Das größte Blutbad der jüngeren Geschichte von Nachbarn an ihren Nachbarn aber fand in Ruanda statt: Mitte der neunziger Jahre starben dort schätzungsweise 800.000 Menschen innerhalb weniger Monate. Getötet mit Hacken und Macheten, den Werkzeugen der Landbevölkerung.
Kigali. Aus der Ferne betrachtet, scheint die Stadt alles vergessen zu haben, alles verschlungen, alles verdaut. Straßen voller Menschen. Ein ständiger Strom von Autos. Jeder will seinen Platz finden, alles neu beginnen.
Véronique Tadjo, Schriftstellerin, geboren im Staat Elfenbeinküste und seitdem in wechselnden Ländern zu Hause, reiste vor drei Jahren mit neun weiteren afrikanischen Autorinnen und Autoren nach Ruanda. Die Reise ermöglichten die Organisatoren des alljährlich im nordfranzösischen Lille stattfindenden Kulturfestivals "Africa". "Schreiben gegen das Vergessen" nannten sie ihr Projekt: Mit literarischen Texten sollten die zehn Schriftsteller die Erinnerung an das Grauen wach halten. Véronique Tadjo wählte einen etwas anderen Weg: Sie verband einen Reisebericht mit Erzählungen. "Ich wollte mit der Fiktion arbeiten, doch gleichzeitig nahe an der Realität bleiben", sagte Tadjo in einem Interview.
Tausende von Gefangenen auf engstem Raum, jeder Zentimeter des Bodens ist belegt wie auf einem übervölkerten Markt, was soll man mit ihnen machen? Wie sie ernähren, kleiden, gesundheitlich versorgen, beschäftigen? Wie die Energie kanalisieren, bevor sie zur Explosion führt? Es gibt nicht genug Aufseher, von allem gibt es nicht genug. Nicht genug Lebensmittel, vor allem Teigwaren. Nicht genug Wasser. Die Gefangenen holen welches im See. Nicht genug Ärzte, Medikamente, Platz. Aids lauert in der Menge. Ruhr. Tuberkulose. Und wenn sie sterben, begräbt man sie hinter der Gefängnismauer. Eine Gruppe Frauen. Sie sitzen im Kreis in der für sie reservierten Ecke des Hofs. Jenseits einer unsichtbaren Trennungslinie singen und tanzen Männer, begleitet von Trommeln. Pfiffe skandieren den Rhythmus. Die Jüngeren treten einer nach dem andern vor und drehen Pirouetten. Kinder verkehren frei zwischen den Bereichen. Auch mehrere Frauen singen. Worum geht es in den Texten? 'Das sind Lieder Gottes', erklärt die Wortführerin.
"Der Schatten Gottes - Reise ans Ende Ruandas" heißt das Buch von Véronique Tadjo auf deutsch. "L´Ombre d´Imana" ist der Titel des französischen Originals. Imana, für die Menschen Ruandas der höchste Gott, hat sich zurückgezogen. Nur sein Schatten war noch da, verdunkelte das Land, kündigte den Genozid an.
Véronique Tadjo analysiert nicht, sie beschreibt eher. Aber ihre kurzen, prägnanten Texte sind weit mehr als Schilderungen dessen, was ist. Sie eröffnen Blicke hinter die Fassade von Grauen und Versteinerung - die eine lange Vorgeschichte haben.
Die Tutsi-Minderheit beherrschte über Jahrhunderte die bäuerlichen Hutu. Die Kolonialherren - erst die Deutschen, dann die Belgier - nutzten die Tutsi-Machthaber für ihre Interessen und vertieften dadurch die Gräben. In den fünfziger Jahren begannen Hutu, Machtpositionen zu besetzen. Die Tutsi gerieten in die Defensive. Vom Ausland her versuchten Tutsi-Rebellen der RPF, die Macht zurückzuerobern in dem hügeligen, übervölkerten Land. Militante Hutu rächten sich mit brutaler Gewalt an den im Land lebenden Tutsi. Das alles war vor dem Blutbad von 1994.
