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Verschwurbelte Konstruktion

Die 1943 in Zürich geborene Autorin Ursula Priess ist eines der drei Kinder aus der ersten Ehe von Max Frisch (1911 – 1991). Bislang veröffentlichte sie nur Texte in Anthologien, im Jahr 2008 gab sie einen Band mit dem Titel "Istanbul" mit türkischen Erzählungen heraus. Das autobiografische Buch "Montauk" von Max Frisch, auf das sich die Mutter-Vater-Prosa von Ursula Priess bezieht, erschien 1975.

Eine Besprechung von Ursula März | 17.06.2009
    Aus dem wahrhaft reichen Genre der Söhne- und Töchterliteratur, das in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufblühte und Jahr um Jahr literarische Früchte abwirft - aus diesem Genre ging eine Art Untergenre hervor: Die Söhne- und Töchterliteratur berühmter Eltern. Vor ein paar Jahren erschien ein Prosaessay von Lars Brandt über seinen legendären Vater Willy Brandt und erst vor ein paar Monaten kam im Hanser Verlag die deutsche Übersetzung des Buches von David Rieff "Tod einer Untröstlichen" heraus, in dem sich der Sohn Susan Sonntags mit dem letzten Lebenskapitel seiner weltberühmten Mutter auseinandersetzt. Es sind Bücher, in denen ein Kampf mit einem Phantom stattfindet, der Kampf mit dem Bild des öffentlichen Vaters, das sich über das Bild des privaten Vaters legt und der Tochter- oder Sohnesseele entwendet. Auch Ursula Priess, Tochter des 1991 verstorbenen Schriftsteller Max Frisch, eines von drei Kindern aus Frischs erster Ehe, tritt in ihrem Prosatext "Sturz durch alle Spiegel" mit Besitzwünschen nach dem Vater auf. "Sturz durch alle Spiegel", ihr erstes belletristisches Buch, folgt dem dringenden, ja quälenden, bisweilen sogar etwas penetranten Impuls, den Vater, der sich von der Familie abwendete, als sie eine Jugendliche war, und der ihr jahrzehntelang durch seine Literatur und seinen literarischen Ruhm entwendet schien, zurück zu erobern. Im Unterschied zu anderen Söhne- und Töchterbüchern, die der Distanz, der Trennung dienen, dient dieses dem Bedürfnis nach väterlicher Nähe, nach Zuneigung und Intimität, die es für Ursula Priess im Verhältnis mit Max Frisch zumindest subjektiv offenbar nicht gab. Die Erinnerungen, die sie passagenhaft versammelt, laufen auf die immergleiche traumatische Kränkungserfahrung hinaus: Ignoriert zu werden. Entweder vom Vater selbst, der auch der erwachsenen, als Heilpädagogin längst erfolgreichen Tochter nie richtig, nie interessiert zuhört, der sich nach Abschieden nie umdreht, so als habe er sie schon nach einer Sekunde vergessen. Oder von Menschen ignoriert zu werden, die sie, sobald sie wissen, dass sie die Tochter von Max Frisch vor sich haben, nur noch unter der Schlüssellochperspektive dieser Sensation wahrnehmen. Was Ursula Priess hier vorträgt, lässt sich menschlich leicht verstehen. Aber ihre Ambition geht über die menschlich-psychologische Mitteilung weit hinaus ins Literarische. Dort, in seinem ureigensten Feld, will sie dem Vater und Schriftsteller begegnen, um nicht zu sagen: Ihn symbolisch umarmen. Bis in die Dramaturgie der lockeren Prosasequenzen mit verstreuten Überschriften, bis ins Seitenbild hinein, ähnelt der "Sturz durch alle Spiegel" jenem wegen seiner unverhüllten Autobiografik umstrittenen Buch "Montauk", in dem Max Frisch 1975 über seine Frauen und Liebesverhältnisse schrieb. Die geheime Hauptfigur von "Montauk" ist Ingeborg Bachmann, mit der Frisch sieben Jahre lang liiert war. Und sie ist auch die heimliche Hauptfigur bei Ursula Priess. Denn um die töchterlichen Erinnerungen liegt eine delikate Rahmenhandlung, die in der dritten Person Singular erzählt ist: Eine nicht mehr junge Frau hat ein romantische Verabredung mit einem ebenfalls nicht mehr jungen Mann in Venedig, mit dem sie ein Jahr lang ausschließlich telefoniert hat. Sie gehen ins Cafe, sie flirten, kommen sich näher, die Gespräche werden intimer und ein Verdacht der Frau, der Tochter Max Frischs scheint sich zu bestätigen: Dass es sich bei ihrem männlichen Gegenüber um eben jenes Phantom, jenen heimlichen Liebhaber Ingeborg Bachmanns handelt, dessen unnachweisbare Existenz Max Frisch einst in den Wahnsinn der Eifersucht trieb. Jetzt also tritt er als Phantom der Tochter erneut in Erscheinung in ihrer Prosa auf. Nicht nur, dass diese narrative Konstruktion verschwurbelt daher kommt - sie ist auch ein fast schmerzlicher Hinweis darauf, dass hier Mimikry betrieben wird, dass eine Tochter, die ihre Geschichte entwendet glaubt vom berühmten Vater, den Ball zurückspielt und seine Geschichte entwendet.

    Ursula Priess: "Sturz durch alle Spiegel"
    Ammann Verlag Zürich, 2009. 168 Seiten. 18,90 Euro