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Verlangsamung als Kulturfortschritt in Zeiten der Beschleunigung

Der Schiedsrichter Herbert Fandel fordert die Abschaffung der Zeitlupe in der Fußballberichterstattung. Dabei führt die verlangsamte Zeit doch oft zu beschleunigten Disputen - und davon lebt das gemeinsame Fußballgucken schließlich.

Von Arno Orzessek | 02.08.2010
    So viel vorab:

    Wenn man Herbert Fandels Forderung, die Zeitlupe abzuschaffen, frühzeitig in der modernen Kunst verwirklicht hätte, wäre uns viel Langeweile erspart geblieben.

    Denn, bitte schön: Andy Warhols Experimental-Film Empire, in dem sechseinhalb Stunden ereignislose Echtzeit mit dem Empire State Building im Mittelpunkt auf mehr als acht Stunden Spielzeit zerdehnt werden, zerrt mächtig an den Nerven dessen, der bis zur fehlenden Schlusspointe durchhalten will.

    Und Douglas Gordons 5 year drive-by, in dem der John-Ford-Klassiker Searchers entsprechend der erzählten Zeitspanne auf volle fünf Jahre gestreckt wird, kann ein Mensch schlechterdings niemals ganz verkonsumieren.

    Die Zeitlupe ist eine technisch-visuelle Utopie. Sie zeigt die Welt, wie Menschen sie – jedenfalls ohne Einwirkung halluzinogener Drogen – mit dem biologischen Auge allein nicht wahrnehmen können. Das tut zwar, genau genommen, auch jede andere künstliche Abbildung, angefangen mit dem stets spiegelverkehrten Spiegelbild – aber die Zeitlupe, wie umgekehrt der Zeitraffer, erzeugt nicht den Realitätsanschein, der Filmen in Normalgeschwindigkeit eigen ist.

    Der Optimist Warhol glaubte deshalb, mit Empire das Wesen der Zeit selbst offenbaren zu können – was vielleicht nicht falsch ist, wenn man nur Meditationswillen und Sitzfleisch mitbringt.

    Im populären Spielfilm indessen verdichten Zeitlupen stets Momente gehobener Bedeutung – oder erzeugen sie überhaupt erst. Typische Zeitlupenszenen sind der erste Kuss, generell das Liebesspiel und die Katastrophe – man denke an das Auto, das in und mit Thelma & Louise in den Abgrund fliegt; an Graf Dracula, der in Nosferatu zum ersten Biss Jonathan Harkers in Zeitlupe naht; an den Jungen, der in Spiel mir das Lied vom Tod in den Staub stürzt, weshalb der Vater auf seinen Schultern den Galgentod sterben muss.

    Weil die Zeitlupe einer Unterstreichung gleich stets etwas hervorhebt, kann sie nichts Banales zeigen – sie kann höchstens, siehe Warhol, siehe Douglas, die Bedeutung selbst durch Überdehnung dem Risiko der Banalisierung aussetzen.

    Nicht von ungefähr sprach Hans-Magnus Enzensberger von "Apokalypse in Zeitlupe". Weil die Apokalypse zumal der Umwelt sich insgesamt – wenn auch nicht in Bezug auf Einzelereignisse – dem regulären Alltagstempo entzieht, unterliegt sie oft der banalisierenden Wahrnehmung. Wogegen der hysterische Diskurs gleichsam als Zeitraffer das Ende schon ganz nahe sieht: Apokalypse now.

    Wenn man die Beschleunigung als Hintergrundmetapher des Zeitalters akzeptiert, ist die Wirkung der Zeitlupe, wie etwa ein Douglas Gordon sie einsetzt, als vorübergehendes Antippen der Bremse zu verstehen - um die Zeit unter die Lupe zu nehmen.

    Ob Heribert Fandel das mitbedacht hat, als er die Abschaffung der Zeitlupe im Fußballfernsehen forderte, sei dahingestellt. Ohnehin gilt im Ballsport, dass Zeitlupen zwar die Bilder verlangsamen, tatsächlich aber regelmäßig zur blitzartigen Beschleunigung der Diskurse führen. Man glaubt ja nur allzu gern, dank der Zeitlupe einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben.