Archiv


Vernetztes Wissen

Wenn die Neurose eine ... für das Subjekt selbst verschlossene Frage ist, ... dann lassen sich die (Krankheits)-Symptome als die lebendigen Elemente dieser Frage begreifen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    In dieser Formulierung des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan ist die extreme Gegenposition zur naturwissenschaftlichen Sicht der Krankheit und des Symptoms ausgedrückt. Die sprengende Kraft dieser Formulierung besteht darin, dass in ihr nicht das Niedergedrückte und Erstarrte, sondern das Kreative und Bewegliche des Symptoms hervorgekehrt werden. Während der Psychoanalytiker über das Symptom die Brücke zur Lebensgeschichte des Patienten herstellt und auf den Leidensdruck des Analysanden angewiesen ist, will es der naturwissenschaftlich orientierte Arzt nur zum Verschwinden bringen.

    Nun gibt es aber vonseiten der Neurowissenschaft und der Hirnforschung Anstrengungen, mit der Psychoanalyse zu kooperieren. Da, wo die Psychoanalyse vom Unbewussten spricht, spricht die Hirnforschung vom Gehirn.

    Das Gehirn hält Kontakt zu zwei ‘Welten’: zur Welt in unserem Innern ... und zur Welt außerhalb unserer selbst.

    Darzustellen, wie das Gehirn zwischen diesen beiden Welten vermittelt, ist ein zentrales Anliegen der Hirnforschung und damit auch der Studie Das Gehirn und die innere Welt von Mark Solms und Oliver Turnbull. Da die innere Welt der Gefühle, des Bewusstseins, der Erinnerungen und Träume auf exemplarische Weise aber auch von der Psychoanalyse erforscht wurde, liegt eine Kooperation mit ihr nahe. Lange Zeit scheiterte die Zusammenarbeit am Absolutheitsanspruch der eigenen Forschung, mangelnder Kenntnis der anderen Methode oder an der noch zu wenig entwickelten Hirnforschung. Vorgezeichnet indes ist die Kooperation zwischen der Neurowissenschaft und der Psychoanalyse seit mehr als einem Jahrhundert. Sigmund Freud hatte sie in den Jahren um 1890 von seiten der Psychoanalyse aufgegeben, und knapp 100 Jahre später schrieb der berühmte Neurologe Oliver Sacks:

    Die Neuropsychologie ist eine bewundernswerte Wissenschaft, aber sie schließt die Psyche aus.

    Die beiden bedeutendsten Neuansätze einer Zusammenarbeit - trotz der in der Tat enormen Differenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft - stammen von Alfred Lorenzer (einem Vertreter der Frankfurter psychoanalytischen Schule) sowie dem in London lehrenden Neurologen und Psychoanalytiker Mark Solms und dem in Wales forschenden Neuropsychologen Oliver Turnbull.

    Solms und Turnbull wollen zeigen, wie sich beide Forschungen gegenseitig befruchten und wie das subjektive emotionale Erleben auch mit den Mitteln der Neurobiologie erfaßt werden kann. Sie nennen ihre Neuro-Psychoanalyse auch eine Wissenschaft des subjektiven Erlebens.

    Das vorliegende Buch versteht sich als eine Art Reiseführer zu diesen aufregenden neuen Fundstätten. Wir werden zeigen, wie traditionelle psychodynamische Konzepte in einen neuen wissenschaftlichen Rahmen des Verständnisses unseres subjektiven Erlebens gefasst werden können.

    Dazu muss aber der Neurologe gleichsam über seinen eigenen Schatten springen, sich von seinen Testverfahren ein großes Stück weit lösen und sich auf die psychische Erlebensweise der Testperson einlassen, was im Grunde nur in der Übertragungssituation zwischen Arzt und Patient gelingt: in langwierigen, von Verdrängung, von Widerständen und Projektionen geprägten Gesprächen und Assoziationen, in Deutungen der Tiefenschichten, der latenten Sinnebenen.

    Die Deutung des psychischen Geschehens als exakte Wissenschaft - das ist der Traum, den auch Freud schon geträumt hatte. Mit einer solchen Begeisterung und einem derart konsequenten Forschungsinteresse (wie es Solms und Turnbull nun seit etwa 15 Jahren unter Beweis stellen) kann man auf diesem Feld wohl nur dann arbeiten, wenn man der Überzeugung ist:

    Wir werden schon bald in der Lage sein, unsere ‘innere Welt’ in messbaren, physikalischen Einheiten zu untersuchen.

