"Wir dürfen ja nicht vergessen, dass auch in unserer Kultur Schleier und Haube Jahrhunderte lang kennzeichnend waren für die verheiratete Frau. "
Anne-Rose Meyer, Junior-Professorin für Germanistik an der Universität Hamburg
"Wir haben das althochdeutsche "'wiba", das Wort "wiba", was Verhüllen bedeutet, und was sich dann nachher zum Wort "Weib" heraus entwickelt hat. Und das ist eine lange Kultur des Verschleierns, die heute ja auch noch in Rudimenten vorhanden ist. Also dass ältere Frauen ein Kopftuch beispielsweise tragen oder dass wir heute sagen "den Schleier nehmen", wenn eine Nonne ins Kloster geht und sich mit Christus symbolisch vermählt."
Schleier sieht man also keineswegs nur an islamischen Frauen. Die gegenwärtige Diskussion um Verhüllungen wird aber zumeist auf bestimmte ethnische Gruppen und auf weibliche Personen reduziert, sagt Sabine Sielke, Professorin für Kulturwissenschaften an der Universität Bonn. Die Tagung sollte diese Einschränkung entlarven und den Blick erweitern, zum Beispiel auf das männliche Geschlecht.
"Ich denke, dass Männer sich genauso verschleiern wie Frauen, es ist bloß eine andere Form der Verschleierung, die nie als Verschleierung gesehen wurde. Wir kennen von den Henkern oder vom Ku-Klux-Klan diese Hauben, die sind also nicht immer mit Weiblichkeit, sondern auch mit bestimmten politischen Positionen verbunden. Wir kennen Begriffe wie Vermummungsverbot, Schleierfahndung, also ist auch aus der Kriminalistik, aus kriminellen Kontexten oder aus der Militärgeschichte durchaus ein Begriff, wo Verschleierung dann durchaus mit Männlichkeit assoziiert ist."
Phänomene der Verschleierung setzen komplexe Wahrnehmungsprozesse in Gang: Sie behindern den Blick, provozieren ein Bedürfnis nach Enthüllung und Aufklärung, und sie sind Projektionsfläche für Phantasie und Begehren. Schleier haben also vielfältige Funktionen, erklärt Sabine Sielke.
"Sie können zum Teil als Schutz benutzt werden oder als Schutz dienen, sie dienen demjenigen, der die Schleier hebt, dazu, seine Neugier zu befriedigen. Schleier sind Grenzen, sie sind Grenzen zwischen Wissenden und Unwissenden und zwischen sakralen Kontexten und säkularen Kontexten, sie sind immer auch Grenzphänomene, an denen Umbrüche stattfinden, vom eben Nichtwissen zum Wissen. Sie können natürlich auch dazu dienen, überhaupt über Verschleierung nachzudenken. Wenn man sich die Kunst von Christo anguckt, also Verpackungskünstler, die thematisieren letztendlich auch die Funktion von Verpackung, von Verschleierung. "
"Es gibt ein Wort von Friedrich Nietzsche: "Jede Kultur beginnt damit, dass eine Menge Dinge verschleiert werden". Wir haben, wenn wir an unser Alltagsleben denken, ja auch eine ganz konkrete Form von Schleiern oder eingeschränkter Sichtbarkeit, beispielsweise bei so was wie Vorhängen. Die ganz deutlich eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre signalisieren können. Der Katholik weiß, dass im Tabernakel die heiligen Gerätschaften, der Kelch, noch mal extra mit einem Tuch bedeckt ist, um noch mal ganz deutlich die Grenze zwischen heilig und profan zu markieren. "
Der Widerstreit von Verbergen und Enthüllen zieht sich durch alle Bereiche: das soziale und politische Leben, durch Kultur und Kommunikation. Dabei ist das Verhüllen nicht nur negativ besetzt. Die gesamte Literatur etwa lebt davon, Bedeutungen erst im Kopf des Lesers zu erzeugen. Das heißt: den Sinn so zu verschleiern, dass mehrere Lesarten möglich sind. Anne-Rose Meyer:
"Darüber hinaus gibt es natürlich diverse Gattungen, die mit kalkulierter Unschärfe arbeiten. Also wir denken beispielsweise an den Kriminalroman, bei dem ja auch nicht auf Seite eins enthüllt wird, das ist der Mörder, so ist es abgelaufen, ihn erwartet eine Strafe, sondern wo ja die Lösung des Knotens, die Spannungslösung bis ganz ans Ende verschoben ist. Das gilt auch für Abenteuerromane oder Spionageromane, Briefromane, also alles Gattungen, in denen es um Spannungserzeugung geht, auch erotische Literatur, die häufig mit Schlüsselloch-Situationen arbeitet, wo uns der nackte Leib einer Frau oder eines Mannes häufig gar nicht direkt dargeboten wird vor unserem geistigen Auge, sondern teilweise verhüllt, ausschnittweise, was eben auch dann zur Spannungssteigerung sehr beiträgt."
