Dem Druck des Unmittelbaren, der drängenden, anstürmenden Welt zwar nicht zu entfliehen, sich wohl aber zumindest gelegentlich über sie zu erheben, ihre Ansprüche aus der Distanz betrachten und darüber einen neuen Blick auf sie gewinnen zu können: Das mag man als das zentrale Anliegen aller Religionen bezeichnen, zumindest derer, von denen man einige gesellschaftliche Relevanz erwarten darf. Dass es auch die Sicht auf die Dinge dieser Welt formt, hat das Christentum in den 2000 Jahren seiner Existenz mehr als hinlänglich bewiesen. Dass es die Dinge immer und ausschließlich zum Guten gewendet hat, kann man nicht behaupten. Dass es dies in Zukunft tun möge, muss man hoffen. Bestünde diese Hoffnung nicht, hätte der christliche Glaube zumindest politisch seinen Sinn verloren. Eben darum muss man weiter auf das Christentum setzen. Denn dessen Verweise auf die Transzendenz sind hilfreich, den Kopf freizubekommen und die irdischen Belange dann wieder mit neuer Kraft und frischen Ideen zu regeln. Insofern sollte man die christliche Botschaft schon um der Welt willen nicht vergessen.
So lautet, kurzgefasst, der Kerngedanke von Paul Noltes Buch über "Religion und Bürgergesellschaft". "Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?" fragt der Untertitel, und die Antwort, die Nolte gibt, ist eindeutig: Ja, wir brauchen ihn. Nicht aus sentimentalen Gründen allerdings, sondern weil ein solcher Staat Ressourcen mobilisiert, die, verhielte er sich der Religion gegenüber weniger freundlich, ihm und seinen Bürgern bitter fehlen würden. Womit bereits gesagt ist, dass Nolte ausgesprochen nüchtern argumentiert.
Religion bildet, als Reflexion auf Transzendenz ebenso wie als religiöse Vergemeinschaftung, eine grundlegende Ressource der Bürgergesellschaft, deren Ausfall nicht ohne Weiteres kompensierbar ist, also von anderen Institutionen übernommen werden kann. Religion leistet einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung, nein, zur Konstituierung jener bürgerlichen Gesellschaft, auf die wir nicht verzichten wollen: einer bürgerlichen Gesellschaft, zu der nicht nur die individuelle Autonomie, sondern auch die Hinwendung zum anderen gehört; einer bürgerlichen Gesellschaft, die nicht nur der politischen Demokratie, sondern auch der ethischen Reflexion bedarf.
Natürlich, räumt Nolte ein, ist Religion mehr als nur eine sozial relevante Instanz. Aber um dieses Mehr geht es ihm nicht. Es bleibt außen vor, und genau das macht das Buch auch für Leser interessant, denen für letzte Fragen und noch mehr letzte Antworten der Sinn fehlt. Man muss kein Kind der Kirche sein, um den Argumenten des in Berlin lehrenden Historikers folgen zu können. Auch kann man Nolte in der durchaus nüchternen Bilanz folgen, die er angesichts der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der letzten 20, 30 Jahre zieht. Vieles hat sich dramatisch verändert. Die großen Organisationen, allen voran Parteien, Gewerkschaften, Kirchen haben an Attraktivität verloren, an ihre Stelle trat die Besinnung auf individuelle Freiheiten. Man mag das als Individualisierung des Denkens feiern und insofern als Fortschritt verzeichnen. Aber dieser Fortschritt hat auch einige Schattenseiten, allen voran Armut und Ausgeschlossenheit sowie Verlust sozialer Bindungen. Wie reagiert die Gesellschaft darauf? Wie reagiert man auf neue technische Herausforderungen, die Fragen, die die Gentechnik und Biowissenschaften aufwerfen ebenso wie die verschiedenen Bedrohungen der Umwelt, die paradigmatisch im Begriff "Klimawandel" zusammenlaufen? Nolte weist darauf hin, dass Vorschläge zur Bewältigung dieser Krisen zu guten Teilen auch von den Kirchen formuliert werden. Und er weist darauf hin, dass zwei zentrale Bewegungen des späten 20. Jahrhunderts zu nicht geringen Teilen von Christen mitgetragen wurden: die westdeutsche Friedensbewegung und die ostdeutsche und osteuropäische Protestbewegung gegen die Diktaturen des Ostblocks. Man kann es beklatschen oder die Nase rümpfen: An der Einsicht, dass die Kirchen das gesellschaftliche und politische Leben zentral mitbestimmen, kommt man nicht vorbei. Und als Rückschritt, schreibt Nolte, muss diese Entwicklung auch nicht unbedingt gedeutet werden.
