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Verlorene Jugend

Also meine Mutter saß in der Badewanne mit Lockenwicklern, was weiß ich, da hat’s an der Tür geklingelt. Und da bin ich zur Tür, da standen zwei fremde Männer vor der Tür. Da bin ich ins Badezimmer und meinte wohl: "Mutti, da stehen zwei fremde Onkels vor der Tür!" Sie ist dann rausgestiegen, und die haben mich dann ins Nebenzimmer geschickt und meiner Mutter die ganze Nacht Fragen gestellt. Am nächsten Morgen klingelte es noch mal, da stand noch mal ein fremder Herr vor der Tür, und der hat dann meiner Mutter eröffnet, dass mein Vater Republikflucht begangen hat.

Henry Bernhard | 19.01.2004
    Ich war damals neun Jahre alt. Die Sonne, wir saßen alle beim Frühstück, meine Mutter, meine Schwester und ich, mein Vater war nicht da. Und plötzlich kamen Polizeibeamte, die regelrecht Sturm schellten. Die kamen einfach rein, durchsuchten die Wohnung. Und ich wusste überhaupt nicht, was los war. Ich wusste nur, es ging um meinen Vater, der hat was getan, und ich kam damit einfach nicht so richtig zurecht, ich hab sie auch nicht verstanden, was genau passiert war.

    Das war 1979. Die Kinder von damals sind heute junge Frauen, beide Anfang 30. Wer waren, wer sind ihre Väter, die vor über 20 Jahren so plötzlich verschwanden und nie ganz zurückkamen? Von der Suche der Töchter nach ihren Vätern und deren Wahrheiten handelt dieses Buch. Der eine – ein Stasi-Mann, der sich aus Abenteuerlust erfolgreich in den Westen absetzt. Der andere – ein Kommunist, der, getarnt als treues CDU-Mitglied, im Westen für die DDR spioniert. Sein Verrat fliegt durch den Verrat des anderen auf.

    Die Flucht des Werner Stiller, der als Oberleutnant der Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit im Sektor Wissenschaft und Technik für das Ausspionieren der westdeutschen Kernforschung zuständig war, verunsicherte die Stasi zutiefst: Der Verrat einer ihrer Mitarbeiter war die Todsünde schlechthin. Hierauf stand die Todesstrafe. Stiller hatte sich mit Tausenden Blättern geheimer Unterlagen in den Westen abgesetzt: mit Namenslisten, Befehlen, Dienstanweisungen und Ausbildungsunterlagen. Für den Bundesnachrichtendienst eine Offenbarung: 17 West-Spione der Staatssicherheit wurden festgenommen, mindestens 15 weitere mussten sich durch eine Flucht in die DDR retten. Für die Autorinnen des Buches "Verlorene Kinder", Edina Stiller und Nicole Glocke, jedoch, war es der schlimmste Verrat schlechthin: der Verrat ihrer Väter an der Familie, an Ehefrauen und minderjährigen Kindern.

    Eigentlich näher befasst habe ich mich damit erst, als Nicole mit mir Kontakt aufgenommen hat. Weil: Ich wollte das eigentlich gar nicht, weil ich das fürchterlich finde! Also wenn ich mir verdeutliche, wie viele Familien er ins Unglück gestürzt hat, das ist für mich unfassbar, unverzeihlich!

    Beide Töchter – die eine in Bochum, die andere in Cottbus – haben den Verlust des Vaters und das Ende der heilen Kinderwelt zunächst verdrängt: Werner Stiller, Edina Stillers Vater, meldete sich erst elf Jahre später, 1990, wieder bei seiner Familie. Die Stasi hätte ihn wohl auch im Westen liquidiert, wenn sie ihn denn aufgespürt hätte. Karl Heinz Glocke, Nicole Glockes Vater, kam Anfang der 80er Jahre wegen Spionage für die DDR für 2 Jahre und 9 Monate ins Gefängnis. Entlassen wurde er als verbitterter Kommunist, der auch seiner Familie keine Rechenschaft ablegte. Erst 1999, als sie nach Berlin zog, stellte Nicole Glocke sich die Fragen, die zuvor ihr Leben bestimmt hatten.