Auch der Film zieht Spannung aus dem Nicht-Gezeigten, erklärt Michael Wetzel, Professor für Filmwissenschaften in Bonn. Ein berühmtes Beispiel ist der Film "M" von Fritz Lang.
"Da geht es ja um einen Kindermörder, und dieser Kindermörder wird am Anfang nicht gezeigt. Gespielt von Peter Lorre, und das erste Mal, wie dieser Kindermörder im Film auftritt, ist als Schatten und als Stimme, die aus dem Off kommt. Man sieht dort ein Kind, das vor einer Litfasssäule steht, an der natürlich sinnigerweise das Plakat mit "Mörder gesucht" hängt, und den Ball immer gegen diese Litfasssäule wirft, man sieht erst einen Schatten, der über die Litfasssäule fällt, und dann aus dem Off kommt eine Stimme, die sagt, "Du hast aber einen schönen Ball!". Sozusagen der Mörder ist da, aber er ist noch nicht gesehen."
Das Verborgene, Nicht Sichtbare reizt uns, macht uns aber gleichzeitig Angst. Was erwartet uns hinter einer Verhüllung, einem Schleier oder einem Vorhang? Ist es eine Gefahr, ein Genuss, eine Sensation? Wir genießen diese Spannung, kosten die Ungewissheit aus. Und wir verschleiern uns auch selbst, meint die Kulturwissenschaftlerin Sabine Sielke.
"Ich denke, dass wir uns alle jeden Tag überall in gewisser Weise verschleiern und tarnen, das geht gar nicht anders. Wir inszenieren uns in unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Kontexten und wir tun das auf unterschiedliche Art und Weise. Ich denke, das gehört einfach zu unserem kulturellen Umgang und zu Formen von Kommunikation. Es ist natürlich so, dass wir selber auch gar nicht unbedingt wissen um die Tarnungen, um die Verschleierungen, die wir eigentlich tagtäglich im Umgang auch notwendigerweise brauchen und immer wieder bemühen müssen."
Vielleicht könnte man behaupten: Das Verschleiern ist ein natürliches Bedürfnis. Schließlich macht sich auch die Natur derartige Taktiken zunutze: Insekten und Reptilien ahmen an ihren Körperoberflächen andere Tiere nach. Pflanzen imitieren ihren Hintergrund, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Dieses Phänomen der Mimikry wurde in den letzten Jahrzehnten auch in den Kulturwissenschaften diskutiert. Die Frage war, ob Menschen ähnliche Strategien anwenden. Zum Beispiel, um Geschlechterrollen zu verändern.
"Frauen haben sich im 19. Jh. zum Teil Männerkleidung angezogen, um sich bestimmte Räume zu erobern, die sie vorher nicht besetzen konnten. Sie passen sich also an eine gewisse Norm an, sie passen sich aber auch an die Norm der Weiblichkeit an. Schon Anfang des 20. Jh. hat Joan Rivière Weiblichkeit als Maskerade beschrieben und das Gleiche können wir natürlich auch heute beobachten, wenn wir uns einen Megastar wie Madonna angucken, die uns das noch mal vorführt, also die uns das auch parodistisch noch mal nahe bringt: Weiblichkeit als eine Zitation von bestimmten Stilen, als Maskerade, die aber, und da ist wirklich der Unterschied zwischen dem Verständnis, was man früher hatte und was man heute hat, die nicht unbedingt eine wahre Weiblichkeit tarnt oder uns über diese täuscht."