Das lineare und eindimensionale Modell der westlichen "Modernisierung", in dem sich der vermeintliche Fortschritt in klaren Übergängen von der feudalen zur kapitalistischen, von der ländlichen zur städtischen, und eben auch von der religiösen zur säkularen Gesellschaft vollzieht, ist schon seit längerer Zeit zweifelhaft geworden. Ihre "Meistererzählungen" gelten nicht mehr; stattdessen bestimmt die Neuerfindung von Traditionen, die Kreuzung verschiedener Entwicklungspfade die Ambivalenz von Innovation unser Bild der Moderne.
Die Diagnose ist ernüchternd, trifft leider aber zu: Das europäische Vernunftmodell ist an seine Grenzen gekommen. Die ideellen und ethischen Karten werden neu gemischt. Das anzuerkennen, fällt schwer, ist aber unumgänglich. Insofern ist dieses Buch, wenn man seinen Argumenten folgen will, auch eine kulturelle Herausforderung. Es verlangt vom Leser nicht weniger, als sich über die Koordinaten seines Vernunftbegriffes Gedanken zu machen. Und selbst derjenige, der zur Kirche ästhetisch und weltanschaulich auf Distanz geht, muss sich mit Nolte fragen, ob der Moderne nicht nur eine, Zitat, "Religionsfähigkeit", sondern auch eine "Religionsbedürftigkeit" gegenübersteht. Und man muss längst kein Esoteriker oder auch Wertkonservativer sein, um einzuräumen, dass die Vernunft nicht auf alle Fragen, leider nicht einmal alle weltlichen Fragen, eine Antwort hat.
Wo Säkularisierung stattgefunden hat, wo etablierte Religion institutionell oder individuell erodiert ist, sind Leerstellen geblieben, in die neue Formen auch der "säkularen" Religion eingetreten sind.
Diese Leerstellen füllt auch die Religion. Nicht nur sie allein, aber sie eben auch – und zwar zu großen Teilen. Tatsächlich, muss man einräumen, findet freiwilliges bürgerliches Engagement immer noch ganz wesentlich in der Nähe der christlichen Kirchen statt. Und die Aufgaben, die sie sich stellen, schreibt Nolte, erfüllten die Menschen, Zitat, "oft besser und effektiver" als sie selbst. Zudem gehen engagierte Menschen neue Bindungen ein, produzieren mithin, noch einmal Zitat, "soziales Kapital". Nicht-Christen mögen die religiösen Grundmotive engagierter Christen nicht nachvollziehen können – aber sie können sich auch nicht anmaßen, über sie ein letztes Urteil zu fällen. Noch weniger kann und darf das der Staat, der noch ein weiteres nicht kann.
Er kann nicht so tun, als sei Religion bloß Privatsache, wenn religiöse Überzeugungen einen erheblichen Teil der bürgergesellschaftlichen Infrastruktur tragen oder sich in öffentlichen Debatten und politischen Streitfragen argumentativ Gehör verschaffen.
