Samstag, 27. April 2024

Licht und Schatten
Verständlichkeit im Bundestag

Fachbegriffe, Abkürzungen, „Denglisch“ – die Sprache der Politik wird oft als unverständlich kritisiert. Aber, ist das wirklich so? Die Universität Hohenheim hat erneut Bundestagsreden untersucht und kommt zu einem Ergebnis mit Licht und Schatten.

05.03.2024
    Berlin: Blick in den Plenarsaal bei der aktuellen Stunde im Bundestag mit dem Thema "Wehrhafte Demokratie gegen Demokratiefeinde und Vertreibungspläne".
    Debatten prägen die Plenararbeit des Bundestags. Doch sind die Reden auch für die Bevölkerung gut verständlich? Die Uni Hohenheim hat das für den Dlf untersucht. (Kay Nietfeld/dpa)
    Auf Anregung der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion hat die Universität Hohenheim die formale Verständlichkeit von beinahe einhundert Reden geprüft. Sie alle stammen aus der Haushaltsdebatte des Bundestags im vergangenen September. Mit dabei waren sämtliche diskutierten Politikfelder sowie alle Parteien und Fraktionen.

    Stark-Watzinger wieder weit vorne

    Bettina Stark-Watzinger lieferte in der Debatte über den Einzelplan ihres Ministeriums für Bildung und Forschung die formal verständlichste Rede. Die FDP-Politikerin hatte bereits 2022 unter den Kabinettsmitgliedern sehr gut abgeschnitten. Jens Spahn folgt im Gesamtranking auf Platz zwei. Platz drei teilen sich mehrere Politikerinnen und Politiker: Gesine Lötzsch (Linke), Victor Perli (Linke), Reinhard Brandl (CDU) und Sepp Müller (CDU). Die formal unverständlichsten Reden hielten Claudia Raffelhüschen (FDP) und Agnieszka Brugger (Grüne).

    Scholz vor Merz – aber beide unter „ferner liefen“

    Für das Kabinett wurde ein eigenes Ranking erstellt: Hinter Stark-Watzinger folgen auf den Plätzen zwei und drei Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Beide haben damit im Vergleich zu 2022 Plätze gutgemacht. Den letzten Platz belegt – erneut – die Rede von Umweltministerin Steffi Lemke.
    In der traditionell besonders beachteten Aussprache über den Kanzleretat schnitt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in punkto formaler Verständlichkeit etwas besser ab als Unions-Fraktionschef Friedrich Merz. Scholz und Merz liegen mit ihren Reden allerdings im Gesamt-Vergleich aller Rednerinnen und Redner nur auf den Plätzen 57 bzw. 71.

    „Luft nach oben“ wegen einschlägiger Verständlichkeitshürden

    Prof. Dr. Frank Brettschneider und Dr. Claudia Thoms von der Uni Hohenheim haben die Untersuchung geleitet. Sie sind mit der Verständlichkeit der Reden im Ganzen zufrieden. Insgesamt halten die Politikerinnen und Politiker das hohe Niveau von 2022. „Im Schnitt sind die Haushaltsreden etwas verständlicher als die Reden der Vorstandsvorsitzenden auf den Jahreshauptversammlungen der DAX-40-Unternehmen. Dennoch ist bei einigen noch Luft nach oben“, so Frank Brettschneider. Knapp 70 Prozent der Reden erreichen mindestens das Verständlichkeitsniveau der Wirtschaftsbosse. Das heiße aber auch: Knapp 30 Prozent der Haushaltsreden – von Vertretern aller Parteien – liegen unter dem Verständlichkeitsniveau der zum Vergleich herangezogenen CEO-Reden aus dem Jahr 2023. Claudia Thoms nennt die Verständlichkeitshürden: „Fremdwörter und Fachwörter, Wortkomposita und Nominalisierungen, Anglizismen und ‚Denglisch‘, lange Sätze – all das erschwert die Verständlichkeit“.

    Verständliche Vermittlung komplexer Zusammenhänge immer wichtiger

    Deutschlandfunk-Nachrichtenchef Marco Bertolaso betont: „Die verständliche Vermittlung komplexer Zusammenhänge wird für den Informationsjournalismus immer wichtiger. Deswegen werden wir uns in der Nachrichtenredaktion dieses Jahr mit dem Thema Verständlichkeit verstärkt beschäftigen. Angesichts einer kaum noch überschaubaren Menge an Informationen reagieren viele Menschen mit Nachrichtenvermeidung oder sie werden empfänglich für schlichte Parolen. Auch die Politik ist hier in der Verantwortung.“ Bertolaso fordert: „Abgeordnete, aber auch Ministerien und Behörden müssen besser erklären und zugleich der Versuchung widerstehen, auf PR-Floskeln zurückzugreifen oder auf die Polemik im Stil mancher Social-Media-Accounts.“
    Die gesamte Untersuchung der Universität Hohenheim ist hier abrufbar.

    Hintergrund: „Der Hohenheimer Verständlichkeitsindex“

    Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Brettschneider und sein Team forschen seit 2007 zu einer Vielzahl von sprachlichen Parametern, mit denen man die formale Verständlichkeit von Texten und Reden möglichst objektiv messen kann. Dafür setzen sie eine für diesen Zweck entwickelte Software ein. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z. B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter). Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen. Er bildet die Verständlichkeit von Texten auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab.
    Mit Hilfe des „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ wurden so in den letzten Jahren etwa Wahlprogramme und Koalitionsverträge, Pressemitteilungen von Unternehmen und Ministerien sowie Reden von Vorstandsvorsitzenden auf den DAX-Hauptversammlungen untersucht. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung kommen auf Werte zwischen 11 und 14. Die Reden in der aktuell untersuchten Haushaltsdebatte erreichten im Schnitt einen Wert von 15.