Die wahre Weiblichkeit kann letztlich nicht enthüllt werden, sagt Sabine Sielke, denn sie existiert nicht als solche. Dennoch geben wir nicht auf: Wir möchten Schleier lüften, Maskeraden entfernen und das Wahre aufspüren, das darunter liegt. In letzter Zeit scheint dieser Drang sogar zuzunehmen.
"Diese Suche nach Wahrheiten, nach Authentischem, die wird natürlich auch befördert durch die vielen Oberflächenphänomene, mit denen wir konfrontiert sind. Also je mehr Oberfläche wir empfinden oder Oberflächlichkeit, desto mehr glaube ich sind wir als Menschen darauf aus, Wahrheiten zu suchen, darum ist das ein steter Widerstreit eigentlich zwischen diesen beiden Momenten der Wahrnehmung. Diese beiden Pole bedingen einander. Also wenn Sie sich angucken so Phänomene wie Reality TV oder der Ruf nach autobiographischer Literatur oder auch die Produktion von autobiographischer Literatur, das sind alles Phänomene, die auf das Wahre, das Authentische zielen. Und da gibt es ein großes Bedürfnis in der Gesellschaft, das aber gleichzeitig eben dadurch auch entstanden ist, dass diese Authentizität nicht zu erreichen ist. "
Es ist paradox: Wir haben das Gefühl, dass wir immer weniger eigene Erfahrungen machen und die Welt nur noch über mediale Inszenierungen wahrnehmen. Gleichzeitig erhoffen wir uns gerade von den Medien Einblicke in das wahre Leben. Fernsehkameras in jedem Winkel der Erde scheinen dies zu ermöglichen. Doch die All-Sichtbarkeit der Welt ist nur vorgegaukelt, sagt der Filmwissenschaftler Michael Wetzel.
"Weil jede Sichtbarkeit ist immer die Sichtbarkeit eines Ausschnittes. Das sehen wir ganz deutlich an den Informationsmedien. Wir sehen eine Nachrichtensendung, die uns zum Beispiel informiert über einen Aufstand, eine Revolution am anderen Ende der Welt. Aber wir sehen tatsächlich auf dem Bildschirm dieser Informationssendung sehen wir nur das, was der Kameramann aufgenommen hat. Er muss eine Auswahl treffen, er kann die Informationen natürlich steuern, das heißt, direkt neben der Kamera kann ein wichtiges Ereignis stattfinden, was aber von der Kamera nicht aufgezeichnet wird durch Zufall oder aus bestimmten Gründen, weil es zensiert ist, das heißt, im Grunde genommen: Die Allsicht als Allsicht gibt es gar nicht. Das heißt, jede Form der Sichtbarkeit beleuchtet immer nur einen Hof in einem großen Horizont der Unsichtbarkeit."
Auch die Wissenschaften haben dazu beigetragen, dass unser Bedürfnis nach Transparenz gewachsen ist. Die Teildisziplinen haben sich so stark spezialisiert, dass der Laie kaum versteht, wovon die Experten sprechen. Es besteht also großer Aufklärungsbedarf. Denn die Erkenntnisse vor allem aus der Naturwissenschaft haben gravierende Folgen für unser Leben - man denke nur an die Gentechnik oder Hirnforschung. In der Vergangenheit gingen viele Wissenschaftler davon aus, dass es eine objektive Wahrheit gibt, die man nur finden muss. Sie arbeiteten also mit dem Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit - ganz in der Tradition der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert. Doch in den letzten Jahren hat ein Umdenken begonnen, berichtet Sabine Sielke.
