Freitag, 19. April 2024

Archiv

"Verklärte Nacht"
Pas de deux bei der Ruhrtriennale

Von Nicole Strecker | 17.08.2014
    Es mag ein Zeichen für künstlerische Unabhängigkeit sein, wenn eine eigentlich mal für ihre kühl-mathematischen, strukturverliebten Arbeiten bekannte Choreografin wie Anne Teresa de Keersmaeker sich ironie-befreit und ungeschützt ins ganz große Gefühl hineinwagt: in das herzzerreißende Emanzipations-Melodram einer Frau, die schwanger von einem anderen ist, nicht weiß, ob sie Gnade von ihrem aktuellen Geliebten erfährt und in tolstoi'scher Verzweiflung rast zwischen Selbstbehauptung und Abhängigkeit, Mutterschaft und erotischem Verlangen.
    Es wirkt wie ein Drama aus vorfeministischen Zeiten, das Anne Teresa De Keersmaeker da inszeniert, auch wenn sie ihre beiden waldwandernden Protagonisten in heutige Kleidung, in dunklen Anzug und zartrosa Blümchenkleid steckt. Noch bevor die Musik einsetzt, wirft sich die Frau dem Mann in die Arme, er fängt sie knapp über dem Boden auf, hält sie lange in der Pose der Stürzenden fest – und es ist seine Entscheidung, ob sie eine gefallene Frau oder eine Gerettete sein wird.
    Silbrig-nebelige Abenddämmerung in der Bochumer Jahrhunderthalle. Wie schon in früheren Produktionen für die Ruhrtriennale nutzt De Keersmaeker das natürliche Licht, das durch die Fenster der ehemaligen Industriehalle scheint, und so verwandelt sich die „verklärte" in eine langsam sich verdunkelnde Nacht – was auch als programmatisches Statement zu verstehen ist. Denn bei ihr wird es in dem gigantischen Raum trotz großartiger Momente von ekstatischem Tanz-Liebesglück kein eindeutiges Happy End, keine alles verzeihende Ideal-Liebe geben. Frau und Mann werden auseinander gehen – und es bleibt offen, was das für das Paar bedeutet.
    Ein provokantes Bewegungsbild
    So überraschend narrativ De Keersmaekers Ansatz zunächst wirkt – was wirklich zwischen den Liebenden geschieht, hält sie doch in der Schwebe. Immer wieder lüpft die großartige Tänzerin Samantha van Wissen den Rock, geht in die Hocke, die Beine leicht gespreizt, was den Blick auf ihren Schoß richtet, und ihr Arm streicht hingebungsvoll über den Boden vor ihr – ein provokantes Bewegungsbild, das ebenso von sexuellem Verlangen wie vom Augenblick einer Geburt erzählt, von der manchmal tragischen Verbindung von weiblichem Begehren und Gebähren.
    Um solche verborgenen Zusammenhänge geht es De Keersmaeker, und auch wenn das Innerlichkeits-Pathos gelegentlich ein bisschen heftig die Protagonisten durchschauert - die Choreografie ist faszinierend klug aufgebaut. Wie sie choreografische Leitmotive setzt, auf die dramatischen Bögen von Arnold Schönbergs Komposition reagiert und die Duo-Formationen immer wieder überraschend auflöst - das ist meisterhaft, und befragt in seiner perfekten Organisiertheit auch das klischierte Gestenvokabular von romantischen Pas de deux. So setzt sich letztlich eben doch wieder die De Keersmaeker-typische Ordnungsdisziplin durch – selbst in einer nächtlichen, schöntraurigen Lovestory.