Dienstag, 30. April 2024

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Vermisste israelische Schüler
"Sehr wahrscheinlich, dass es die Hamas war"

Es sei nur eine Vermutung, doch angesichts der Stellung der Hamas sei es gut möglich, dass sie verantwortlich sei für die Entführung israelischer Schüler , sagt der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, im DLF. Da die Regierung Netanjahus die Hamas zerschlagen wolle, gebe sie ihnen aber auch ohne Beweise die Schuld.

Avi Primor im Gespräch mit Peter Kapern | 20.06.2014
    Avi Primor
    Avi Primor, Präsident der israelischen Gesellschaft für Auswärtige Politik (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    Primor sagte weiter, seiner Ansicht nach sei die Hamas unentbehrlich für erfolgreiche Friedensverhandlungen. Derzeit sei das Interesse auf beiden Seiten aber gering. Die Suche nach den Jugendlichen werde wohl erfolglos sein: "Ich glaube nicht, dass man sie findet". Sie seien vermutlich gut versteckt oder ins Ausland gebracht worden.
    Die Suche nach den Vermissten - bei der bisher etwa 280 Palästinenser festgenommen wurden - sei "eine kollektive Bestrafung" der Menschen im Westjordanland, sagte Primor. Das sei gefährlich, da die Bevölkerung irgendwann "explodieren" werde.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Bei uns am Telefon ist nun Avi Primor, der frühere israelische Botschafter in Deutschland. Guten Morgen!
    Avi Primor: Guten Morgen, Herr Kapern!
    Kapern: Herr Primor, die israelische Regierung ist ja felsenfest davon überzeugt, dass die Hamas hinter der Entführung steckt, die Organisation selbst weist das aber zurück. Teilen Sie die Überzeugung der israelischen Regierung? Wie gut sind deren Informationen über den Stand der Dinge!
    Primor: Es gibt keine Informationen. Das ist eine Vermutung und eine Hoffnung. Erstens weil die israelische Regierung jetzt – und wie man das sieht in den Aktionen in dem Westjordanland – die Gelegenheit benutzen will, um die Hamas zu zerschlagen. Also muss man auch einen Grund dafür haben, und man beschuldigt die Hamas für die Entführung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es die Hamas ist, weil sie die beste Organisation hat und viele Anhänger in dem Westjordanland, und deshalb kann sie sich Dinge leisten, die die kleineren Organisationen sich vielleicht weniger leisten können, aber wissen tun wir es nicht. Und wiederholt wird das, wie gesagt, weil man die Gelegenheit benutzen will, um die Hamas zu zerschlagen, und dazu stimmt auch der Präsident der Palästinenser, Mahmud Abbas zu.
    Kapern: Ist es in Ihren Augen klug, diese Entführung, diese Situation als Vorwand zu nutzen, um die Hamas zu zerschlagen?
    Primor: Na ja, wenn man der Meinung ist, dass eine Versöhnung zwischen der Fatah, zwischen der Regierung in Ramallah und der Hamasbewegung in Gaza was Schlimmes ist, was Verheerendes ist, wie Netanjahu es sagt, dann ist es gerechtfertigt. Ich bin aber dieser Meinung nicht, ich glaube, dass eine Versöhnung zwischen der Regierung in Ramallah und der Hamas unentbehrlich ist, wenn man tatsächlich Friedensverhandlungen führen will, wenn man einen Friedensvertrag unterzeichnen will. Die Frage ist: Wer will das eigentlich?
    Kapern: Und wer will es?
    Primor: Die Amerikaner? Nicht beharrlich genug, sonst hätten sie es durchsetzen können. Die heutige israelische Regierung oder diejenigen Kräfte, die in der israelischen Regierung den Haupteinfluss haben, die Hauptmacht haben, die wollen es bestimmt nicht. Und Mahmud Abbas zögert, weil er Angst hat.
    Kapern: Wovor?
    Primor: Vor den extremistischen Strömungen in seiner Bevölkerung. Wenn er einen Frieden mit uns schließt, dann muss er auch Zugeständnisse machen, und er hat Angst, dass man ihn dann als Verräter betrachtet. Er rutscht in die Richtung dennoch, weil er heute in dieser Sache der Entführten mit uns kollaboriert. Seine Streitkräfte kollaborieren mit uns hundertprozentig, das bestätigt auch die israelische Armee, also rutscht er sowieso in diese Richtung. Aber er hat natürlich Angst, weil er weiß, wie stark die Hamas ist, nicht nur in dem Gazastreifen, sondern auch in dem Westjordanland.
    "Irgendwann wird die Bevölkerung explodieren"
    Kapern: Wir sehen starke Proteste gegen den israelischen Militäreinsatz, gegen die Suchaktion im Westjordanland, Proteste, die von zunehmender Gewalt begleitet sind. Was denken Sie, wie sich die Situation entwickeln wird in den nächsten Tagen und Wochen, wenn die drei entführten Jungs nicht gefunden werden können?
