Last&Lost" ist eine besondere Art der Vermessung der Welt, ein Netz aus Geschichten aufgespannt zwischen trigonometrischen Punkten, die es vielleicht schon jetzt nicht mehr gibt. Da dringt der Schriftsteller Vetle Line Larsen im norwegischen Vardö in die Bibliothek eines verlassenen Fischerstädtchens ein, entdeckt Marius Ivaskevicius im litauischen Grenzort Wershbolowo die Badewanne des Zaren und Andrzej Stasiuk erzählt, wie sich das Haus seines Großvaters in der Zeit aufzulösen beginnt. Doch mitnichten, meint der polnische Autor, gehe es in dem soeben bei Suhrkamp erschienen Text-Bildband "Last&Lost" um das Kultivieren einer melancholischen Verklärung, um das bloße Beschreiben von Ruinen der modernen Zivilisation, verfallender Dörfer und versteppender Landschaften.
"Der Ort in dem mein Großvater lebte," erzählt Andrzej Stasiuk, "ist gerade in seinem Zerfall ein bemerkenswerter Ort. Er liegt an der Kreuzung verschiedener Religionen und Sprachen, in Polen und doch auch in der Ukraine. Denn hier wohnen die Lemken, ein Völkchen, das weder Polnisch noch Ukrainisch spricht, sondern eine Mutation aus beidem. Zugleich ist es ein orthodoxes Dorf, in dem sich die Erinnerung an die KuK-Monarchie versteckt. Eine Erinnerung, die einem deutlich macht, dass dieses Gebiet hier einmal zu einem weiten nicht durch Grenzen begrenzten Raum gehörte."
Was Stasiuk beschreibt, ist zugleich Thema eines heute im Rahmen des "Last&Lost"-Projektes beginnenden zweitägigen Symposiums in Berlin. Es widmet sich einer der interessantesten Tendenzen in der zeitgenössischen europäischen Literatur - Jenem topographischen Zugang zu den literarischen Sujets, der uns Bücher bescherte wie Andrzejs Stasiuks "Welt hinter Dukla" etwa oder Karl Schlögels "Marjampole". Ihnen allen gemeinsam ist eine rhapsodisch-essayistische Schreibweise, die historische Schichten und jene verschütteten und in Vergessenheit geratenen Steinchen freilegt, aus denen die Brücken gebaut waren, die Europa kulturell verbanden. "Last&Lost", so meint der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch, leiste zu dieser neuen "Form literarischer Archäologie" einen wichtigen Beitrag:
"Vielleicht kann ich und meine Kollegen nicht viel. Die jetzige Generation, die bei uns in der Literatur engagiert sind, die machen viel für den Wiederaufbau dieser Brücken, wenn sie zum Beispiel Autoren der Zwischenkriegszeit ins Ukrainische übersetzen. In den letzten Jahren erschienen in Cernowitz Bücher, Anthologien, die dieses deutschsprachige Erbe interpretieren. Das klingt. Das lautet: Paul Celan! Alfred Gonk! – ja natürlich. Ein wunderbares Buch von Rose Ausländer."
Auch Juri Andruchowytsch wird dabei sein, wenn die Autoren des Buches in den kommenden zwei Tagen in der Berliner Volksbühne gemeinsam das Ergebnis ihrer Vermessung Europas vorstellen. Texte, in denen sich nicht selten überraschende Beziehungen offenbaren, zwischen Orten, die nie etwas miteinander zu tun hatten. Etwa, wenn Christoph Ransmayr im irischen Flecken Glaisin Alainn und der Autor Mircea Cartarescu im Donauörtchen Cazane entdecken, wie Ruinen hier wie dort als topografischen Punkte der Erinnerung funktionieren. Und nicht zuletzt dokumentiert "Last&Lost" in seinen Fotografien kaum für möglich gehaltene kulturelle Verwandtschaften, so zum Beispiel zwischen den alten Festungsanlagen im französischen Longues sur mer und dem Städtchen Fürstenwalde an der Spree, dessen Wälder der britische Fotograf Angus Boulton auf der Suche nach alten Sporthallen der Sowjetarmee durchstreifte:
"Wenn ich die Menschen frage, sagt Boulton, wo ich diese alten Orte finde, dann antworten die mir, alles sei kaputt und sie glauben wirklich, dass die Dinge nicht mehr existieren. Doch sie sind noch da und immer, wenn ich in ihren Ruinen stehe, bin ich beeindruckt von diesen Farben der Vergangenheit, von dem morbiden Charme und all den Symbolen einer vergangenen Zeit. Es ist kurios, für die Leute existiert all das nicht mehr und doch ist es da. Als würden zwei Zeitalter nebeneinander exisitieren. Mag es für die meisten bereits Vergangenheit sein, für mich und viele andere ist das nicht der Fall."