"Die neuere Kulturwissenschaft macht uns eigentlich immer mehr darauf aufmerksam, dass Vieles, was wir sehen oder was wir für wahr halten, Oberflächenphänomene sind. Und gleichzeitig wird sich die Naturwissenschaft auch immer bewusster darüber, dass sie natürlich auch immer nur vermitteln kann. Also wenn man an die bildgebenden Verfahren in der Computertomographie zum Beispiel denkt, also wie kann ich jetzt verbildlichen, welche Funktion bestimmte Gehirnareale haben. Da benutzen wir Techniken, die produzieren dann Bilder, die sehen eigentlich aus wie Popart. Und sie verschleiern auch zum Teil die Funktionen des Gehirns, denn sie können uns nichts über den Moment sagen des Erlebens, des Erfahrens dieses Menschen, der da letztendlich diese Bilder geliefert hat, sie regen Vergleiche an mit der Kunst, die uns dann wieder in ganz andere Bereiche bringen. "
Die Medien, die zur Aufklärung beitragen sollen, verfremden also gleichzeitig wieder die Phänomene, die sie erklären wollen - ein Dilemma.
"Metaphorisch kann man natürlich sagen, ist im Grunde genommen ja auch der Film nichts anderes als ein, im Französischen heißt das pellicule, und pellicule heißt Häutchen übersetzt. Es ist ein Häutchen, was als Träger zwischen das Objektiv und das Objekt dazwischen läuft, und gleichzeitig sozusagen ein Schleier ist, der dazwischen geschaltet ist, der aber als dieser Schleier das Sichtbare festhält. Und ähnlich haben wir ja im Deutschen diesen wunderschönen Begriff, der leider nicht in allen Sprachen funktioniert, beim Fernseher, wir sehen das Bild auch nicht nackt, sondern davor ist sozusagen eine Oberfläche geschaltet, und das ist der Bildschirm. Der sozusagen das Bild abschirmt, aber uns auch vor den Strahlungen der Bildröhre abschirmt, also immer wieder stoßen wir auf dieses Phänomen, dass der Schleier als das dazwischen Tretende dasjenige ist, das zwar trennt, aber gleichzeitig auch verbindet. "
Diese Ambivalenz wird sich niemals auflösen lassen, sagt Michael Wetzel, sie gehört einfach zum menschlichen Leben. Genauso wie die Phänomene der Täuschung, der Tarnung, des Verbergens und Verschleierns. Die Bonner Tagung richtete den Blick auf die Komplexität dieser Strategien und soll zugleich der Anfang eines größeren Projektes sein. Mit Unterstützung der Andrea von Braun Stiftung, die sich für fachübergreifende Forschung engagiert, soll das Thema vertieft werden und der Dialog weiter gehen - zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, Mathematik und Musikwissenschaft, Architektur und Theologie, Rechtswissenschaft und Militärgeschichte. Die Kulturwissenschaftlerin Sabine Sielke interessiert besonders, wie sich der Widerstreit zwischen Verbergen und Entschleiern auf unser Weltbild auswirkt.
"Inwiefern wird unsere Wahrnehmung der Welt letztendlich dadurch vorbestimmt, vorstrukturiert, vielleicht auch eingeschränkt? Weil wir immer darauf aus sind, etwas Verschleiertes zu enttarnen. Das ist eine Herangehensweise an die Welt, man könnte sich auch viele andere vorstellen. "
Denn eines sollte man bedenken, ergänzt der Filmwissenschaftler Michael Wetzel: Im Drang zur Entschleierung stecken letztlich auch destruktive Kräfte.
"Es gibt einen griechischen Begriff für die letzte Entschleierung. Und der heißt Apokalypse. 'Apo' heißt hoch und 'kalypse' ist die Hülle. Das ist der Moment, wo sozusagen der letzte Schleier hochgezogen wird, übersetzt dann natürlich religiös bei uns im Christentum durch den Begriff des Jüngsten Tages, da wo sozusagen die Wiederkehr Christi auf Erden und er gewissermaßen den letzten Schleier der Wirklichkeit wegzieht und das Nackte, Wahre zeigt. Aber gleichzeitig kippt diese Vorstellung der Entschleierung um in diesen zweiten Sinn von Apokalypse, nämlich der endgültigen Zerstörung."