    Aber auch diese Einheiten haben immer Modellcharakter und beschreiben nicht, wie es wirklich ist. Es wäre so gar nicht im Sinne der Psychoanalyse, wenn die Neurowissenschaft gerade die spekulative Seite der Psychoanalyse untergraben würde, wenn sich ihr Begriff von Wahrheit und Objektivität durchsetzte gegen die hart erarbeitete Erkenntnis, dass vieles, was wir als wahr, real und objektiv ansehen, nur Schein und Illusion ist.

    Die Psychoanalyse hat von Anfang an Normen und Normalität von Grund auf in Frage gestellt, Abweichungen von der Regel ernst genommen und sich ihnen mit Empathie zugewandt. Die individuelle langwierige Aufarbeitung des jeweiligen Lebensdramas, der sich die Psychoanalyse in der Praxis stellt, kann ihr keine Neurowissenschaft abnehmen. Dies sollten auch die Autoren dieser glänzenden, allerdings etwas zu stark von der "solideren Grundlage" der Neuro-Psychoanalyse überzeugten Autoren bedenken.

    Wenn sich die Psychoanalytiker dazu entscheiden, den Weg der Kooperation einzuschlagen, werden sie reich entschädigt werden, indem sie eine radikal neue Psychoanalyse hervorbringen.

    Eine "radikal neue Psychoanalyse", die sich noch zu Recht Seelenheilkunde und Lehre vom Unbewussten nennt, wird es nicht geben. Im übrigen sind die Potentiale der Psychoanalyse längst noch nicht alle ausgeschöpft und in die therapeutische Behandlung integriert. Welche Psychoanalytiker arbeiten denn schon tatsächlich mit dem Reichtum etwa der Lacanschen Theorie? Vielleicht kann keine Richtung der Psychoanalyse besser als die von Jacques Lacan geprägte die Kooperationswilligkeit der Neurowissenschaft auf die Probe stellen. Kein anderer Psychoanalytiker hat derart konsequent aus dem Medium der Sprache heraus gedacht wie Lacan und alle psychodynamischen Konzepte aus der Sprache und dem Sprechen, den sprachgeleiteten Assoziationen und den Momenten des Schweigens heraus entwickelt wie Lacan. Wie weitgehend kann die Neurowissenschaft diesem Ansatz wirklich folgen und dabei eine Präzisierung akzeptieren, die sich nicht an die Physik, sondern an die Mathematik und Linguistik anlehnt?

    Der jetzt erschienene Band IV der berühmten Seminare Jacques Lacans bietet sich hervorragend zur gleichzeitigen Lektüre an. Kann die Neurowissenschaft tatsächlich neben diesem sprachgeleiteten Denken auch noch Vorstellungen akzeptieren, die dem Naturwissenschaftler stets als viel zu spekulativ und metaphysisch erscheinen müssen. Ich erwähne nur Begriffe wie das Nichts, der Mangel, das Verfehlen und das Unmögliche, Verdrängung und Verwerfung, das Imaginäre und das Phantasma, der Fetischismus und die Phobie. Alles sicher Scheinende und Normale fundamental in Frage zu stellen und überall das Illusionäre zu erkennen, ist eine der großen Stärken der Psychoanalyse. Diese Art des Vorgehens hat in Lacans Sprache einen exemplarischen Ausdruck erhalten:

    Die Neurose ist eine durch das Subjekt auf der Ebene seiner eigentlichen Existenz gestellte Frage.
    Diese Frage nimmt in der Hysterie die folgenden Formen an - Was heißt es, dass ich das Geschlecht habe, das ich habe? Was soll das heißen, ein Geschlecht zu haben? Was soll das heißen, dass ich mir selbst die Frage stellen kann? ...
    Die Neurose bezieht sich also auf die Ebene der Existenz, aber in noch dramatischerer Weise bezieht sie sich darauf in der Zwangsneurose ... Was heißt es zu existieren? Wie bin ich im Verhältnis zu dem, der ich bin, ohne er zu sein?
    Die Symptome lassen sich als die lebendigen Elemente dieser Frage begreifen, die artikuliert ist, ohne dass das Subjekt weiß, was es artikuliert.


    Mark Solms / Oliver Turnbull
    Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse
    Walter Verlag, 344 S., EUR 34,90

    Jacques Lacan
    Das Seminar. Buch IV: Die Objektbeziehung
    Turia und Kant, 522 S., EUR 40,-