Angus Boultons Bilder und die Fotos seiner Kollegen aus der Türkei, Serbien, Bulgarien und Deutschland stellen die verschwindenden Orte noch einmal ins Hier und Heute, bevor das Zeitfenster sich hinter ihnen schließt und sie dem Vergessen anheim gibt. "Bilder eines verschwindenden Europas" nennt sich denn auch die zu "Last&Lost" gehörende Ausstellung im Münchner Literaturhaus.
www.lastandlost.com
"Der Ort in dem mein Großvater lebte," erzählt Andrzej Stasiuk, "ist gerade in seinem Zerfall ein bemerkenswerter Ort. Er liegt an der Kreuzung verschiedener Religionen und Sprachen, in Polen und doch auch in der Ukraine. Denn hier wohnen die Lemken, ein Völkchen, das weder Polnisch noch Ukrainisch spricht, sondern eine Mutation aus beidem. Zugleich ist es ein orthodoxes Dorf, in dem sich die Erinnerung an die KuK-Monarchie versteckt. Eine Erinnerung, die einem deutlich macht, dass dieses Gebiet hier einmal zu einem weiten nicht durch Grenzen begrenzten Raum gehörte."
Was Stasiuk beschreibt, ist zugleich Thema eines heute im Rahmen des "Last&Lost"-Projektes beginnenden zweitägigen Symposiums in Berlin. Es widmet sich einer der interessantesten Tendenzen in der zeitgenössischen europäischen Literatur - Jenem topographischen Zugang zu den literarischen Sujets, der uns Bücher bescherte wie Andrzejs Stasiuks "Welt hinter Dukla" etwa oder Karl Schlögels "Marjampole". Ihnen allen gemeinsam ist eine rhapsodisch-essayistische Schreibweise, die historische Schichten und jene verschütteten und in Vergessenheit geratenen Steinchen freilegt, aus denen die Brücken gebaut waren, die Europa kulturell verbanden. "Last&Lost", so meint der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch, leiste zu dieser neuen "Form literarischer Archäologie" einen wichtigen Beitrag:
"Vielleicht kann ich und meine Kollegen nicht viel. Die jetzige Generation, die bei uns in der Literatur engagiert sind, die machen viel für den Wiederaufbau dieser Brücken, wenn sie zum Beispiel Autoren der Zwischenkriegszeit ins Ukrainische übersetzen. In den letzten Jahren erschienen in Cernowitz Bücher, Anthologien, die dieses deutschsprachige Erbe interpretieren. Das klingt. Das lautet: Paul Celan! Alfred Gonk! – ja natürlich. Ein wunderbares Buch von Rose Ausländer."
Auch Juri Andruchowytsch wird dabei sein, wenn die Autoren des Buches in den kommenden zwei Tagen in der Berliner Volksbühne gemeinsam das Ergebnis ihrer Vermessung Europas vorstellen. Texte, in denen sich nicht selten überraschende Beziehungen offenbaren, zwischen Orten, die nie etwas miteinander zu tun hatten. Etwa, wenn Christoph Ransmayr im irischen Flecken Glaisin Alainn und der Autor Mircea Cartarescu im Donauörtchen Cazane entdecken, wie Ruinen hier wie dort als topografischen Punkte der Erinnerung funktionieren. Und nicht zuletzt dokumentiert "Last&Lost" in seinen Fotografien kaum für möglich gehaltene kulturelle Verwandtschaften, so zum Beispiel zwischen den alten Festungsanlagen im französischen Longues sur mer und dem Städtchen Fürstenwalde an der Spree, dessen Wälder der britische Fotograf Angus Boulton auf der Suche nach alten Sporthallen der Sowjetarmee durchstreifte:
"Wenn ich die Menschen frage, sagt Boulton, wo ich diese alten Orte finde, dann antworten die mir, alles sei kaputt und sie glauben wirklich, dass die Dinge nicht mehr existieren. Doch sie sind noch da und immer, wenn ich in ihren Ruinen stehe, bin ich beeindruckt von diesen Farben der Vergangenheit, von dem morbiden Charme und all den Symbolen einer vergangenen Zeit. Es ist kurios, für die Leute existiert all das nicht mehr und doch ist es da. Als würden zwei Zeitalter nebeneinander exisitieren. Mag es für die meisten bereits Vergangenheit sein, für mich und viele andere ist das nicht der Fall."
Angus Boultons Bilder und die Fotos seiner Kollegen aus der Türkei, Serbien, Bulgarien und Deutschland stellen die verschwindenden Orte noch einmal ins Hier und Heute, bevor das Zeitfenster sich hinter ihnen schließt und sie dem Vergessen anheim gibt. "Bilder eines verschwindenden Europas" nennt sich denn auch die zu "Last&Lost" gehörende Ausstellung im Münchner Literaturhaus.
www.lastandlost.com