(...) Plötzlich sah ich ihn in der Generalsuniform, eines Generals des Staatssicherheitsdienstes. Ich erinnere mich noch an den Schock, ich sah ihn gemeinsam mit Mielke im netten Plauderton stehen. Ich mache keine Gleichsetzung! Zwischen Markus Wolf und Erich Mielke liegen Welten – in der Intelligenz, in der Ausbildung, Bildung und Kultur. Aber sie waren beide in dem gleichen Unterdrückungsorgan an führender Stelle. Und es war für mich ein tiefer Schock, und ich habe mir immer wieder Gedanken gemacht, wie kann ein so gebildeter, nachdenklicher, kritischer Mensch in dieser Generalsuniform des Ministeriums für Staatssicherheit stehen?
Die Kernfrage nach dem Warum - Wolf klammert sie aus. Wohl aber bekennt er sich auch in seinem jüngsten Buch zu seiner Vergangenheit wie schon damals auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November 89:
...Ich kann und will natürlich nicht verschweigen, dass ich 33 Jahre General im Ministerium für Staatssicherheit war, (laute Pfiffe) und ich bekenne mich zu meiner Verantwortung für diese Tätigkeit bis zu meinem Ausscheiden vor drei Jahren aus diesem Dienst. (Beifall, Pfiffe)
Statt selbstkritischer Reflexion beharrt er trotzig auf seinem Standpunkt der Uneinsichtigkeit:
Wir brauchen uns unserer Überzeugung und unseres Handelns nicht zu schämen.
So führen ihm Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung, Verklärung und Larmoyanz die Feder – und Bitterkeit, etwa über Michail Gorbatschows "Verrat an der DDR" – wie Wolf schreibt – oder über seine Strafverfolgung durch die Justiz im vereinten Deutschland. Seine Untersuchungshaft im Gefängnis Karlsruhe, Dauer ganze elf (!) Tage, hat ihn bis heute traumatisiert. Generell verfremdet der Autor seine Darstellung und nennt entweder keine Namen oder beschränkt sich auf Vornamen, die sich freilich unschwer entschlüsseln lassen. "Sir William" zum Beispiel ist William Borm, der 1987 als hochangesehener FDP-Politiker starb. Drei Jahre später wurde ruchbar, dass er Wolf unter dem Decknamen "Olaf" jahrelang Interna aus dem Bonner Regierungslager zukommen und sich von ihm persönlich führen und beraten ließ: ein klassischer Einfluss-Agent. Psychologisch ein Rätsel insofern, als Borm einst Opfer stalinistischer Verfolgung war. Neun von zehn Jahren einer Freiheitsstrafe wegen Boykotthetze musste er in DDR-Gefängnissen verbüßen. Noch als Strafgefangener war Borm angeworben worden – nicht allerdings in Bautzen, wie Wolf fälschlich behauptet, Borm ist nie in Bautzen gewesen, sondern vermutlich in Cottbus, wo er die letzten Haftjahre zugebracht hat. Oder das Kapitel "Johanna". Gemeint ist der Sekretärin Johanna Olbrich, Deckname "Sonja Lüneburg", eine ehemalige Stasi-Spionin, die nach zwölfjährigem Einsatz in Bonn und Brüssel wegen Gefahr der Enttarnung in die DDR zurückgerufen wurde. Noch heute schwärmt Wolf von seiner "Kundschafterin" und ihren Erfolgen. Zeitweilig arbeitete sie übrigens im Sekretariat Borm, ohne dass beide als IM voneinander wussten. Wie nützlich aber waren sie? Wolf zieht folgende Bilanz:
Beide Quellen leisteten einen wichtigen Beitrag zum Wissen unserer Regierung über die Vorschläge zu dem gerade zur Verhandlung stehenden neuen Transitabkommen oder zu dem nur mit beträchtlichen Schwierigkeiten auszuhandelnden Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR.
Nicht immer erinnert Wolf wohlwollend an alte Gefährten. Im Kapitel "Helmut" reflektiert er über sich und seine Schulfreunde Helmut Gennys und Wolfgang Leonhard, Kinder deutscher Emigranten, die er ebenfalls nur mit Vornamen vorstellt. Mit ihnen besuchte er von 1934 bis 1937 gemeinsam die Karl-Liebknecht-Schule in Moskau, mit Leonhard später auch die Schulungsstätte der Kommunistischen Internationale in Kuschnarenkowo bei Ufa. In seinem Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" hat Leonhard vor Jahrzehnten schon darüber berichtet. Doch eben dies verzeiht Wolf ihm bis heute nicht.
Noch vor Gründung der DDR verließ Wolfgang 1949 unsere gemeinsame Vergangenheit und veröffentlichte im Westen ein Buch über sein Leben in der Sowjetunion, das bis heute eine Art Kultstatus genießt. (...) Das Buch wurde immerhin im Kalten Krieg für den Kalten Krieg geschrieben. (...) Er hat das Buch jedoch nicht zurückgenommen und sich bei den darin verleumdeten Gefährten einer komplizierten Zeit nicht entschuldigt.
Ausgerechnet der ehemalige Spionagechef und Mielke-Stellvertreter verlangt von dem Dissidenten eine Entschuldigung? Das ist allerdings apart. Umgekehrt räumt Markus Wolf ein, dass es "die in der Auseinandersetzung mit dem 'Klassenfeind’ für notwendig gehaltene Disziplin" gewesen sei, die ihn trotz kritischer Einsicht in die Misere des Regimes einst von dem offenen Konflikt mit der politischen Führung abgehalten habe. So verdrängt er alle daraus erwachsenden Schuldgefühle – und demonstriert in seinem Buch genau jene Einseitigkeit, die ihm auch Wolfgang Leonhard heute vorhält:
Problematisch ist aber die Einseitigkeit – es ist das, was fehlt. Es ist kein Wort (...) vom diktatorischen System, von der Unterdrückung der Menschenrechte, der demokratischen Freiheiten in den kommunistisch regierten Ländern, von den entsetzlichen Verfolgungen - auch und gerade von Kommunisten -, von den Menschen, die in Zuchthäusern der DDR, in den Lagern Stalins, jahrelang eingesperrt waren und häufig dort starben. Kein Wort vom bürokratisch-diktatorischen Aufbau der kommunistischen Parteien, vom widerwärtigen Führerkult, von manchen (...) Aggressionen und Unterdrückung anderer Völker. All das wird ausgeblendet – allerhöchstens in einem Nebensatz verschlüsselt ein bisschen angedeutet. Es ist eine Ausblendung der Wirklichkeit.
Trotzdem: Schlecht ist das Buch nicht geschrieben, es liest sich leicht, reicht aber nicht hinaus über die Grenzen politischer Trivial-Literatur.
Karl Wilhelm Fricke über Markus Wolf: Freunde sterben nicht. Autobiographische Geschichten. Erschienen ist das Buch im Verlag Das Neue Berlin, es umfasst 254 Seiten und kostet 17 Euro und 50 Cent.