    Ein unverfälschtes Privatleben zu führen war für einen Agenten wegen der Gefahr der Enttarnung unmöglich. Erklärte dies auch sein mangelndes Gespür für mich als Kind? War er, falls er überhaupt einmal zu Hause war, einem Befehl seines Führungsoffiziers aus Ost-Berlin gefolgt, wenn er kurz vor 19 Uhr die heute-Nachrichten einschaltete, obwohl mein Sandmännchen noch lief? War es eine Dienstanweisung des alten Kämpfers und Romeostrategen Markus Wolf gewesen, sich in Anwesenheit der Ehefrau seiner Romeoerfolge zu brüsten? Hatte es ihm nicht ausgereicht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen in dem Wissen, dass jeden Tag seine bürgerliche Existenz zerstört werden konnte, was dann auch geschah, ohne daran zu denken, was das für seine unmittelbaren Angehörigen bedeutete, was sie empfinden würden, was sie durchleben müssten an Enttäuschung, Traurigkeit und Zurücksetzung?

    Die Autorinnen kommen in dem Buch abwechselnd zu Wort, in jeweils fünf Kapiteln schildern sie die Suche nach ihren Vätern und nach sich selbst. Nicole Glocke, deren Vater zwar nur für zwei Jahre in Haft war, scheitert in dem Versuch, ihn zu verstehen, da er sich seiner Umwelt verbittert verschließt. Also macht sie sich auf die schwierige Suche nach dem Mann, der ihren Vater 1979 enttarnt hatte: Werner Stiller. Sie liest, recherchiert, trifft sich mit Journalisten und Mitarbeitern des BND, schreibt sogar einen Artikel über Stiller. Fast möchte man sie auf Vatersuche wähnen, bis sie Stiller endlich begegnet. Sie ist zunächst fasziniert, konfrontiert ihn dann aber doch mit der Frage, ob er sich klargemacht habe, was mit den Familien der enttarnten Agenten geschehen würde. Nicole Glocke:

    Wenn ein Kinderschänder verhaftet wird, dann kann ja die Polizei keine Gnade walten lassen, weil die Kinder dann einen seelischen Knacks bekommen!" Wortwörtliches Zitat jetzt von ihm. Worauf ich ihm geantwortet habe, dass er keinesfalls zu den Polizisten gehört hat, sondern zu den Tätern. Also ich steh halt auf dem Standpunkt, dass er ein Verräter ist, ein richtig traditioneller Verräter, wie es Judas in der Bibel getan hat. Aus materiellen Motiven her – der Westen war fremd, neu –, aus Abenteuerlust, aber nicht aus ehrenhaften Widerstandsmotiven heraus.

    Dazu Edina Stiller:

    Das sehe ich eigentlich ähnlich wie Nicole. Ich denke mal, er hat den Staat schon zu dem Zeitpunkt auch durchschaut, aber größtenteils war es eben doch, sich aus der Menge zu heben, dem Alltag zu entfliehen, bisschen Geldgier, Abenteuerlust, weil er immer was Aufregendes braucht so für sich.

    Nicole Glocke:
    Also ich habe in jedem Fall geschrieben, dass Werner Stiller ein Verräter in jeglicher Hinsicht ist. Mein Vater natürlich auch, das gilt in gleichem Maße auch für ihn! Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Mein Vater hat es aus ideologischer Überzeugung getan!

    Edina Stiller:

    Also dadurch, dass er es aus politischer Überzeugung gemacht hat, finde ich es überhaupt nicht verwerflich! ich finde es eher verwerflich, was er so da mit seiner Familie abgezogen hat – davor, danach ...

