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Vermisste Flüchtlinge
Die Suche nach Ahmad E.

Tausende minderjährige Flüchtlinge werden in Deutschland vermisst. So auch der 17-jährige Ahmad E.: Er verschwand aus einem Flüchtlingsheim im Erzgebirge. Doch warum verließ er das Heim? Unsere Reporter haben sich auf die Suche gemacht - und ihn gefunden.

Von Tarek Khello und Christian Werner | 20.04.2016
    Ein junger Mann steht an einem Straßenrand, man sieht ihn von hinten.
    Möchte nicht erkannt werden: Gemeinsam mit einem Freund war Ahmad aus dem Heim abgehauen. (Deutschlandradio/Christian Werner)
    Ein siebzehnjähriger syrischer Junge wird vermisst, einer von tausenden, die angeblich in Deutschland spurlos verschwunden sind. Wir haben ihn gefunden.
    Aber der Reihe nach. Erste Station unserer Suche ist Bad Schlema im Erzgebirge. Hier verschwand Ahmad am 14. Januar spurlos aus einem Heim für minderjährige Flüchtlinge. Seine ehemaligen Mitbewohner erzählen uns, weshalb er aus der Unterkunft ausgerissen ist:
    "Ich glaube, Ahmad ist wegen der schlechten Behandlung hier abgehauen. Uns allen gefällt es hier nicht. Wenn uns das Essen nicht schmeckt, sagen die Betreuer, dass ihnen das egal sei und wir halt bis zur nächsten Mahlzeit warten müssen. Wenn wir krank sind, glauben sie uns das nicht und wenn wir Kleidung haben wollen, sagen sie uns, dass dafür kein Geld da sei."
    Das Heim liegt am Rande der Kleinstadt, die Jungs langweilen sich, sie sehen keine Perspektive hier und wollen alle verschwinden. Wo Ahmad ist, wissen sie aber nicht.
    Ahmad wollte zu seinem Onkel
    Nachfrage bei der Polizeidirektion Chemnitz. Seit dem 1. November 2015 wurden hier allein 225 minderjährige Flüchtlinge als vermisst gemeldet. Darunter auch Ahmad, bestätigt uns Pressesprecherin Jana Kindt:
    "Wir haben eine Anzeige bekommen von der Unterkunft, in der der Jugendliche untergebracht war. Der Jugendliche wurde in unserem polizeilichen Fahndungssystem erfasst und steht jetzt zur Fahndung. Das heißt, wenn er jetzt irgendwo europaweit aufgegriffen wird, dann haben wir die Möglichkeit der anhand von ihm genannten Personalien und der von uns genannten Personalien zu finden."
    Schon vier Wochen ist Ahmad in den Datenbanken der Polizei als vermisst gemeldet und scheinbar nirgends aufgetaucht. Wir finden ein Foto von Ahmad bei Facebook, gepostet von einem Freund der Familie. Wir erfahren, dass Ahmad einen Onkel in Deutschland hat - Hussin Satoof. Der lebt seit anderthalb Jahren in einer kleinen Gemeinde im Sauerland:
    "Ahmad wollte zu mir kommen. Er kennt hier niemanden. Er ist minderjährig und seine Eltern hätte ihn nie hierher geschickt, wenn ich nicht hier leben würde. Ich sollte auf ihn aufpassen, mich um ihn kümmern. Als wir das letzte Mal telefoniert haben, hat er gefragt, wann er mich sehen kann. Ich habe ihm geantwortet, dass ich ihn in ein paar Tagen besuchen werde. Aber am 22.12. ist der Kontakt abgebrochen." Hussin Satoof ist besorgt um seinen Neffen, hat Angst, dass er auf die schiefe Bahn gerät.
    Zwei Männer sitzen auf einem Sofa und auf einem Sessel, der eine zeigt dem anderen etwas auf einem Smartphone.
    Hussin Satoof, der Onkel von Ahmad, im Gespräch mit Reporter Tarek Khello (Deutschlandradio/Christian Werner)
    Zehn bis 20 Prozent der Jugendlichen verschwinden aus Asylbewerberheimen, schätzt Tobias Klaus vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie haben keinen Anspruch, zu in Deutschland lebenden Verwandten ziehen zu dürfen. Bei der Verteilung von Minderjährigen steht im Wesentlichen im Vordergrund, dass es eine gerechte Verteilung innerhalb Deutschlands geben soll, dass jedes Bundesland anhand seiner Bevölkerungszahl Jugendliche zugewiesen bekommt und die Interessen die Kinder und Jugendlichen werden dabei viel zu wenig beachtet.
    Fehler bei der Registrierung
    Die Folge: Die Jugendlichen reißen aus und machen sich selbst auf den Weg zu ihren Leuten. Wir bekommen schließlich über Facebook den entscheidenden Tipp. Ahmad soll in einem Asylbewerberheim in Rodewisch leben. Im Vogtland. Und tatsächlich: Ahmad ist hier. Er berichtet von seiner Flucht aus Bad Schlema - und erzählt Erstaunliches.
    "Ein Kumpel aus dem Heim und ich sind mit einem Zug gefahren, irgendwohin. Ich weiß nicht wohin. Als wir ausgestiegen sind, kamen zwei Polizisten. Ich hatte meine Papiere, mein Kumpel aber nicht. Wir mussten ein Formular ausfüllen, wo wir herkommen, wie wir heißen, wie lange wir hier sind und so weiter und dann haben sie uns in dieses Heim gebracht.”
    Mit anderen Worten: Ahmad wird am Tag seiner Flucht aufgegriffen und in ein Flüchtlingsheim gebracht, 25 Kilometer von Bad Schlema entfernt. Die Polizei in Chemnitz erfährt davon erst sechs Wochen später. Der Grund: Ahmads Name wurde bei seiner Ergreifung falsch aufgeschrieben. Dadurch ergab ein Datenabgleich keinen Treffer. Erst nach seiner Registrierung fällt der Fehler auf. Hunderte vermisste Minderjährige sind höchstwahrscheinlich gar nicht spurlos verschwunden oder Opfer eines Verbrechens geworden, sondern einfach nicht richtig erfasst. Ahmad hofft, irgendwann zu seinem Onkel zu kommen.
    "Ich will nicht illegal, sondern legal zu meinem Onkel und deswegen bleibe ich jetzt hier. Wenn ich illegal dorthin will, kriege ich vielleicht Ärger und schaffe es nie, zu meinem Onkel zu kommen."