Anne-Rose Meyer, Junior-Professorin für Germanistik an der Universität Hamburg
"Wir haben das althochdeutsche "'wiba", das Wort "wiba", was Verhüllen bedeutet, und was sich dann nachher zum Wort "Weib" heraus entwickelt hat. Und das ist eine lange Kultur des Verschleierns, die heute ja auch noch in Rudimenten vorhanden ist. Also dass ältere Frauen ein Kopftuch beispielsweise tragen oder dass wir heute sagen "den Schleier nehmen", wenn eine Nonne ins Kloster geht und sich mit Christus symbolisch vermählt."
Schleier sieht man also keineswegs nur an islamischen Frauen. Die gegenwärtige Diskussion um Verhüllungen wird aber zumeist auf bestimmte ethnische Gruppen und auf weibliche Personen reduziert, sagt Sabine Sielke, Professorin für Kulturwissenschaften an der Universität Bonn. Die Tagung sollte diese Einschränkung entlarven und den Blick erweitern, zum Beispiel auf das männliche Geschlecht.
"Ich denke, dass Männer sich genauso verschleiern wie Frauen, es ist bloß eine andere Form der Verschleierung, die nie als Verschleierung gesehen wurde. Wir kennen von den Henkern oder vom Ku-Klux-Klan diese Hauben, die sind also nicht immer mit Weiblichkeit, sondern auch mit bestimmten politischen Positionen verbunden. Wir kennen Begriffe wie Vermummungsverbot, Schleierfahndung, also ist auch aus der Kriminalistik, aus kriminellen Kontexten oder aus der Militärgeschichte durchaus ein Begriff, wo Verschleierung dann durchaus mit Männlichkeit assoziiert ist."
Phänomene der Verschleierung setzen komplexe Wahrnehmungsprozesse in Gang: Sie behindern den Blick, provozieren ein Bedürfnis nach Enthüllung und Aufklärung, und sie sind Projektionsfläche für Phantasie und Begehren. Schleier haben also vielfältige Funktionen, erklärt Sabine Sielke.
"Sie können zum Teil als Schutz benutzt werden oder als Schutz dienen, sie dienen demjenigen, der die Schleier hebt, dazu, seine Neugier zu befriedigen. Schleier sind Grenzen, sie sind Grenzen zwischen Wissenden und Unwissenden und zwischen sakralen Kontexten und säkularen Kontexten, sie sind immer auch Grenzphänomene, an denen Umbrüche stattfinden, vom eben Nichtwissen zum Wissen. Sie können natürlich auch dazu dienen, überhaupt über Verschleierung nachzudenken. Wenn man sich die Kunst von Christo anguckt, also Verpackungskünstler, die thematisieren letztendlich auch die Funktion von Verpackung, von Verschleierung. "
"Es gibt ein Wort von Friedrich Nietzsche: "Jede Kultur beginnt damit, dass eine Menge Dinge verschleiert werden". Wir haben, wenn wir an unser Alltagsleben denken, ja auch eine ganz konkrete Form von Schleiern oder eingeschränkter Sichtbarkeit, beispielsweise bei so was wie Vorhängen. Die ganz deutlich eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre signalisieren können. Der Katholik weiß, dass im Tabernakel die heiligen Gerätschaften, der Kelch, noch mal extra mit einem Tuch bedeckt ist, um noch mal ganz deutlich die Grenze zwischen heilig und profan zu markieren. "
Der Widerstreit von Verbergen und Enthüllen zieht sich durch alle Bereiche: das soziale und politische Leben, durch Kultur und Kommunikation. Dabei ist das Verhüllen nicht nur negativ besetzt. Die gesamte Literatur etwa lebt davon, Bedeutungen erst im Kopf des Lesers zu erzeugen. Das heißt: den Sinn so zu verschleiern, dass mehrere Lesarten möglich sind. Anne-Rose Meyer:
"Darüber hinaus gibt es natürlich diverse Gattungen, die mit kalkulierter Unschärfe arbeiten. Also wir denken beispielsweise an den Kriminalroman, bei dem ja auch nicht auf Seite eins enthüllt wird, das ist der Mörder, so ist es abgelaufen, ihn erwartet eine Strafe, sondern wo ja die Lösung des Knotens, die Spannungslösung bis ganz ans Ende verschoben ist. Das gilt auch für Abenteuerromane oder Spionageromane, Briefromane, also alles Gattungen, in denen es um Spannungserzeugung geht, auch erotische Literatur, die häufig mit Schlüsselloch-Situationen arbeitet, wo uns der nackte Leib einer Frau oder eines Mannes häufig gar nicht direkt dargeboten wird vor unserem geistigen Auge, sondern teilweise verhüllt, ausschnittweise, was eben auch dann zur Spannungssteigerung sehr beiträgt."
