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Verloren ist die Kindheit

Es ist ein unverkennbar autobiografisches Buch: Wie Boštjan, der Held des Romans, verlor auch Florjan Lipuš im Alter von sechs Jahren, 1943, seine Mutter. Sie wurde im KZ Ravensbrück umgebracht.

Von Jörg Plath | 10.12.2012
    Eine Kindheit in den Alpen ist, sieht man von Heidi einmal ab, offenbar ganz und gar nicht empfehlenswert. Jedenfalls sprechen die österreichische, die Schweizer und auch die slowenische Literatur etwa eines Florjan Lipuš durchweg von einer unheilvollen Kombination. Lipuš' Roman heißt zwar "Boštjans Flug", aber bevor Boštjan in den Kärntner Karawanken fliegen kann, geschieht ungeheuer Grausames: Zwei Gendarmen führen die Mutter ab, die als Partisanen verkleideten Gestapo-Männern Brot gab. In der einsam gelegenen Berghütte bleiben Boštjan, sein Bruder und die krank im Bett liegende Großmutter ihrem Schicksal überlassen, der Vater dient irgendwo in Europa als Soldat. Die Großmutter stirbt in einer der nächsten Nächte, und Boštjan ringt allein mit dem gewaltigen Netz, in das, wie er glaubt, die Gendarmen das Haus eingesponnen haben.

    "Erst am Tag danach wuchs sich das unheimliche Gespinst wirklich aus, trugen die Nachstellungen der Gendarmen Früchte, erst am Tag danach ereilte ihn der Schmerz: Verloren und verwirrt lief Boštjan um das leere Haus, ahmte das Wickeln des Gendarmen in der Gegenrichtung nach, um auf diese Weise das Getane umzudrehen und rückgängig zu machen, das heimtückische Geflecht aufzuknüpfen und loszuwinden, das Netz von den Wänden zu kratzen, damit das Haus unversehrt und frei bleibt, um vorzubeugen, dass wenigstens das Haus nicht gleich zusammenfällt und die Mutter wohin zurückkehren kann, sobald sie ihren Gang im Markt verrichtet hat, kurz, um die Pläne der Gendarmen zu durchkreuzen und das von ihnen über sie gebrachte Unglück zu widerrufen. Mit doppelt so großem Eifer wie der Gendarm spulte er zurück, mit verdoppelter, atemberaubender Schnelligkeit, doppelter Entzauberung, und doch spulte er nichts auf, durchkreuzte und entzauberte er nichts, das alles nicht, aber er hatte das Gefühl, dass sich das Haus fester an ihn klammerte und dass es noch Lichtreflexe in ihm gab, an die Wand gehauchte, die ihn banden."

    Die magische Handlung, von Lipuš in einer Litanei der Wiederholungen und plötzlichen Aktualisierungen im Präsens nachgebildet, erlaubt dem Überwältigten, etwas zu tun. Boštjan geht mit dem Haus ein Bündnis ein. Auch als er und sein Bruder schon mit dem aus dem Krieg zurückgekehrten Vater unten im Tal wohnen, sucht er es immer wieder auf. Das Haus ist der Unterpfand für die Rückkehr der Mutter.

    Die Gendarmen rauben Boštjan die Mutter und die Würde, die Persönlichkeit, den Namen. Er fällt ins Leere und wird zum - wie es unvermittelt heißt - "Objekt und Pronomen". Der wortkarge Vater, ein Holzfäller, ruft ihn nie beim Namen, er züchtigt und treibt zur Arbeit. Im Tal herrscht Notdurft in jeder Hinsicht. Verloren ist die Kindheit.

    "Hier war er stundenlang gesessen und hatte die Bilder betrachtet, die sich zwischen den Bäumen am Himmel formten ( ... ). Er hatte dem Wind gelauscht, der sich in den Bergkronen verfing, und dem Sprudeln des Baches in der Schlucht, hatte sich selbst zugesehen, wie er da auf dem kleinen Plateau sitzt und sich umsieht, wie er erstarrt, wenn die Felsen scharlachrot zu strahlen beginnen. Viel hält ihn hier fest, an diesem Ort der Naivität und Unschuld, der Wunder und des Trostes, der frühen Spiele und des Vergnügens, der Gespenster und der Kinderstreiche, diesem Ort der Begeisterung und der Geistesblitze."