Tonia Locatelli. Gestorben am 9.3.1992. Sie war eine italienische Krankenschwester. Bereits 1992, als die ersten Massaker an den Tutsi begannen, hat sie bei den Behörden protestiert. Als man dort gleichgültig blieb, hat sie über einen ausländischen Sender Anklage erhoben: 'Man muss die Menschen hier retten, sie beschützen. Die Regierung steckt selbst hinter den Verbrechen!' Zwei Tage später wurde sie auf der Schwelle ihres Hauses von Soldaten ermordet. Sie mordeten auch in den Dörfern ringsum, brannten Häuser nieder. Die sich widersetzten, wurden entwaffnet und beseitigt. Eine hochgewachsene, schlanke Frau geht die Straße entlang. Sie muss eine Tutsi sein. Sie betrachtet unser Fahrzeug, das rote Staubwolken aufwirbelt. Man darf sich nicht auf die physische Erscheinung verlassen. Nicht alle Tutsi sind groß, nicht alle Hutu untersetzt. Bedingt durch die Heiraten zwischen den Bevölkerungsgruppen und unterschiedliche Grade ihrer Vermischung ließen sich Mörder bei der Jagd auf Tutsi die Ausweise zeigen, um ihre späteren Opfer zu identifizieren.
Anfang der neunziger Jahre schien eine Einigung zwischen den rivalisierenden politischen Gruppen möglich. Da stürzte das Flugzeug mit dem gemäßigten Hutu-Präsidenten an Bord ab - abgeschossen. Ein von langer Hand vorbereiteter Plan militanter Hutu zur Ausschaltung der Tutsi-Führungsschicht und gemäßigter Hutu wurde exekutiert.
Bei der Geschichte von Froduard, dem zum Mörder gewordenen Bauernjungen, hat Tadjo wohl die Grenze zur Fiktion überschritten - oder doch nicht?
Von den Hügeln herab, singend und im Laufschritt, es musste schnell gehen, zuschlagen, ohne zu überlegen, alles auf einmal: schlagen, hacken, mit Machete, Knüppel, Hacke. Du hast zugeschlagen und dir vor Eile manchmal nicht die Zeit genommen, das Blut spritzen zu sehen, den zertrümmerten Schädel. Ich hab eine alte Frau gesehen, die hat mit einem genagelten Stock das Kind ihrer Nachbarin getötet, und dann, als sie sagte: die andern nicht, hat ein Soldat sie getötet und alle Kinder der andern Frau. Zögern war nicht erlaubt, nur gehorchen und seine Arbeit tun. Sie mussten alle getötet werden, denn wenn einer entkam, konnte er sich der Rebellenarmee der RPF anschließen und zurückkommen und uns angreifen. Wir mussten auch die Kinder töten, denn viele Führer der RPF waren selbst Kinder, als sie damals aus dem Land geflohen sind. Die Säuberung musste unbedingt vollständig sein. Im Radio sagten sie, dass das Grab noch nicht voll ist und wir helfen müssen, es voll zu machen.
Und wie geht es weiter, nach den Morden? Véronique Tadjo erzählt von einem Rechtsanwalt aus einem anderen afrikanischen Land. Er vertritt Opfer und Täter - das sucht er sich nicht aus. Der Anwalt hat eine klare Vorstellung, was Not tut:
Wir brauchen Gerechtigkeit. Eine glaubwürdige Justiz. Wenn die Menschen die Rechtsprechung nicht anerkennen, wird es keine nationale Versöhnung geben... Es handelt sich schließlich darum, das Chaos zu ordnen. Ich bin optimistisch, die Menschen in Ruanda werden es schaffen. Es kann gar nicht anders sein, weshalb wäre ich sonst hier?
Solcher Optimismus fasziniert. Denn die Aufgabe für die Justiz ist gigantisch: 130.000 Menschen sitzen in Ruandas Gefängnissen ihre Strafe ab oder warten auf ihren Prozess. In Afrika gibt es - trotz allem - nicht wenige, die einen derartigen Optimismus ausstrahlen. Solche Menschen waren es, die in Südafrika die Wahrheitskommission ins Leben gerufen haben. Die Kommission hat gearbeitet. Die Wunden der Apartheid konnte sie nicht zum Verschwinden bringen - aber sie hat einen wichtigen Beitrag zur Heilung geleistet.
Gaby Mayr stellte das Buch vor von Véronique Tadjo: Der Schatten Gottes - Reise ans Ende Ruandas. Erschienen im Hammer-Verlag Wuppertal, hat es 124 Seiten und kostet 25 Mark.