Auch der Film zieht Spannung aus dem Nicht-Gezeigten, erklärt Michael Wetzel, Professor für Filmwissenschaften in Bonn. Ein berühmtes Beispiel ist der Film "M" von Fritz Lang.
"Da geht es ja um einen Kindermörder, und dieser Kindermörder wird am Anfang nicht gezeigt. Gespielt von Peter Lorre, und das erste Mal, wie dieser Kindermörder im Film auftritt, ist als Schatten und als Stimme, die aus dem Off kommt. Man sieht dort ein Kind, das vor einer Litfasssäule steht, an der natürlich sinnigerweise das Plakat mit "Mörder gesucht" hängt, und den Ball immer gegen diese Litfasssäule wirft, man sieht erst einen Schatten, der über die Litfasssäule fällt, und dann aus dem Off kommt eine Stimme, die sagt, "Du hast aber einen schönen Ball!". Sozusagen der Mörder ist da, aber er ist noch nicht gesehen."
Das Verborgene, Nicht Sichtbare reizt uns, macht uns aber gleichzeitig Angst. Was erwartet uns hinter einer Verhüllung, einem Schleier oder einem Vorhang? Ist es eine Gefahr, ein Genuss, eine Sensation? Wir genießen diese Spannung, kosten die Ungewissheit aus. Und wir verschleiern uns auch selbst, meint die Kulturwissenschaftlerin Sabine Sielke.
"Ich denke, dass wir uns alle jeden Tag überall in gewisser Weise verschleiern und tarnen, das geht gar nicht anders. Wir inszenieren uns in unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Kontexten und wir tun das auf unterschiedliche Art und Weise. Ich denke, das gehört einfach zu unserem kulturellen Umgang und zu Formen von Kommunikation. Es ist natürlich so, dass wir selber auch gar nicht unbedingt wissen um die Tarnungen, um die Verschleierungen, die wir eigentlich tagtäglich im Umgang auch notwendigerweise brauchen und immer wieder bemühen müssen."
Vielleicht könnte man behaupten: Das Verschleiern ist ein natürliches Bedürfnis. Schließlich macht sich auch die Natur derartige Taktiken zunutze: Insekten und Reptilien ahmen an ihren Körperoberflächen andere Tiere nach. Pflanzen imitieren ihren Hintergrund, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Dieses Phänomen der Mimikry wurde in den letzten Jahrzehnten auch in den Kulturwissenschaften diskutiert. Die Frage war, ob Menschen ähnliche Strategien anwenden. Zum Beispiel, um Geschlechterrollen zu verändern.
"Frauen haben sich im 19. Jh. zum Teil Männerkleidung angezogen, um sich bestimmte Räume zu erobern, die sie vorher nicht besetzen konnten. Sie passen sich also an eine gewisse Norm an, sie passen sich aber auch an die Norm der Weiblichkeit an. Schon Anfang des 20. Jh. hat Joan Rivière Weiblichkeit als Maskerade beschrieben und das Gleiche können wir natürlich auch heute beobachten, wenn wir uns einen Megastar wie Madonna angucken, die uns das noch mal vorführt, also die uns das auch parodistisch noch mal nahe bringt: Weiblichkeit als eine Zitation von bestimmten Stilen, als Maskerade, die aber, und da ist wirklich der Unterschied zwischen dem Verständnis, was man früher hatte und was man heute hat, die nicht unbedingt eine wahre Weiblichkeit tarnt oder uns über diese täuscht."
