Lange: Pater Hengsbach, wie definieren Sie soziale Gerechtigkeit?
Hengsbach: Jedenfalls kann man nicht einfach sagen, dass gleiche Einkommen ein hohes Höchstmass an Gerechtigkeit verwirklicht. Das hat es ja in verschiedenen Gesellschaftssystemen gegeben. Ich denke, Gerechtigkeit heisst alles andere als Gleichmacherei. Gerechtigkeit lässt Differenzierung zu, aber diese Differenzierung im Einkommen soll dem Schwächeren in der Gesellschaft nützen. Das - denke ich - ist eine Formel der Gerechtigkeit, wie sie von modernen Sozialphilosophen formuliert worden ist. Gleiche Rechte für alle - aber unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Positionen, die aber den Schwächeren in der Gesellschaft helfen sollen.
Lange: Und wenn Sie sich nun die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung ansehen und das, was sie vorhat: Hat der saarländische Ministerpräsident Klimmt recht mit dem Vorwurf, dass hier die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke zu bleiben droht?
Hengsbach: Ja und nein. Auf der einen Seite muss man ja sagen: Die steuerliche Entlastung der mittleren und auch unteren Einkommen bedeutet sicher eine soziale Korrektur im Verhältnis zu den früheren Jahren, dass also die Leistung und die Arbeitsleistung der Familien anerkannt wird. Also die stärkere Unterstützung der Familien ist sicher auch ein positives Zeichen der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Die eigenständige soziale Sicherung von Frauen - ganz unabhängig davon, ob sie erwerbstätig gewesen sind oder nicht, ob sie verheiratet gewesen sind oder nicht - ist auch sicher ein solches positives Zeichen. Dass also die Alterssicherung nicht unter das Sozialhilfeniveau absinken soll, also Elemente der Grundsicherung im Rentensystem, hat sicher auch etwas zu tun mit sozialer Korrektur der Schieflage der Einkommensentwicklung der vergangenen Jahre. Das ist das eine. Auf der anderen Seite: Ich habe nicht den Eindruck, als würde die Dreiteilung der Gesellschaft - also die Wohlhabenden, dann das Mittelfeld und der untere Rang - wesentlich aufgehoben. Also die Kürzungen liegen ja doch auch weiterhin bei den Arbeitslosen, bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Rentnern. Und da sehe ich also auch das Problem, warum jetzt gerade Rentner zum Beispiel den Familienlastenausgleich finanzieren sollen und warum die Rentner an der allgemeinen Einkommensentwicklung nicht Anteil haben sollen.
Lange: Wäre der Gerechtigkeit Genüge getan, wenn es jetzt eine neue Vermögenssteuer gäbe?
Hengsbach: Ich finde schon, dass das Steuersystem in den vergangenen letzten 25 Jahren die alten Grundsätze einer gerechten Besteuerung verletzt hat. Also, das heisst: Alle Einkommen werden gleichmässig zur Finanzierung der Sozialleistungen herangezogen, nicht nur die Einkommen der abhängig Beschäftigten, also auch die Vermögenseinkommen, die Kapitaleinkommen, die Einkommen aus Vermietung und Verpachtung. Das ist bisher nicht geschehen. Die selbständigen Haushalte und die Unternehmenshaushalte sind steuerlich begünstigt worden, während die abhängig Beschäftigten steuerlich sehr stark belastet worden sind. Das ist das eine. Also, alle Einkommen müssen herangezogen werden. Das zweite ist: Besteuert werden muss nach der Leistungsfähigkeit, dass der Manager bei Volkswagen oder Mercedes-Benz mehr leisten muss für die öffentlichen Ausgaben als der Maschinenschlosser. Und auch da ist eben in der Vergangenheit sehr viel verletzt worden, und ich denke, eine gerechte Besteuerung würde diese beiden Grundsätze stärker berücksichtigen, auch noch stärker, als das in der jetzigen Steuerreform der Fall ist.
Lange: Viele Bezieher mittlerer Einkommen verdienen zu wenig, um ihre Steuer durch solche Abschreibungen oder ähnliches zu verkürzen. Andererseits verdienen sie aber zu viel, um von staatlichen Transferleistungen zu profitieren. Ist das auch eine Verletzung sozialer Gerechtigkeit?