    Primor: Also, schauen Sie: Erstens glaube ich nicht, dass man sie finden wird, weil sie bestimmt ein sehr effizientes Versteck vorbereitet haben – das war ja alles lange vorbereitet. Ich weiß gar nicht, ob sie im Lande sind, vielleicht hat man sie herausgeschmuggelt durch Jordanien in die arabische Welt, man kann nie wissen, aber ein gutes Versteckt haben sie. Es gibt nur eine Chance, sie zu finden, und das ist, in den Reihen der Entführten einen Verräter zu haben, jemand, der dann aussagt. Das kommt mal vor, und nur so kann man sie finden, sonst wird man sie nicht finden. Und diese Aktion in den besetzten Gebieten, die muss zum Ende kommen, weil man nichts mehr zu untersuchen hat, nicht mehr zu durchsuchen hat. Man hat schon alle Verdächtigten verhaftet, alle diejenigen, die mit der Hamas irgendwann verbunden waren, verhaftet, und sogar die ehemaligen befreiten Hamasleute in der Schalit-Affäre hat man auch schon einen Teil davon wieder eingenommen – was kann man da noch machen? Und wenn man dennoch diese Aktion – also Ausgangssperre und Hausdurchsuchung – weitermacht, irgendwann wird die Bevölkerung explodieren. Bislang ist sie ruhig geblieben, bislang hat sie sich alles gefallen lassen, aber alle Experten bei uns sagen, dass das so nicht weitergehen kann.
    Kapern: Wir haben das ja eben in dem Beitrag von Christian Wagner gehört, Herr Primor, dass die Palästinenser diese Durchsuchung, diesen massiven Militäreinsatz, als kollektive Bestrafung empfinden. Liegen sie damit richtig?
    Primor: Es ist eine kollektive Bestrafung, obwohl das nicht das Ziel unserer Regierung ist. Das ist nicht das Ziel des Militärs, die brauchen das gar nicht, und sie wissen, dass das auch für uns eher verheerend ist. Aber wenn sie wirklich alles durchsuchen wollen, dann haben sie keine andere Möglichkeit, es zu tun, als das, wie sie es jetzt tun. Ich halte das für falsch aber sie haben keine Alternative, wenn das ihr Ziel ist.
    "Man fürchtet einen israelischen Angriff"
    Kapern: Sie haben eben gesagt, Herr Primor, diese Militäraktion, sie muss zu einem Ende kommen. Aber wie steht Benjamin Netanjahu, der Ministerpräsident, mit seiner Regierung dann da, wenn er eine solche Aktion erst durchführt und dann ergebnislos, erfolglos abbrechen muss?
    Primor: Schauen Sie, Sie haben selber gesagt, die Schalit-Affäre hat fünf Jahre lang gedauert, und man hat den Gazastreifen tausendmal durchsucht und man hat ihn dort nicht gefunden, und der Gazastreifen ist ja viel kleiner als das Westjordanland. Wenn Netanjahu zur Schlussfolgerung kommt, dass er weiter nicht machen kann – und ich gehe davon aus, dass wenn bei den Entführern sich ein Verräter nicht befindet, wird das auch so enden –, dann wird er eine gute Erklärung haben. Er wird sagen, ja, wir haben alles gemacht, was wir so oberflächlich machen können, von hier an beginnen die Geheimdienste zu arbeiten, und das wird eine tief greifende Arbeit in der palästinensischen Bevölkerung sein, um die Entführten zu finden. Natürlich wird er das sagen, er wird nicht sagen, dass er aufgibt.
    Kapern: Die "Times of Israel" hat gestern berichtet, dass sich die Menschen im Gazastreifen, wo ja die Hamas regiert, bereits auf einen neuen Krieg vorbereiten als Konsequenz aus dieser Entführung. Denken Sie, die Situation könnte tatsächlich derart eskalieren?
    Primor: Ich glaube nicht, dass man im Gazastreifen einen Krieg haben will. Man fürchtet einen israelischen Angriff, man fürchtet eine israelische Invasion, man wünscht sich so das aber nicht. Die Leute in Gaza wissen genau, wie teuer das ihnen kostet, ein Krieg mit Israel, und dass sie der israelischen Armee bei Weitem unterlegen sind. Aber sie fürchten, dass die Israelis es sich wünschen. Ich glaube nicht, ich glaube nicht, dass Netanjahu den Gazastreifen angreifen wird, das entspricht seinem Charakter nicht, das tut er nicht. Aber die Geduld ist sowieso schon längst vergangen, und vor allem fühlen sich die Palästinenser auch in dem Gazastreifen äußerst gedemütigt, und das kann auch zu einer Explosion kommen.
    Kapern: Der frühere israelische Botschafter Avi Primor heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Primor, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und ich bedanke mich herzlich dafür, dass Sie heute früh Zeit für uns und für unsere Hörer hatten!
    Primor: Danke Ihnen auch!
    Kapern: Einen schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.