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Versklavter Feind

Physiologie. - Retroviren, derzeit am bekanntesten ist das Aids-Virus, sind grundsätzlich Feinde des Körpers. Doch konnte der menschliche Organismen einige dieser Feinde offenbar nicht nur besiegen, sondern auch quasi versklaven: Ein Retrovirus etwa ist in der Plazenta aktiv.

Von Volkart Wildermuth |
    Zu Beginn, vor rund 40 Millionen Jahren hatte das Virus die Oberhand. Zufällig infizierte es eine Ei- oder Samenzelle. Nach Art der Retroviren baute es seine eigenen Gene in das Erbgut seines Opfers ein und hatte damit sozusagen den Jackpot geknackt: es wurde als Provirus in der DNA von Generation zu Generation weitervererbt und konnte immer neue Virenpartikel produzieren. Irgendwann in der weiteren Evolution gelang es dem menschlichen Körper aber, diese Invasion von innen einzudämmen: er markierte die Virengene und schaltete sie ab.

    "Und deshalb hat man lange Zeit gedacht, dass es sich bei den integrierten Retroviren um Müll handelt, um Junk-DNA. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, dass wohl einige dieser endogenen Retroviren erhalten sind, dass sie in der Evolution nicht stillgelegt wurden und dass sie auch eine wichtige Funktion im Organismus haben."

    Dr. Joachim Denner, Spezialist für Retroviren am Robert-Koch-Institut in Berlin. In den 70er-Jahren entdeckten Forscher, dass zwei Gene von Retroviren in der Plazenta aktiv sind. Das galt zunächst als Kuriosität, in jüngster Zeit wurde aber klar: es handelt sich keineswegs um einen Zufall. Die genetische Kontrolle des Körpers erlaubt nur die Bildung des Hüllproteins der früheren Viren. Aus Sicht der Krankheitserreger war es entscheidend für die Infektion, es zog Virus und Wirtszelle eng zusammen. Denner:

    "Und dabei kommt es zu einer Verschmelzung der Virenmembran und der Zellmembran. Und diese Eigenschaft, die alle Retroviren haben, wird offensichtlich in der Plazenta ausgenutzt und dadurch kommt es zu einer Verschmelzung der Zellen."

    Anders als der Rest des Körpers besteht die äußere Schicht der Plazenta nicht aus Einzelzellen. Vielmehr lösen sich ihre Trennwände auf, es bildet sich eine große Einheit in der Hunderte von Zellkernen frei herumschwimmen. Wahrscheinlich können so besonders effektiv Nährstoffe vom Blut der Mutter zum sich entwickelnden Embryo transportiert werden. Das eigentlich stillgelegte Virus dient als Geburtshelfer dieser besonderen Struktur. Denner:

    "Das Virus wir also sozusagen benutzt, um diese Zellschicht, diese miteinander verschmolzene Zellschicht zu bilden."

    Und nicht nur das. Das Vireneiweiß dämpft auch die Reaktion des Immunsystems. Ursprünglich sollte das eine Infektion erleichtern. Aber auch an der Kontaktstelle zwischen Mutter und Kind wäre eine allzu wachsame Abwehr fatal. Schließlich enthält das Kind zur Hälfte väterliches Erbgut und ist damit potentiell ein Ziel für das mütterliche Immunsystem. Denner:

    "Deshalb wird eine Immunsuppression benötigt, die sicher aus verschiedenen Faktoren besteht, hormoneller Art ist aber hier könnten auch diese endogenen Retroviren eine Rolle spielen."

    Eine genau beschränkte Rolle allerdings. Schließlich kann es der menschliche Körper nicht riskieren, dass sich die Virenreste im Genom tatsächlich wieder selbstständig machen und neue Infektionsketten starten, betont Joachim Denner.

    "Wir konnten zeigen, dass diese Viren in den Zellen und in den Geweben, wo sie nicht benötigt werden, sozusagen kaltgestellt sind, Aber dass in der Plazenta eine Feinregulierung stattfindet, die eine Expression während der Schwangerschaft erlaubt."

    Die Retroviren im Genom mögen potentiell gefährlich sein, sie verfügen aber über Eigenschaften, die in der besonderen Situation der Plazenta vorteilhaft sind. Warum ein Eiweiß zur Verschmelzung von Zellmembranen erst entwickeln, wenn es vor Millionen Jahren praktisch fertig von einem Retrovirus angeliefert wurde? Und wenn es dazu noch eine Dämpfung der mütterlichen Immunreaktion ermöglicht, umso besser! Ein Retrovirus für diese Aufgabe quasi zu versklaven, ist nicht nur den Affen und Menschen gelungen, auch Mäuse und Schafe haben je eigene Retroviren im Genom, die sie in der Schwangerschaft für kurze Zeit von der Leine lassen. Die Evolution ist eben ein Bastler der pragmatisch verwendet, was verfügbar ist. Selbst, wenn es sich um einen ehemaligen Feind handelt.