einfach nicht mehr verstehen: Entsenderichtlinie, Dienstleistungsrichtlinie und so weiter – gibt es ja den Vorwurf, dass Sozialdumping möglich wäre, weil die Beiträge für Renten, Krankenkassen und Löhne nach dem Herkunftsland bezahlt werden müssen?

    Verheugen: Das kann doch gar nicht anders sein. Sonst würde ja der Arbeitsplatz desjenigen, der für kurze Zeit in Deutschland arbeitet, um eine Dienstleistung zu erbringen, nach Deutschland verlegt werden. Der Arbeitsplatz soll ja gerade in dem Land bleiben, in dem der betreffende Arbeitnehmer seine Beschäftigung hat. Er ist ja nur in Deutschland für eine begrenzte Zeit, um einen bestimmten Auftrag auszuführen. Also die Versicherungsleistungen, die Krankenversicherung und die Rentenversicherung, bleiben im Heimatland und alle übrigen sozialen Standards, also die Löhne, Urlaub, Mutterschutz, Arbeitszeit, gehen dann nach deutschen Standards.

    Durak: Damit würden aber die Kosten unter Umständen niedriger liegen als bei uns. Also Lohnnebenkosten bei uns zu hoch?

    Verheugen: Das lässt sich nun leider nicht vermeiden. An dieser Stelle gibt es in der Tat dann einen Kostenvorteil für Unternehmer aus dem Ausland, die nicht so hohe Lohnnebenkosten haben, aber das wird man in Kauf nehmen müssen. Das ist übrigens nicht neu. Diesen Zustand haben wir schon seit vielen, vielen Jahren und ich wüsste nicht, dass er bisher Probleme verursacht hätte.

    Durak: In Deutschland oder in anderen europäischen Ländern?

    Verheugen: Überall, auch in Deutschland.

    Durak: Das würde aber bedeuten, dass die Unternehmen, die aus dem Ausland hier Tätigkeiten ausführen, für andere Unternehmer preiswerter wären?

    Verheugen: Unter Umständen, nicht unbedingt. Das kommt darauf an, aus welchem europäischen Land der Unternehmer kommt, der einen Dienstleistungsauftrag erhält.

    Durak: Die Aufregung geht ja um solche Länder, die einfach preiswerter, um nicht zu sagen billiger Arbeit anbieten können.

    Verheugen: Ja, aber das ist kein Problem. Das Problem in diesem Fall sind doch nicht die Sozialbeiträge, die im Heimatland abgeführt werden, sondern das Problem sind doch tatsächlich die Löhne. Wenn man Arbeitskräfte aus anderen europäischen Ländern holt, die wirklich zu Hungerlöhnen bezahlt werden, das ist das Problem und das ist ein Missbrauch und diesen Missbrauch muss man abstellen.

    Durak: Die Mindestlohnvereinbarung, die es ja vielleicht – man muss ja sagen vielleicht – in Deutschland geben könnte, wenn die Union zustimmt, in welchen anderen europäischen Ländern gibt es die bereits?

    Verheugen: In 18 Ländern der Europäischen Union. Soll ich die alle aufzählen?

    Durak: Nein, nein. Ich denke mal das genügt uns.

    Verheugen: 18 von 25 haben das.

    Durak: 18 von 25 und Deutschland hinkt immer noch hinterher.

    Verheugen: Ja! Das hat auch einen Grund. Es ist ja eine bewusste politische Entscheidung gewesen. Als diese Entsenderichtlinie vor zehn Jahren etwa beschlossen worden ist, da hat man in Deutschland ja darauf verzichtet, sie flächendeckend anzuwenden, und man hat nach einigen Jahren, als die Probleme in der Bauindustrie besonders dringlich wurden, für den Bereich der Bauindustrie eine Sonderregelung geschaffen, aber für alle anderen Bereiche nicht. Jetzt geht es ja darum, das auszudehnen auf die anderen wirtschaftlichen Sektoren.

    Durak: Noch ein Wort. Entsenderichtlinie heißt Entsenderichtlinie, weil es um Arbeitnehmer geht, die von anderen Firmen, von Firmen aus dem Ausland, entsandt werden. Also keine Privatpersonen?

    Verheugen: Ja, so ist es!

    Durak: Es ist manchmal schwierig, Brüssel-Deutsch zu verstehen.

    Verheugen: Ja. Privatpersonen können sich auch niederlassen in Deutschland. Das ist auch schon lange so. Das nennt man Niederlassungsfreiheit. Aber wenn sich jemand in Deutschland niederlässt, dann gelten alle deutschen Bestimmungen für ihn. Dann hat er auch die deutschen Kosten. Also die Niederlassungsfreiheit ist noch niemals ein Problem gewesen. Die ist auch für die Länder Mittel- und Osteuropas bereits vor zehn Jahren in Deutschland eingeführt worden. Ich habe nirgendwo gehört, dass daraus ein Problem entstanden wäre. Sie kann missbraucht werden durch so genannte Scheinselbständigkeit. Gegen Scheinselbständigkeit gibt es aber rechtliche Handhaben. Das ist eine Frage der Kontrolle.

