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Verlag Das Neue Berlin 2002, 254 Seiten, Euro 17,50

Während sich Erich Honecker im Ruhestand mit autobiographischen Selbstbekenntnissen wohltuend zurückhielt - von den ziemlich unerträglichen und inzwischen auch nicht mehr lieferbaren "Moabiter Notizen" einmal abgesehen -, publiziert sein einstiger Auslandsaufklärungschef Markus Wolf seit der Pensionierung fast unablässig neue Bücher - fast scheint es, als hätte er sich vorgenommen, den literarischen Output seines Vaters Friedrich Wolf zu übertreffen. Nach der "Troika" ist "Freunde sterben nicht" das zweite Buch, in dem Wolf dezidiert Menschen portraitiert, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten - in sehr unterschiedlichen Zeiten und in sehr unterschiedlicher Beziehung. Sind dabei vom einstigen Chef der DDR-Spione selbstkritische Bekenntnisse zu erwarten oder Geschichtsklitterung? - Karl Wilhelm Fricke rezensiert.

Karl Wilhelm Fricke |
    Er schreibt und schreibt und schreibt. Seit seinem Buch Die Troika, erschienen 1989, legt Markus Wolf, der heute im 80. Lebensjahr stehende ehemalige Spionagechef der DDR-Staatssicherheit, schon sein sechstes Buch vor. Zweifellos eine beachtliche Leistung. Der jüngste Titel nun lässt Sentimentalität vermuten: Freunde sterben nicht. Die Lektüre bestätigt diese Vermutung. In neun biographisch-autobiographischen Skizzen, die jeweils die Vornamen von Genossen, Freunden oder Weggefährten Wolfs als Überschrift tragen, ruft er Erinnerungen wach, schildert er Begegnungen aus seinem bewegten Leben, gewährt er Einblicke in sein Denken, aber "mit beeindruckender Offenheit" – wie die Verlagswerbung verheißt – geschieht das keineswegs. Eher hält sich der Autor bedeckt. Vor allem blendet er die Kernfrage aus, warum er, ein Mann von Intellekt und Kultur, ohne Gewissenskonflikt 33 Jahre lang Vize-Chef der DDR-Staatssicherheit sein konnte, zumal unter einem Kretin wie Erich Mielke. Auch frühere Weggenossen, auf die er in seinem Buch eingeht, konnten sich das nie so recht erklären: Wolfgang Leonhard zum Beispiel war konsterniert, als er Wolf zum ersten Mal als Stasi-General in Uniform erblickte:

    (...) Plötzlich sah ich ihn in der Generalsuniform, eines Generals des Staatssicherheitsdienstes. Ich erinnere mich noch an den Schock, ich sah ihn gemeinsam mit Mielke im netten Plauderton stehen. Ich mache keine Gleichsetzung! Zwischen Markus Wolf und Erich Mielke liegen Welten – in der Intelligenz, in der Ausbildung, Bildung und Kultur. Aber sie waren beide in dem gleichen Unterdrückungsorgan an führender Stelle. Und es war für mich ein tiefer Schock, und ich habe mir immer wieder Gedanken gemacht, wie kann ein so gebildeter, nachdenklicher, kritischer Mensch in dieser Generalsuniform des Ministeriums für Staatssicherheit stehen?

    Die Kernfrage nach dem Warum - Wolf klammert sie aus. Wohl aber bekennt er sich auch in seinem jüngsten Buch zu seiner Vergangenheit wie schon damals auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November 89:

    ...Ich kann und will natürlich nicht verschweigen, dass ich 33 Jahre General im Ministerium für Staatssicherheit war, (laute Pfiffe) und ich bekenne mich zu meiner Verantwortung für diese Tätigkeit bis zu meinem Ausscheiden vor drei Jahren aus diesem Dienst. (Beifall, Pfiffe)

    Statt selbstkritischer Reflexion beharrt er trotzig auf seinem Standpunkt der Uneinsichtigkeit:

    Wir brauchen uns unserer Überzeugung und unseres Handelns nicht zu schämen.

