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Verlorene Jugend

Kinderarbeit ist weltweit üblich. Kinder arbeiten in der Dominikanischen Republik als Prostituierte, produzieren in Kairoer Fabriken billige Waren für den Bazar, arbeiten in Asien, Afrika und Südamerika als Straßenhändler, Bettler, Hausmädchen, in der Landwirtschaft, in Gerbereien, Ziegeleien und in der Teppichindustrie, verdingen sich als Soldaten, Diebe oder gemietete Killer. Die Arbeitsbedingungen gleichen häufig der der Sklaverei. Denn, Kinder sind billig, leicht zu führen und haben keine Lobby. Obwohl viele Staaten inzwischen Gesetze zum Verbot von Kinderarbeit erlassen und zahlreiche Hilfsorganisationen und NGO’s sich den Kampf gegen Kinderarbeit auf die Fahnen geschrieben haben hat sich daran wenig geändert.

Christoph Schmitz |
    Nehmen wir das Beispiel Pakistan. Dort sind Kinder ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Sie werden verkauft, vermietet und gehandelt als billige Ware und tragen so einen großen Teil der nationalen Schattenwirtschaft. Dies ist kein Wunder. Ist Pakistan doch eine Militärdiktatur, in der 70 Prozent des Bruttosozialprodukts für Waffen ausgegeben werden und in der es weder ein funktionierendes Gesundheitswesen noch eine Altersvorsorge gibt. Auch Iqbal, Iqbal Masih, der kleine pakistanische Junge, steckt mitten drin in diesen Verhältnissen. Seine Eltern haben ihn verkauft, weil sie selbst kein Geld zum überleben haben. Er arbeitet in einer Teppichmanufaktur in Lahore, damit die Schulden der Eltern beim Großgrundbesitzer bezahlt werden können. Jeden Tag sitzt er mit anderen Kindern angekettet an einen Webstuhl und knüpft an Teppichen, die für den Export in den Westen bestimmt sind.

    Doch Iqbal Masih ist irgendwie anders. Er weiß, das die Schulden nie bezahlt sein werden, dass der Patron die Striche auf der Tafel nicht löscht, und das der Lohn, jeder Strich steht für eine Rupie pro Tag, einige Cent, nie ausgezahlt wird. Iqbal Masih aber lässt sich dies nicht gefallen, er sich wehrt. Zwar kann er weder lesen noch schreiben. Dafür aber hat er den Mut des Verzweifelten. So gewinnt er langsam die Unterstützung durch die anderen Kinder. Zusammen wollen sie ihrem dumpfen Dasein entkommen. Und Iqbal setzt ein erstes Zeichen. Er zerstört das, was ihn zerstört. Als ausländische Käufer in die Manufaktur zu Besuch kommen, nimmt er vor aller Augen die Schere und zerschneidet den Teppich, an dem er monatelang gearbeitet hat. Ein symbolischer Akt mit dem die Geschichte seiner Auflehnung und die Befreiung der Kinder jedoch erst beginnt.

    Der italienische Autor Francesco D’Adamo hat die Geschichte Iqbals, so auch der Titel des Buches, in einem Jugendroman gestaltet. Spannend, in schnörkelloser Sprache, rückt er damit jene ins Licht, die, frei nach Bertolt Brecht, "im Dunkeln sind". Dabei ist eine Erzählung entstanden, die nicht, wie zuweilen üblich, die pädagogische Absicht über die literarische Qualität stellt. Vielmehr merkt man dem Jugendroman an, das der Autor eine spannende Geschichte erzählen will, das er schreibt, um, wie er im Nachwort sagt, "bei meinem jungen Publikum die Leselust anzuregen". Dies ist dem ehemaligen Autor von Kriminalromanen eindrucksvoll gelungen. Der Leser fiebert mit dem Schicksal Iqbal Masihs und seiner Freunde mit, man spürt die Enttäuschung und die Angst vor Strafe, wenn ein Befreiungsversuch an korrupten Polizisten scheitert, glaubt an die Überzeugungskraft des Helden, wenn er die anderen Kinder zu einem weiteren Fluchtversuch überreden kann.

    Denn Iqbal ist tatsächlich ein kleiner Held, "ein Kinderspartakus", der etwas über die sozialen Realitäten seiner Welt vermittelt. "Ich weiß nicht", sagt der Autor im Vorwort, "wie Iqbal aussah. Also habe ich versucht, ihn mir vorzustellen. Vielleicht habe ich ihn schöner, tüchtiger und mutiger dargestellt, als er wirklich war, aber das ist nun mal das Schicksal von Helden." Francesco D’Adamo hat die Geschichte des Iqbal Masihs, wie sie sich im Pakistan der 90er Jahre so oder so ereignete, zum Anlass genommen, einen aufrührenden Jugendroman zu schreiben. Ohne, und dies muss man dem Autor hoch anrechnen, sich in den Interessen und Ungereimtheiten der wirklichen Geschichte zu verfangen. Denn die wahren Hintergründe der damaligen Ereignisse sind bis heute nicht geklärt. Hier ist eine notwendige Anmerkung vonnöten.