    Durak: Und es ist sozusagen ein kriminelles Problem?

    Verheugen: Selbstverständlich! Ich bin auch der festen Überzeugung, dass man das viel stärker kriminalisieren muss, als es bisher der Fall ist. Das ist nicht eine kleine Ordnungswidrigkeit; das ist ein schwerer Verstoß gegen die guten sozialen Sitten.

    Durak: Herr Verheugen, das bevorstehende EU-Referendum in Frankreich. Ein Nein ist ja möglich. Sie sprechen selbst von drohender Stagnation, andere auch. Was hieße das konkret?

    Verheugen: Ich finde nicht, dass wir allzu viel über ein Nein in Frankreich spekulieren sollten.

    Durak: Weshalb denn nicht?

    Verheugen: Das fordert ja die Franzosen geradezu dazu auf.

    Durak: Ich glaube da brauchen die uns nicht dazu!

    Verheugen: Eben! Also ich fände es sehr viel besser, wir würden darüber reden, was man tun kann, um die Franzosen zu ermutigen, mit Ja zu stimmen. Da finde ich, dass Deutschland einen ganz wichtigen Beitrag leisten kann, wenn Deutschland bei seinem Ratifizierungsfahrplan bleibt.

    Durak: Also vor dem EU-Referendum in Frankreich und die Union stellt Bedingungen. Darüber spreche ich nachher mit Herrn Müller. Sorry, dass ich Sie unterbreche.

    Verheugen: Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn dieses Signal, das dann aus Deutschland ausgeht, bedeutet ja gerade für Frankreich viel, weil es bisher ja wirklich ein eiserner Grundsatz in der europäischen Politik war, dass Deutschland und Frankreich in Grundfragen der Europapolitik nicht in verschiedenen Lagern sein dürfen. Die ganze europäische Einigung ist ja um das deutsch-französische Verhältnis herum aufgebaut und darum glaube ich schon, dass das deutsche Verhalten bei der Ratifizierung der Verfassung einen Einfluss haben kann auf die Beurteilung in Frankreich.

    Durak: Das werden wir dann einfach erleben, vorher hören und dann erleben. – Herr Verheugen, es wird bereits darüber gesprochen, dass es, weil wir ja dann auf Nizza zurückfallen würden, auf die alten Verträge, ein Nizza-Plus geben könnte. Was hieße das?

    Verheugen: Das sind völlig gegenstandslose Spekulationen. Es gibt eine völlig klare Linie innerhalb der Europäischen Union, dass es völlig falsch wäre, jetzt darüber zu sprechen was man machen könnte, wenn man etwas machen würde, wenn. Das wäre wiederum nur ein klares Signal an diejenigen, die Nein sagen wollen. Die europäische Linie heißt: wir brauchen diese Verfassung, wir wollen diese Verfassung, damit wir im 21. Jahrhundert die größer gewordenen Aufgaben Europas lösen können. Die ermutigen zum Ja und die ermutigen nicht zum Nein.

    Durak: Man muss doch aber auch über die schlimmsten Möglichkeiten nachdenken. - Letzte Frage dazu, Herr Verheugen. Sind Sie eigentlich froh, dass es in Deutschland kein Referendum gibt?

    Verheugen: Sie wissen vielleicht, dass ich mich sehr häufig zu diesem Thema geäußert habe und immer ein Befürworter des Volksentscheids gewesen bin. Ich bin im Prinzip auch immer noch dafür. Ich sehe aber mit großer Sorge, dass gerade bei europäischen Fragen die eigentliche Fragestellung sehr häufig überlagert wird von völlig anderen. Man wird ja wirklich nicht im Ernst behaupten können, dass die Debatte in Frankreich sich um die europäische Verfassung dreht, sondern die Debatte in Frankreich dreht sich um die französische Innenpolitik. Das ist eine manipulative Ausnutzung der Situation, die ich für sehr gefährlich halte. Dieses Risiko besteht bei Referenden und deshalb gehört bei Referenden eine große Verantwortungsbereitschaft aller derjenigen dazu, die sich an der Referendumsdebatte beteiligen.

    Durak: Gäbe es in Deutschland jetzt ein Nein?

    Verheugen: Ich habe Sie nicht verstanden!

    Durak: Gäbe es in Deutschland jetzt ein Nein in der Bevölkerung?

    Verheugen: Nein. Ich bin fest davon überzeugt, dass es das nicht gäbe. Ich weiß wohl, dass auch in Deutschland die Stimmung skeptischer geworden ist, aber ein Referendum würde ja dazu führen, dass eine sehr breite und sehr tiefe Debatte stattfindet. Es würde sich dann auch zeigen, dass die demokratischen Parteien in Deutschland ganz geschlossen und vorbehaltlos hinter der europäischen Idee stehen und das würde ja Wirkung haben.

    Durak: Der EU-Kommissar für Industrie und wirtschaftliche Entwicklung Günter Verheugen heute Morgen im Interview. Besten Dank Herr Verheugen für das Gespräch. Auf Wiederhören!