    So führen ihm Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung, Verklärung und Larmoyanz die Feder – und Bitterkeit, etwa über Michail Gorbatschows "Verrat an der DDR" – wie Wolf schreibt – oder über seine Strafverfolgung durch die Justiz im vereinten Deutschland. Seine Untersuchungshaft im Gefängnis Karlsruhe, Dauer ganze elf (!) Tage, hat ihn bis heute traumatisiert. Generell verfremdet der Autor seine Darstellung und nennt entweder keine Namen oder beschränkt sich auf Vornamen, die sich freilich unschwer entschlüsseln lassen. "Sir William" zum Beispiel ist William Borm, der 1987 als hochangesehener FDP-Politiker starb. Drei Jahre später wurde ruchbar, dass er Wolf unter dem Decknamen "Olaf" jahrelang Interna aus dem Bonner Regierungslager zukommen und sich von ihm persönlich führen und beraten ließ: ein klassischer Einfluss-Agent. Psychologisch ein Rätsel insofern, als Borm einst Opfer stalinistischer Verfolgung war. Neun von zehn Jahren einer Freiheitsstrafe wegen Boykotthetze musste er in DDR-Gefängnissen verbüßen. Noch als Strafgefangener war Borm angeworben worden – nicht allerdings in Bautzen, wie Wolf fälschlich behauptet, Borm ist nie in Bautzen gewesen, sondern vermutlich in Cottbus, wo er die letzten Haftjahre zugebracht hat. Oder das Kapitel "Johanna". Gemeint ist der Sekretärin Johanna Olbrich, Deckname "Sonja Lüneburg", eine ehemalige Stasi-Spionin, die nach zwölfjährigem Einsatz in Bonn und Brüssel wegen Gefahr der Enttarnung in die DDR zurückgerufen wurde. Noch heute schwärmt Wolf von seiner "Kundschafterin" und ihren Erfolgen. Zeitweilig arbeitete sie übrigens im Sekretariat Borm, ohne dass beide als IM voneinander wussten. Wie nützlich aber waren sie? Wolf zieht folgende Bilanz:

    Beide Quellen leisteten einen wichtigen Beitrag zum Wissen unserer Regierung über die Vorschläge zu dem gerade zur Verhandlung stehenden neuen Transitabkommen oder zu dem nur mit beträchtlichen Schwierigkeiten auszuhandelnden Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR.

    Nicht immer erinnert Wolf wohlwollend an alte Gefährten. Im Kapitel "Helmut" reflektiert er über sich und seine Schulfreunde Helmut Gennys und Wolfgang Leonhard, Kinder deutscher Emigranten, die er ebenfalls nur mit Vornamen vorstellt. Mit ihnen besuchte er von 1934 bis 1937 gemeinsam die Karl-Liebknecht-Schule in Moskau, mit Leonhard später auch die Schulungsstätte der Kommunistischen Internationale in Kuschnarenkowo bei Ufa. In seinem Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" hat Leonhard vor Jahrzehnten schon darüber berichtet. Doch eben dies verzeiht Wolf ihm bis heute nicht.

    Noch vor Gründung der DDR verließ Wolfgang 1949 unsere gemeinsame Vergangenheit und veröffentlichte im Westen ein Buch über sein Leben in der Sowjetunion, das bis heute eine Art Kultstatus genießt. (...) Das Buch wurde immerhin im Kalten Krieg für den Kalten Krieg geschrieben. (...) Er hat das Buch jedoch nicht zurückgenommen und sich bei den darin verleumdeten Gefährten einer komplizierten Zeit nicht entschuldigt.

    Ausgerechnet der ehemalige Spionagechef und Mielke-Stellvertreter verlangt von dem Dissidenten eine Entschuldigung? Das ist allerdings apart. Umgekehrt räumt Markus Wolf ein, dass es "die in der Auseinandersetzung mit dem 'Klassenfeind’ für notwendig gehaltene Disziplin" gewesen sei, die ihn trotz kritischer Einsicht in die Misere des Regimes einst von dem offenen Konflikt mit der politischen Führung abgehalten habe. So verdrängt er alle daraus erwachsenden Schuldgefühle – und demonstriert in seinem Buch genau jene Einseitigkeit, die ihm auch Wolfgang Leonhard heute vorhält:

    Problematisch ist aber die Einseitigkeit – es ist das, was fehlt. Es ist kein Wort (...) vom diktatorischen System, von der Unterdrückung der Menschenrechte, der demokratischen Freiheiten in den kommunistisch regierten Ländern, von den entsetzlichen Verfolgungen - auch und gerade von Kommunisten -, von den Menschen, die in Zuchthäusern der DDR, in den Lagern Stalins, jahrelang eingesperrt waren und häufig dort starben. Kein Wort vom bürokratisch-diktatorischen Aufbau der kommunistischen Parteien, vom widerwärtigen Führerkult, von manchen (...) Aggressionen und Unterdrückung anderer Völker. All das wird ausgeblendet – allerhöchstens in einem Nebensatz verschlüsselt ein bisschen angedeutet. Es ist eine Ausblendung der Wirklichkeit.

    Trotzdem: Schlecht ist das Buch nicht geschrieben, es liest sich leicht, reicht aber nicht hinaus über die Grenzen politischer Trivial-Literatur.

    Karl Wilhelm Fricke über Markus Wolf: Freunde sterben nicht. Autobiographische Geschichten. Erschienen ist das Buch im Verlag Das Neue Berlin, es umfasst 254 Seiten und kostet 17 Euro und 50 Cent.