Paul Nolte zeichnet das Bild einer durch den Säkularisierungsprozess selbstreflexiv gewordenen Religion. Das gilt sicher nicht für alle Anhänger dieser Religion. Eben darum kommt es darauf an, ihren reflektierten Mitgliedern umso genauer zuzuhören und anzuerkennen, wie viel sie in eine grundsätzliche säkulare Gesellschaft einbringen können. Das mag für säkular eingestellte Bürger eine Herausforderung sein. Aber indem sie sie annehmen, zeigen sie, dass sie ebenso zur Reflexion fähig sind wie die, deren religiöse Grundannahmen sie nicht teilen.
Kersten Knipp über Pault Nolte, "Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?". Das Buch ist erschienen bei der Berlin University Press, hat 136 Seiten und kostet 24,90 Euro (ISBN: 3940432644).
So lautet, kurzgefasst, der Kerngedanke von Paul Noltes Buch über "Religion und Bürgergesellschaft". "Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?" fragt der Untertitel, und die Antwort, die Nolte gibt, ist eindeutig: Ja, wir brauchen ihn. Nicht aus sentimentalen Gründen allerdings, sondern weil ein solcher Staat Ressourcen mobilisiert, die, verhielte er sich der Religion gegenüber weniger freundlich, ihm und seinen Bürgern bitter fehlen würden. Womit bereits gesagt ist, dass Nolte ausgesprochen nüchtern argumentiert.
Religion bildet, als Reflexion auf Transzendenz ebenso wie als religiöse Vergemeinschaftung, eine grundlegende Ressource der Bürgergesellschaft, deren Ausfall nicht ohne Weiteres kompensierbar ist, also von anderen Institutionen übernommen werden kann. Religion leistet einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung, nein, zur Konstituierung jener bürgerlichen Gesellschaft, auf die wir nicht verzichten wollen: einer bürgerlichen Gesellschaft, zu der nicht nur die individuelle Autonomie, sondern auch die Hinwendung zum anderen gehört; einer bürgerlichen Gesellschaft, die nicht nur der politischen Demokratie, sondern auch der ethischen Reflexion bedarf.
Natürlich, räumt Nolte ein, ist Religion mehr als nur eine sozial relevante Instanz. Aber um dieses Mehr geht es ihm nicht. Es bleibt außen vor, und genau das macht das Buch auch für Leser interessant, denen für letzte Fragen und noch mehr letzte Antworten der Sinn fehlt. Man muss kein Kind der Kirche sein, um den Argumenten des in Berlin lehrenden Historikers folgen zu können. Auch kann man Nolte in der durchaus nüchternen Bilanz folgen, die er angesichts der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der letzten 20, 30 Jahre zieht. Vieles hat sich dramatisch verändert. Die großen Organisationen, allen voran Parteien, Gewerkschaften, Kirchen haben an Attraktivität verloren, an ihre Stelle trat die Besinnung auf individuelle Freiheiten. Man mag das als Individualisierung des Denkens feiern und insofern als Fortschritt verzeichnen. Aber dieser Fortschritt hat auch einige Schattenseiten, allen voran Armut und Ausgeschlossenheit sowie Verlust sozialer Bindungen. Wie reagiert die Gesellschaft darauf? Wie reagiert man auf neue technische Herausforderungen, die Fragen, die die Gentechnik und Biowissenschaften aufwerfen ebenso wie die verschiedenen Bedrohungen der Umwelt, die paradigmatisch im Begriff "Klimawandel" zusammenlaufen? Nolte weist darauf hin, dass Vorschläge zur Bewältigung dieser Krisen zu guten Teilen auch von den Kirchen formuliert werden. Und er weist darauf hin, dass zwei zentrale Bewegungen des späten 20. Jahrhunderts zu nicht geringen Teilen von Christen mitgetragen wurden: die westdeutsche Friedensbewegung und die ostdeutsche und osteuropäische Protestbewegung gegen die Diktaturen des Ostblocks. Man kann es beklatschen oder die Nase rümpfen: An der Einsicht, dass die Kirchen das gesellschaftliche und politische Leben zentral mitbestimmen, kommt man nicht vorbei. Und als Rückschritt, schreibt Nolte, muss diese Entwicklung auch nicht unbedingt gedeutet werden.