    Das grausame Kindheits- und Jugendexil ist ein altes Sujet. Der 1937 geborene Kärntner Slowene Florjan Lipuš erzählt es neu, indem er es nicht nur tief einsenkt in den harten Alltag des wortkargen Vaters und der anderen von den Österreichern drangsalierten Slowenen. Vor allem lässt er Boštjan in beeindruckenden Szenen einer Natur gegenübertreten, die unaufhörlich drängt und schiebt. Sie sorgt dafür, dass die Menschen ihre hoch gelegenen Häuser verlassen, sie überwindet die Zäune, besiedelt mit Büschen und Bäumen die Obstwiesen und umstellt die herrenlosen Hütten. Die mächtige Außenwelt erdrückt die innere.

    Boštjan hängt keinen Erinnerungen an die Mutter nach, seine Sehnsucht wird von Lipuš gar an die Tür des Talhauses delegiert: Sie öffnet sich immer wieder, so fest sie der Junge auch verschließt, und bleibt erst zu, als er weiß, dass die Mutter tot ist.

    Diese psychologische Entkernung verwundert jedoch zuweilen. Merkwürdig nimmt sich die ungewöhnliche Bezeichnung von Boštjan als "Objekt und Pronomen" aus, zumal es beinahe die einzigen Fremdwörter in der rhythmischen, passend angerauten Übersetzung von Johann Strutz sind. Erstaunlich sind auch die Tiraden gegen das Schweigen der Slowenen, gegen ihr ängstliches Ducken bei Diskriminierungen durch Österreicher und gegen die katholische Kirche.

    "Die Dogmen und Dramen der Feiertage ergänzen die Dauben und Schrauben der Werktage. Hierher geht man, um sich das Paradies zu sichern, nicht um sich zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten für die Misshandlungen von Frauen und Kindern, sondern um sich zu rechtfertigen für die Niedertracht, um sich zu ermutigen für neue Rabiatheiten, hierher geht man, um Pech und Missgeschick abzuwenden, nicht von den Menschen, sondern von Vieh und Gebäuden, hier beten die Fanatikerinnen, mit geschlossenen, zusammengepressten Augen, verbissen, mit verzerrtem Ausdruck, um mehr zu erzwingen, die besten Stücke herauszuschlagen, und was sie herausschlagen, das bringen sie wieder ins Beten ein, es ist ein Fass ohne Boden, im Gegensatz zu den Männern, denen dabei kein Zahn locker wird."

    Tiraden wie diese übersteigen den Erfahrungs- und Reflexionshorizont des Heranwachsenden. Ihn scheint der Erzähler stellenweise zu vergessen. Dazu kommen Passagen, die von der Sprache angetrieben werden, Passagen, in denen ein Epitheton seine Negation fordert und erhält und kaskadenhaft weitere Worte nach sich zieht. Diese sich aus dem Hauptstrang des Romans lösenden Elemente überführen, so könnte ein geneigter Leser sagen, das grausame Einzelschicksal Boštjans in das kollektive der Slowenen, ebenso die Verhaftung und Ermordung der Mutter im deutschen KZ in das Leiden ihres Volkes an sich selbst, an Österreich, an der Kirche.

    Der weniger geneigte Leser zweifelt, ob diese Vermittlung des Individuellen mit dem Kollektiven glückt, ist aber nichtsdestotrotz fasziniert. Denn die heterogenen Elemente des Romans sind durchweg beeindruckend. "Boštjans Flug" versammelt Florjan Lipuš' Lebensthemen, wie ein Blick in die achtbändige Werkausgabe zeigt, die der Wieser Verlag vor Jahren vorlegte. Sie enthält auch den Roman "Boštjans Flug", der als Einzelveröffentlichung in der Bibliothek Suhrkamp und mit Hilfe von Peter Handkes begeistertem Nachwort helfen könnte, den Kärntner Slowenen endlich bekannter zu machen.

    Wie in Lipuš' Romanen und Erzählungen "Der Zögling Tjaž", "Beseitigung meines Dorfes" oder "Die Verweigerung der Wehmut" gibt es auch in "Boštjans Flug" Hoffnung. Lipuš tupft sie sparsam, aber dauerhaft leuchtend in den Roman. Ein Mädchen ist es, mit dem Boštjans Elend ein Ende hätte. Er ist Lina das erste Mal am Haus oben begegnet, ein zweites Mal trifft er sie unverhofft auf einem Bergsteig, und sie besuchen gemeinsam das verlassene, langsam verfallende Haus. Noch einmal müsste er Lina wieder begegnen, und das gelingt am Ende auch: Boštjan fliegt.

    Florjan Lipuš: "Boštjans Flug". Roman. Aus dem Slowenischen von Johann Strutz.
    Nachwort von Peter Handke. Mit Abbildungen. Suhrkamp Verlag. Berlin 2012. 167 Seiten, 19,95
    Der Schriftsteller Florijan Lipus
    Der Schriftsteller Florjan Lipus. (Marko Lipus)