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Vermeintlich fremd in einem kleinen Land

Der Schriftsteller Martin R. Dean, Sohn einer Schweizerin und eines karibiaschen Vaters, widmet sich den Identitätsproblemen eines Schweizers, der durch seine Hautfarbe zum Außenseiter wird. Sein Roman "Ein Koffer voller Wünsche" reflektiert dabei mit Ironie die Bedeutungen von Heimat.

Von Eva Pfister | 14.11.2011
    Schweizer Autoren beschäftigen sich gerne mit ihrer Heimat. Oft ist dies ein Reiben an den zu engen Wänden des Landes, eine Auseinandersetzung mit dem geistigen Zwergenstaat oder ein Befragen der Identität. Viele Autoren sind aus der Schweiz geflohen, zumindest für eine gewisse Zeit, und manche Schweizer Literaturpreise ermöglichen ihnen eine Auszeit - mit einem Stipendium in Rom, Paris, Berlin oder London.

    Auch der 56-jährige Autor Martin R. Dean, der in Basel lebt, kam in den Genuss solcher Stipendien. Sein neuer Roman "Ein Koffer voller Wünsche" ist deutlich geprägt von den Erfahrungen in London, wo eine Schweizer Kulturstiftung einige Reihenhäuschen im East End zur Verfügung stellt. Das East End ist ideal, um über Heimat und Fremde nachzudenken, denn es war immer schon ein Ort von Einwanderern. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert lebten dort Juden aus Europa, im Laufe der letzten Jahrzehnte zogen vor allem Menschen aus Pakistan und Bangladesch in den Osten Londons; die Synagogen wichen Moscheen, und heute prägen verschleierte Frauen das Stadtbild.

    Während die meisten Schweizer im East End das exotisch Fremde bestaunen, fühlt sich der Ich-Erzähler in Martin R. Deans Roman sofort zuhause, denn Filip Shiva Bellinger ist der Sohn eines indischen Vaters. In der Schweiz wurde er von Kind an als Fremder gebrandmarkt, während in London kein Mensch neugierig auf seine leicht asiatischen Gesichtszüge starrt. Diese Erfahrungen teilt Filip mit seinem Autor Martin R. Dean, dessen Vater aus der Karibik stammt, und der in seinem letzten Roman "Meine Väter" eine spannende, wenn auch oft ausufernde Suche nach Identität und Herkunft beschrieb.

    Deans neuer Roman ist lakonischer und mit größerer Distanz zum erzählenden Ich verfasst. Das atmosphärisch dichte Buch gibt Auskunft über die Befindlichkeit eines vermeintlich Fremden in einem kleinen Land. Filip Shiva Bellinger ist über 40 Jahre alt und innerlich rastlos, als wäre er auf der Flucht oder eben mit einem "Koffer voller Wünsche" unterwegs. Es fällt ihm schwer, sich auf eine gesicherte Existenz festzulegen, zu heiraten etwa. Aber seine Freundin Maja ist 37 Jahre alt und will eine Familie gründen, und zwar sofort. Sie ist eine Schweizerin ohne Identitätsprobleme und eine perfekte Frau: schön, liebenswürdig, aus reichem Elternhaus und außerdem so tolerant, dass sie ihrem Freund eine Bedenkzeit von sechs Monaten gönnt. Filip reist also nach London und erliegt sofort der Faszination der Weltstadt, die an jeder Ecke neue Möglichkeiten zu eröffnen scheint. Absichtslos wandert er durch die Stadt und bestaunt die multikulturelle Bevölkerung. Aber dann holt ihn seine Heimat ein: er nimmt ausgerechnet in einem Schweizer Reisebüro eine Arbeit an und soll die Schönheiten seines Landes an Touristen verkaufen. Dazu muss er seine ambivalenten Gefühle unterdrücken und die Berge anpreisen, die er nicht mag, vom Wallis schwärmen, wo er noch nie war; er muss mit Alpenthermen, Schokoladenmassagen und Käsefondue locken.

    Der Kontrast zwischen Filips eher trostlosen Jugenderinnerungen und den Klischees einer Hochglanzschweiz ergibt eine reizvolle Spannung voll bitterer Komik. Auch ist man durchaus neugierig, wie der Held sich aus seinem Lebenszwiespalt befreit. Aber gegen Ende des Romans häufen sich plötzlich unglaubwürdige Wendungen. Ein Deus ex Machina führt Filip zum Grab seines unbekannten Vaters, während im Elternhaus seiner Verlobten ein dramatisches Ereignis das andere jagt. So viel Action kann das Buch kaum verkraften, denn seine Qualität liegt vor allem in der leisen Ironie, mit der Filips Schweben zwischen zwei Welten geschildert wird.