Das lineare und eindimensionale Modell der westlichen "Modernisierung", in dem sich der vermeintliche Fortschritt in klaren Übergängen von der feudalen zur kapitalistischen, von der ländlichen zur städtischen, und eben auch von der religiösen zur säkularen Gesellschaft vollzieht, ist schon seit längerer Zeit zweifelhaft geworden. Ihre "Meistererzählungen" gelten nicht mehr; stattdessen bestimmt die Neuerfindung von Traditionen, die Kreuzung verschiedener Entwicklungspfade die Ambivalenz von Innovation unser Bild der Moderne.
Die Diagnose ist ernüchternd, trifft leider aber zu: Das europäische Vernunftmodell ist an seine Grenzen gekommen. Die ideellen und ethischen Karten werden neu gemischt. Das anzuerkennen, fällt schwer, ist aber unumgänglich. Insofern ist dieses Buch, wenn man seinen Argumenten folgen will, auch eine kulturelle Herausforderung. Es verlangt vom Leser nicht weniger, als sich über die Koordinaten seines Vernunftbegriffes Gedanken zu machen. Und selbst derjenige, der zur Kirche ästhetisch und weltanschaulich auf Distanz geht, muss sich mit Nolte fragen, ob der Moderne nicht nur eine, Zitat, "Religionsfähigkeit", sondern auch eine "Religionsbedürftigkeit" gegenübersteht. Und man muss längst kein Esoteriker oder auch Wertkonservativer sein, um einzuräumen, dass die Vernunft nicht auf alle Fragen, leider nicht einmal alle weltlichen Fragen, eine Antwort hat.
Wo Säkularisierung stattgefunden hat, wo etablierte Religion institutionell oder individuell erodiert ist, sind Leerstellen geblieben, in die neue Formen auch der "säkularen" Religion eingetreten sind.
Diese Leerstellen füllt auch die Religion. Nicht nur sie allein, aber sie eben auch – und zwar zu großen Teilen. Tatsächlich, muss man einräumen, findet freiwilliges bürgerliches Engagement immer noch ganz wesentlich in der Nähe der christlichen Kirchen statt. Und die Aufgaben, die sie sich stellen, schreibt Nolte, erfüllten die Menschen, Zitat, "oft besser und effektiver" als sie selbst. Zudem gehen engagierte Menschen neue Bindungen ein, produzieren mithin, noch einmal Zitat, "soziales Kapital". Nicht-Christen mögen die religiösen Grundmotive engagierter Christen nicht nachvollziehen können – aber sie können sich auch nicht anmaßen, über sie ein letztes Urteil zu fällen. Noch weniger kann und darf das der Staat, der noch ein weiteres nicht kann.
Er kann nicht so tun, als sei Religion bloß Privatsache, wenn religiöse Überzeugungen einen erheblichen Teil der bürgergesellschaftlichen Infrastruktur tragen oder sich in öffentlichen Debatten und politischen Streitfragen argumentativ Gehör verschaffen.
Paul Nolte zeichnet das Bild einer durch den Säkularisierungsprozess selbstreflexiv gewordenen Religion. Das gilt sicher nicht für alle Anhänger dieser Religion. Eben darum kommt es darauf an, ihren reflektierten Mitgliedern umso genauer zuzuhören und anzuerkennen, wie viel sie in eine grundsätzliche säkulare Gesellschaft einbringen können. Das mag für säkular eingestellte Bürger eine Herausforderung sein. Aber indem sie sie annehmen, zeigen sie, dass sie ebenso zur Reflexion fähig sind wie die, deren religiöse Grundannahmen sie nicht teilen.
Kersten Knipp über Pault Nolte, "Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?". Das Buch ist erschienen bei der Berlin University Press, hat 136 Seiten und kostet 24,90 Euro (ISBN: 3940432644).