    Die Autorinnen machen es weder sich noch dem Leser leicht: Mit ihren Vorwürfen und Urteilen über Verrat im Kalten Krieg setzten sie sich zwischen alle Stühle. Scheinbare Gewissheiten, durch den Verlauf der Geschichte bestätigt, verlieren ihre Gültigkeit: Was ist gut, was ist böse? Wer ist der Verräter, wer der Verratene? In welchem Verhältnis steht persönliche zur gesellschaftlichen Verantwortung? Ihre Antworten liegen oft schief zur gängigen öffentlichen Meinung. Und doch befinden sich die Autorinnen im Recht, denn sie verhandeln ihr eigenes Leben. Vor allem Edina Stiller beschreibt in sehr berührenden Worten, wie ihr Leben regelrecht zerbröselt, wie ihr jede Orientierung abhanden kommt, wie sie immer wieder Angst hat, sich zu binden, aus Furcht vor neuerlichem Verlust. Mit diesem Buch arbeitet sie ihre Lebensgeschichte auf und erspart sich dabei nichts: politische Naivität, Alkoholismus, eine Abtreibung, eine Vergewaltigung, ein Suizidversuch. Dass sich die Staatssicherheit dabei immer wieder in Form von neuen Vätern und Liebhabern einschleicht, erscheint da fast als Randgeschichte. Edina Stiller hat ihren Vater wiedergefunden, 1990, nach der Wende. Aber er konnte und wollte ihr nicht den väterlichen Halt geben, den sie suchte. Dafür hat sie Nicole Glocke kennengelernt, die als Kind ähnliches erlebt hat – ausgelöst durch Edinas eigenen Vater. Das Resultat dieser Begegnung ist dieses Buch. Nicole Glocke analysiert und schreibt kühler. Aber sie macht auch ihrer Wut Luft, Wut auf die alten Männer, die die beiden Deutschlands geprägt haben. Nicole Glocke:

    Das soll ja auch ein Zeugnis sein der letzten Generation, die mit der deutschen Teilung aufgewachsen ist. Das Buch stellt aber auch noch einen Generationenkonflikt dar: Es gibt Männer, die sehr erfolgreich sind, die überhaupt nichts damit anfangen können, dass zwei junge Frauen Anklage erheben gegen jene, die Karriere gemacht haben im Namen von Tradition, Autorität oder Ideologie. Mein Ziel ist es eben auch, diese falsch verstandene Autorität von Vätern zu zerstören.

    Ziatat:

    Unsere Väter sind uns Kindern keine Vorbilder gewesen und haben uns bisher keinen Orientierungsrahmen geboten. Wir haben sie nie als geheimnisvolle Agenten, als mythische Figuren wahrgenommen. Für uns - und das ist das Entscheidende - sind sie in erster Linie Väter, und zwar sehr schlechte. Die Grenzen zwischen den Systemen sind mittlerweile gefallen, aber in den Köpfen unserer Vätergeneration bestehen sie weiter, wobei es der "Westvater" ist, der an den kommunistischen Idealen festhält, während der "Ost-Vater" die kapitalistische Marktwirtschaft vertritt. Wir Töchter haben den Konflikt zwischen ihnen und den Zwiespalt dieser Welt bereits am Anfang unseres Lebens schmerzhaft erfahren müssen. Sie haben uns verlassen und getäuscht, unsere sorglose Kindheit zerstört. Das hat unser Leben bestimmt, das ist unser Erbe.

    Das Buch ist ein Zeugnis der Generation der 30-jährigen, die mit den Trümmern des Kalten Krieges leben müssen, für die sie nicht verantwortlich sind. Es ist flüssig und packend zu lesen, ein paar kleine sachliche Fehler hätten dem Lektor auffallen sollen. Wirklich ärgerlich ist allein der Preis des Buches – damit tut der Verlag den Autorinnen keinen Gefallen.

    Nicole Glocke, Edina Stiller
    Verratene Kinder. Zwei Lebensgeschichten aus Deutschland
    Ch. Links Verlag, 192 S., EUR 19,90