Hengsbach: Ja, zweifellos. Die legalen Möglichkeiten, Steuern zu sparen, liegen bei denen, die ihre Einkommenserklärung machen können, natürlich viel günstiger als bei denen, die abhängig beschäftigt sind. Klar, das ist eindeutig und entspricht nicht diesem Grundsatz, dass alle Einkommen gleichmässig für die öffentlichen Aufgaben herangezogen werden müssen.
Lange: Aber genau hier setzt doch auch ein Wandel in den politischen Einstellungen ein, was die Sozialpolitik angeht, dass genau diese Mitte der Gesellschaft - neue oder alte Mitte, das sei jetzt mal dahingestellt - dass die jedoch immer weniger bereit ist, diese Lasten zu tragen.
Hengsbach: Die Bereitschaft hängt davon ab, ob der Betrag, den ich leisten soll, fair ist im Verhältnis zu den Beiträgen, die andere leisten müssen. Natürlich werde ich immer über mir Leute finden, die besser wegkommen als ich. Aber auf der anderen Seite gibt es natürlich unter mir auch noch Leute, die noch stärker belastet sind. Also, diese subjektive Einschätzung, dass ich - ich persönlich eben - unfair behandelt werde, die wird es immer geben. Auf der anderen Seite gibt es auch objektive Kriterien. Man kann ja sehen in der Einkommensverteilung, dass also die Gewinneinkommen in den vergangenen sechs Jahren um netto 44 Prozent gestiegen sind, und die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung netto um 3 Prozent. Oder ich kann sehen, dass der hohen Staatsverschuldung auf der einen Seite eine ungeheure Anhäufung der privaten Geldvermögen gegenübersteht, dass also 30 Prozent des Geldvermögens 1996 auf drei Prozent der privaten Haushalte konzentriert waren. Also, diese sich öffnende Schere in der Verteilung der Einkommen und Vermögen legt natürlich den Verdacht nahe, dass der Staat ganz ungleich und auch unfair bei den einzelnen Einkommen der oberen und unteren Schichten zugreift, um die öffentlichen Aufgaben zu finanzieren. Das sind objektive Tatbestände, die müssten auch korrigiert werden.
Lange: Dies ist - Sie haben es selbst angesprochen - immer noch ein sehr reiches Land, trotz aller vorhandenen sozialen Probleme, aber eben gleichzeitig mit finanziell ausgebluteten öffentlichen Institutionen. Ganz passt das immer noch nicht zusammen.
Hengsbach: Das ist auch das, was mich eigentlich innerlich aufregt. Wir sind noch nie so reich gewesen wie jetzt. Jährlich wächst das Bruttosozialprodukt, also wächst das gesamte Volkseinkommen, auch die verfügbaren Güter und Dienste. Insofern: Wer zum Sparen aufruft, der kann nur damit meinen: Es muss umverteilt werden. Also, der gesamte wachsende Wohlstand muss anders verteilt werden als bisher. Das wird seit Jahren propagiert. Es sollen bestimmte Überzeugungsgruppen den Gürtel enger schnallen und andere können umso höher ihre Einkommen in Anspruch nehmen. Das passt doch nicht und stimmt auch nicht. Insofern ist das eine grosse Lüge, dass wir über unsere Verhältnisse leben, dass wir sparen müssen. Es geht immer darum, dass umverteilt wird. Und auch die jetzige Haushaltskonsolidierung von Bundesfinanzminister Eichel ist ein Prozess der Umverteilung - einerseits zugunsten der mittleren Einkommensschichten, das ist zugegeben und lässt sich auch gar nicht bestreiten. Aber auf der anderen Seite bei dieser Gratwanderung zwischen sozialer Gerechtigkeit und der Bedienung von Unternehmerinteressen kommt es natürlich auch vor, dass bestimmte Gruppen zum Sparen gezwungen werden, also die Rentnerinnen und Rentner, und andere weiterhin entlastet bleiben.
Lange: Gibt es denn angesichts dieser internationalen Kapitalverflechtung und angesichts all dieser Entwicklungen, die jetzt unter dem Stichwort ‚Globalisierung' firmieren, gibt es da überhaupt noch die Chance für eine soziale Gerechtigkeit, wie die Sozialdemokraten das verstehen?