Die wahre Weiblichkeit kann letztlich nicht enthüllt werden, sagt Sabine Sielke, denn sie existiert nicht als solche. Dennoch geben wir nicht auf: Wir möchten Schleier lüften, Maskeraden entfernen und das Wahre aufspüren, das darunter liegt. In letzter Zeit scheint dieser Drang sogar zuzunehmen.
"Diese Suche nach Wahrheiten, nach Authentischem, die wird natürlich auch befördert durch die vielen Oberflächenphänomene, mit denen wir konfrontiert sind. Also je mehr Oberfläche wir empfinden oder Oberflächlichkeit, desto mehr glaube ich sind wir als Menschen darauf aus, Wahrheiten zu suchen, darum ist das ein steter Widerstreit eigentlich zwischen diesen beiden Momenten der Wahrnehmung. Diese beiden Pole bedingen einander. Also wenn Sie sich angucken so Phänomene wie Reality TV oder der Ruf nach autobiographischer Literatur oder auch die Produktion von autobiographischer Literatur, das sind alles Phänomene, die auf das Wahre, das Authentische zielen. Und da gibt es ein großes Bedürfnis in der Gesellschaft, das aber gleichzeitig eben dadurch auch entstanden ist, dass diese Authentizität nicht zu erreichen ist. "
Es ist paradox: Wir haben das Gefühl, dass wir immer weniger eigene Erfahrungen machen und die Welt nur noch über mediale Inszenierungen wahrnehmen. Gleichzeitig erhoffen wir uns gerade von den Medien Einblicke in das wahre Leben. Fernsehkameras in jedem Winkel der Erde scheinen dies zu ermöglichen. Doch die All-Sichtbarkeit der Welt ist nur vorgegaukelt, sagt der Filmwissenschaftler Michael Wetzel.
"Weil jede Sichtbarkeit ist immer die Sichtbarkeit eines Ausschnittes. Das sehen wir ganz deutlich an den Informationsmedien. Wir sehen eine Nachrichtensendung, die uns zum Beispiel informiert über einen Aufstand, eine Revolution am anderen Ende der Welt. Aber wir sehen tatsächlich auf dem Bildschirm dieser Informationssendung sehen wir nur das, was der Kameramann aufgenommen hat. Er muss eine Auswahl treffen, er kann die Informationen natürlich steuern, das heißt, direkt neben der Kamera kann ein wichtiges Ereignis stattfinden, was aber von der Kamera nicht aufgezeichnet wird durch Zufall oder aus bestimmten Gründen, weil es zensiert ist, das heißt, im Grunde genommen: Die Allsicht als Allsicht gibt es gar nicht. Das heißt, jede Form der Sichtbarkeit beleuchtet immer nur einen Hof in einem großen Horizont der Unsichtbarkeit."
Auch die Wissenschaften haben dazu beigetragen, dass unser Bedürfnis nach Transparenz gewachsen ist. Die Teildisziplinen haben sich so stark spezialisiert, dass der Laie kaum versteht, wovon die Experten sprechen. Es besteht also großer Aufklärungsbedarf. Denn die Erkenntnisse vor allem aus der Naturwissenschaft haben gravierende Folgen für unser Leben - man denke nur an die Gentechnik oder Hirnforschung. In der Vergangenheit gingen viele Wissenschaftler davon aus, dass es eine objektive Wahrheit gibt, die man nur finden muss. Sie arbeiteten also mit dem Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit - ganz in der Tradition der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert. Doch in den letzten Jahren hat ein Umdenken begonnen, berichtet Sabine Sielke.