    Als der wirkliche Iqbal Masih von der privaten Hilfsorganisation BLLF, "Front gegen die Schuldknechtschaft" 1994 befreit wurde, baute ihn diese zum Symbol im Kampf gegen die Kinderarbeit auf. 1994 erhielt er in Boston den Reebok Menschrechtsrechtspreis. Als er dann ein Jahr später in Lahore ermordet wurde, schrieb der BLLF das Verbrechen einer angeblichen existierenden pakistanischen Teppichmafia zu. Der BLLF Gründer Ehsan Ullah Khan macht Iqbal Masih mit Hilfe der internationalen Presse zum Märtyrer, der pakistanische Teppichexport brach dramatisch ein. Doch gerade die BLLF war, wie der renommierte Pakistankenner und Politologe Jochen Hippler 1996 in einem Artikel berichtete, damals von einer seriösen Organisation zu einer Führerorganisation verkommen. Die befreiten Kinder mussten, Zitat Hippler "den Führer in pathetischen Liedern mit einem Gott gesandten Messias vergleichen". Iqbal Masih selbst war danach in der BLLF als Hausdiener beschäftigt und verdiente noch weniger als zuvor beim Teppichknüpfen.

    In der unabhängigen pakistanischen Presse wurde die Organisation des Betrugs und der Unterschlagung bezichtigt. Über die Ermordung Iqbal Masihs 1995 jedenfalls kursieren bis heute viele unterschiedliche Versionen. Ob es die Teppichmafia war, wie es BLLF behauptet, ist jedenfalls nicht erwiesen. Der Gründer des BLLF Ehsan Ullah Khan lebt seit einigen Jahren wegen des Vorwurfs der Finanzmanipulation im schwedischen Exil, wo die Organisation weiter existiert. Einen Prozess hat es in Pakistan bislang nicht gegeben. Wenn jetzt der Jugendroman Francesco D’Adamos erscheint, so bewegt sich der Verlag mit seinem Anspruch auf Authentizität der Geschichte Iqbals auf unsicherem Terrain. Nicht wegen des, wie schon beschrieben, spannenden und absolut empfehlenswerten Romans, sondern vielmehr, weil nicht nur der deutsche Peter Hammer Verlag, sondern auch die Verlage in den USA, Holland, Spaniens, Frankreich, Japans und Koreas der Geschichte, wie sie durch den BLLF bis heute verbreitet wird, unhinterfragt übernommen haben.

    Ja, man hat dem zweifelhaften Gründer sogar ein Nachwort mit Spendenaufruf und Bankverbindung eingeräumt, bei der Buchpräsentation in den Niederlanden war Ehsan Ullah Khan anwesend. Ob die Organisation seriös ist, lässt sich, trotz engagierter Internetseiten, nicht eindeutig klären. Auf Nachfrage beim deutschen Verleger jedenfalls zeigte man sich bestürzt über die Ungereimtheiten. Man wusste schlicht und ergreifend nichts von diesen Zusammenhängen. Nun ist der Rezensent kein Advokatus Diabolo, Iqbals Geschichte ist zu schön, um ihr nicht zu erliegen, der Verlag selbst ist über jeden Zweifel erhaben und wer die Wildswestverhältnisse in Pakistan kennt, weiß, wie schwer es ist, die Wahrheit zu recherchieren. Doch auch der Rezensent muss, wie Jochen Hippler schon vor einigen Jahren die Frage stellen, inwieweit die Verbreitung von nur der halben Wahrheit der Bekämpfung der Kinderarbeit nützt. Spenden an die Hilfsorganisation jedenfalls sollte man trotz des Aufrufes in dem Buch, zunächst unterlassen.

    Denn so wichtig die Aufklärung über Kinderarbeit auch ist, so zweifelhaft ist das Unterfangen seriöser Verlage, Spendenaufrufe für umstrittene Organisationen zu veröffentlichen. Gerade Jugendliche haben ein Anrecht darauf, die ganze Wahrheit zu erfahren, auch wenn sie nicht zur Geschichte des Romans passen will. Und Verlage die Pflicht, vorliegende harte Fakten auf ihren Wahrheitsgehalt vor Veröffentlichung von Spendenaufrufen zu hinterfragen.

    Francesco D’ Adamo, Iqbals Geschichte, Peter Hammer Verlag, 160 S., EUR 11,90.