Hengsbach: Ich halte die Debatte über die Globalisierung als eine Fortsetzung der alten Standortdiskussionen, die sich nachher immer auch als Legenden erwiesen haben. Natürlich gibt es internationale Finanzmärkte, die Druck ausüben. Andererseits ist der Nationalstaat nicht so ohnmächtig, wie er tut. Der Internationale Währungsfond, der ganz massiv auch in die Souveränität der einzelnen Staaten eingreift, ist eine Agentur der Nationalstaaten, und zwar der reichen Nationalstaaten. Die Bundesrepublik ist nicht die Republik Tschad, insofern hat sie viel mehr Möglichkeiten, auch international Einfluss zu nehmen. Und das tut sie ja auch, sie übt ja auch Druck aus auf andere Länder, als das in der öffentlichen Diskussion so herunterkommt. Also die Möglichkeiten, auch Sozialpolitik zu betreiben, sind durchaus da, denn interessanterweise sind ja gerade die Länder international am meisten wettbewerbsfähig, die über ausgedehnte soziale Sicherungssysteme verfügen. Und dazu gehört die Bundesrepublik, bisher jedenfalls. Der Sozialstaat ist also ein Produktivitätsfaktor für die Wirtschaft, und nicht ein ‚Klotz am Bein' der deutschen Wirtschaft.
Lange: In diesem Streit zwischen den Befürwortern und Gegnern des Schröder-Blair-Papiers gehören Sie also - Schluss endlich - mehr zu den Gegnern dieses Papiers?
Hengsbach: Also, ich weiss nicht, welche Rolle dieses Papier spielen soll. Sollte es den Europawahlkampf anheizen, dann war es nicht sehr erfolgreich für die Sozialdemokraten, jedenfalls in England und Deutschland nicht. Soll es eine Programmdiskussion in der SPD in Deutschland in Gang setzen, dann muss man das beurteilen, wie zum Beispiel die Diskussionspapiere, die die Kirchen in Österreich und in Deutschland in die Öffentlichkeit hineingebracht haben: Die wurden natürlich zerrissen, anschliessend gab es ein völlig anderes - in Deutschland - gemeinsames Wort der beiden Kirchen und in Österreich ein gemeinsames Papier - auch der Bischofskonferenz. Also, das ist die Rolle dieser Diskussionspapiere: Sie heizen an und werden zerrissen und kommen nachher zu ganz brauchbaren programmatischen Erklärungen. Das wäre die zweite Rolle. Und die dritte Rolle: Da habe ich den Eindruck, dass dieses Schröder-Blair-Papier - vor allen Dingen von Schröder her gedacht - den Unternehmern zeigen soll, dass auch die Sozialdemokraten in der Lage sind, den Unternehmern Gewinne zu ermöglichen. Und ich denke, da hat der Bundeskanzler sicher eine Rolle auch zu spielen, weil die Unternehmer - wie ich das sehe - und auch die Wirtschaftsverbände, also die Unternehmerverbände, Arbeitgeberverbände, von dem Regierungswechsel nach rot-grün hin einigermassen geschockt sind. Und die tun natürlich auch alles, um massiven Druck auszuüben, und so lange sie merken, dass diese Regierung erpressbar ist, werden sie diesen Druck verstärken. Ich kann mir denken, dass das Schröder-Blair-Papier jetzt eine Antwort ist: ‚Leute, dreht doch nicht durch, auch unter sozialdemokratischer oder unter rot-grüner Regierung können Unternehmer leben und sie können auch profitorientiert leben'. Ob das jetzt eine sinnvolle und auf die Dauer auch erfolgreiche Strategie ist, dermassen eine wirtschaftsfreundliche Politik in einem solchen Papier anzubieten, das wage ich zu bestreiten, denn die Intervention von VW-Chef Pierch gegen die Alt-Auto-Verordnungs-Richtlinie der EG hat ja gezeigt, dass - wer anfängt, sich so gleichsam erpressbar zu machen, dass der am Ende in einen Strudel hineingerät, wo also keine Politik mehr gemacht werden kann, sondern wo man einfach nur sagt: ‚Wir müssen uns anpassen, wir müssen flexibel sein, wir müssen neu werden, wir müssen dicker werden', . . .
Lange: . . . Pater Hengsbach, wir müssen leider mit unserem Gespräch zum Ende kommen. Vielen Dank für dieses Gespräch. Das war Pater Friedhelm Hengsbach, der Professor für christliche Gesellschaftsethik an der Hochschule Sankt Georgen. Vielen Dank für das Gespräch.