"Die neuere Kulturwissenschaft macht uns eigentlich immer mehr darauf aufmerksam, dass Vieles, was wir sehen oder was wir für wahr halten, Oberflächenphänomene sind. Und gleichzeitig wird sich die Naturwissenschaft auch immer bewusster darüber, dass sie natürlich auch immer nur vermitteln kann. Also wenn man an die bildgebenden Verfahren in der Computertomographie zum Beispiel denkt, also wie kann ich jetzt verbildlichen, welche Funktion bestimmte Gehirnareale haben. Da benutzen wir Techniken, die produzieren dann Bilder, die sehen eigentlich aus wie Popart. Und sie verschleiern auch zum Teil die Funktionen des Gehirns, denn sie können uns nichts über den Moment sagen des Erlebens, des Erfahrens dieses Menschen, der da letztendlich diese Bilder geliefert hat, sie regen Vergleiche an mit der Kunst, die uns dann wieder in ganz andere Bereiche bringen. "
Die Medien, die zur Aufklärung beitragen sollen, verfremden also gleichzeitig wieder die Phänomene, die sie erklären wollen - ein Dilemma.
"Metaphorisch kann man natürlich sagen, ist im Grunde genommen ja auch der Film nichts anderes als ein, im Französischen heißt das pellicule, und pellicule heißt Häutchen übersetzt. Es ist ein Häutchen, was als Träger zwischen das Objektiv und das Objekt dazwischen läuft, und gleichzeitig sozusagen ein Schleier ist, der dazwischen geschaltet ist, der aber als dieser Schleier das Sichtbare festhält. Und ähnlich haben wir ja im Deutschen diesen wunderschönen Begriff, der leider nicht in allen Sprachen funktioniert, beim Fernseher, wir sehen das Bild auch nicht nackt, sondern davor ist sozusagen eine Oberfläche geschaltet, und das ist der Bildschirm. Der sozusagen das Bild abschirmt, aber uns auch vor den Strahlungen der Bildröhre abschirmt, also immer wieder stoßen wir auf dieses Phänomen, dass der Schleier als das dazwischen Tretende dasjenige ist, das zwar trennt, aber gleichzeitig auch verbindet. "
Diese Ambivalenz wird sich niemals auflösen lassen, sagt Michael Wetzel, sie gehört einfach zum menschlichen Leben. Genauso wie die Phänomene der Täuschung, der Tarnung, des Verbergens und Verschleierns. Die Bonner Tagung richtete den Blick auf die Komplexität dieser Strategien und soll zugleich der Anfang eines größeren Projektes sein. Mit Unterstützung der Andrea von Braun Stiftung, die sich für fachübergreifende Forschung engagiert, soll das Thema vertieft werden und der Dialog weiter gehen - zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, Mathematik und Musikwissenschaft, Architektur und Theologie, Rechtswissenschaft und Militärgeschichte. Die Kulturwissenschaftlerin Sabine Sielke interessiert besonders, wie sich der Widerstreit zwischen Verbergen und Entschleiern auf unser Weltbild auswirkt.
"Inwiefern wird unsere Wahrnehmung der Welt letztendlich dadurch vorbestimmt, vorstrukturiert, vielleicht auch eingeschränkt? Weil wir immer darauf aus sind, etwas Verschleiertes zu enttarnen. Das ist eine Herangehensweise an die Welt, man könnte sich auch viele andere vorstellen. "
Denn eines sollte man bedenken, ergänzt der Filmwissenschaftler Michael Wetzel: Im Drang zur Entschleierung stecken letztlich auch destruktive Kräfte.
"Es gibt einen griechischen Begriff für die letzte Entschleierung. Und der heißt Apokalypse. 'Apo' heißt hoch und 'kalypse' ist die Hülle. Das ist der Moment, wo sozusagen der letzte Schleier hochgezogen wird, übersetzt dann natürlich religiös bei uns im Christentum durch den Begriff des Jüngsten Tages, da wo sozusagen die Wiederkehr Christi auf Erden und er gewissermaßen den letzten Schleier der Wirklichkeit wegzieht und das Nackte, Wahre zeigt. Aber gleichzeitig kippt diese Vorstellung der Entschleierung um in diesen zweiten Sinn von Apokalypse, nämlich der endgültigen Zerstörung."