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"Vernunft ohne Glanz"

Trotz eines Wahlkrimis, der sich bis weit nach Mitternacht hinzog, scheinen die Internet-Blogger am "Day after" schon wieder hellwach zu sein. Zu analysieren und zu diskutieren gibt es ja auch wahrlich genug.

Von Norbert Seitz |
    "Also Merkel – trotz allem. Trotz ihres Einschläferungswahlkampfes, trotz ihrer Unfähigkeit, einen Zukunftsentwurf zu formulieren. Langweilig, aber berechenbar. Vernunft ohne Glanz. Vertraut."

    So umschreibt Michael Spreng, Stoibers früherer Wahlkampfhelfer, auf seinem Blog "Sprengsatz" sein zähneknirschendes Bekenntnis zur Kanzlerin. Nach der Wahl sind freilich wieder die Trivialpsychologen unterwegs, um sich einen Reim auf den Merkel-Triumph zu machen. Mit dabei auf Tagesspiegel-Online ist zum Beispiel Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff:

    "Was brauchen wir Parteien, wenn wir Merkel haben. Das zumindest hat verfangen: Mutti ist die Beste. Wir kennen uns. Sie wird sich nicht mehr ändern, sie muss es auch nicht. Gerade weil Merkel so unspektakulär ist, so abwartend, oft tastend erscheint, ist sie den Deutschen in ihrer Wesensart nahe. Die Deutschen wählen ihr Abbild."

    Nüchterner werden dagegen die Koalitionsoptionen der siegreichen Kanzlerin eingeschätzt. Auf der kritischen Website "Nachdenkseiten" von Willy Brandts früheren Wahlkampfleiter Albrecht Müller, ansonsten eher auf rot-grün-rote Plädoyers geeicht, wird eine erneute Große Koalition für unabwendbar gehalten. Der Blogger Wolfgang Lieb wägt ab:

    "Für die Machtstrategin Merkel wäre die Große Koalition beim gegebenen Wahlausgang sicherlich auch die beste Lösung. Sie könnte damit die Länderkammer einbinden. Nur noch in Bayern, wo die CSU allein regieren kann und in Sachsen, dem letzten Land, in dem Schwarz-Gelb regiert, hat die CDU das Sagen. Die schwarz-gelbe Landesregierung in Hessen ist ja gestern auch noch gefallen. Im Saarland, in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern regiert Schwarz-Rot schon.

    Und mit einer Koalition mit der SPD hätte eine erneut gewählte Kanzlerin auch noch Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und das "rote" Hamburg neutralisiert. Das grün-rot regierte Baden-Württemberg dürfte sich gleichfalls nicht quer legen können. Merkel wäre nicht Merkel, wenn sie nicht das Machtkalkül verfolgen würde, die SPD einzubinden, in die den Steuerzahler noch schwer belastenden Entscheidungen ihrer Europa-Politik."


    Gemessen am Katastrophen-Resultat von vor vier Jahren ist die SPD nur mäßig vorangekommen. Wo wäre sie wohl ohne den Sieg Peer Steinbrücks im TV-Duell gegen Merkel gelandet? Fragt sich Philipp Grassmann auf Freitag-Online:

    "Gemessen an dem, was die SPD als größte Oppositionspartei anstreben sollte – nämlich die Macht – ist das Wahlergebnis eine Klatsche für die SPD-Strategen und vor allem für ihre Führungsriege. Aus dieser Perspektive ist die Partei gescheitert, da helfen auch ein paar Prozent mehr Wählerstimmen nicht."

    Und die enttäuschenden Grünen? Seine Partei habe noch nie soviel Gegenwind verspürt, trickste Jürgen Trittin sich und die Seinen am Wahlabend mal wieder in eine Opferrolle. Doch damit kommt er nicht durch, solange sich abtrünnige Traditionswähler zu Wort melden, wie die reichlich verstimmte Schriftstellerin Sophie Dannenberg, die auf dem konservativen Blog "Achse des Guten" mit der Ökopartei und ihren Verdrängungstouren abrechnet:

    "Ich habe lange Zeit die Grünen gewählt. Bis tief in die 90er Jahre hinein (...) Jetzt erfahre ich, dass ich mit meiner Stimme jahrelang eine Pädophilenpartei unterstützt habe, im Glauben, ich würde was für die Umwelt tun (...) Die Grünen haben mich politisch missbraucht und für dumm verkauft, indem sie das verschwiegen (...) In Kürze wird (wohl) jeder, der die Grünen für ihre einst pädophile Programmatik kritisiert, als Populist bezeichnet werden. Nach einer Weile dann als Rechtspopulist."

    Und die knapp gescheiterte Alternative für Deutschland? Während Jens Berger im Blog "Nachdenkseiten" die in die Jahre gekommenen Neulinge nur als eine Art "deutsche Tea Party" einstuft, schildert Christian Bangel auf ZEIT-Online,

    "wie es für einen Augenblick der Weltgeschichte so aussah, als könne die AfD Europa erschüttern. Es war schließlich nicht abwegig, was Parteichef Bernd Lucke auf seinen Wahlkampfveranstaltungen behauptet hatte: Sei die Partei erst im Bundestag, könne sie die Union europapolitisch unter Druck setzen, wie es die Linkspartei im Sozialen mit der SPD tat. Und Angela Merkel so nach rechts zwingen."

    Bliebe das Debakel der FDP. Das Verschwinden der Liberalen aus dem Bundestag hält Robert Leicht auf ZEIT-Online für gut nachvollziehbar:

    "Dieses Wahlergebnis zeigt: Wenn die primären Existenzmotive einer Partei erloschen sind, helfen auch die sekundären Motive nicht mehr weiter. In der Tat hat die heutige, oder sagen wir nun gestrige FDP es weder programmatisch noch personell vermocht, ihre primäre Existenzberechtigung plausibel zu machen."