Wenn man der Rhetorik hiesiger Vorreiter des "Kampfs der Kulturen" glaubt, dann sind islamische Gotteskrieger schlicht und einfach Dämonen. Sherko Fatah macht es sich in seinem neuen Roman "Das dunkle Schiff" nicht so einfach. Er betreibt eine Spurensuche nach einem dieser Krieger, die mehr Fragen aufwirft als vorschnelle Antworten weiß.
Fatah, der 1964 in der damaligen DDR geboren wurde, hat einen deutsch-irakischen Familienhintergrund, der ihn zum Grenzgänger zwischen den Kulturen macht. Sein letzter Roman "Onkelchen" kreiste um einen kurdisch-irakischen Lehrer, ein Folteropfer, das illegal in Deutschland lebt, und Fatah ging der Frage nach, ob und wieweit es möglich ist, fremdes Leiden überhaupt zu verstehen.
Einfühlung und Befremdung zeichnen auch den neuen Roman aus - Fatah thematisiert die Verbindung von Gewalt und Glaube, die nicht nur im Irak, sondern auch im Westen stattfindet. "Das dunkle Schiff" ist keine eindimensionale Warnung vor "dem" Islam, keine einfache Geschichte über den heiligen Krieg mit seinen Tätern und Opfern - denn Kerim, die fiktive Hauptfigur, ist Täter und Opfer zugleich. Man sympathisiert über weite Strecken mit ihm und will verstehen, was sich in ihm abspielt.
Der Roman beginnt mit einem traumatisierenden Erlebnis: Kerim, ein kleiner Junge noch, steht mit seinem Vater Anfang der achtziger Jahre irgendwo in den irakischen Bergen; weiter entfernt sammeln alte Frauen Kräuter. Es ist ruhig, und die Landschaft erscheint dem Kind "wie eine geöffnete Hand". Dann landet ein Helikopter. Soldaten zwingen die Frauen, einzusteigen.
"Er stand und sah sie abheben, ruckartig erst, dann unaufhaltsam, wie in den Himmel gezogen ... Ganz leicht legte sich der Helikopter auf die Seite und flog erneut seine weite Kurve, schraubte sich allmählich höher und höher, bis er befreit im Himmel dahinschwamm. Er blickte ihnen nach und winkte wieder. Und tatsächlich kam die Maschine erneut heran, das Donnern wurde laut und lauter, bis er sich die Ohren zuhielt. Den Kopf im Nacken sah er die Frauen. Da fielen sie, eine nach der anderen stürzte aus der Luke, mit gebreiteten Armen glänzten sie auf im Licht, und wie um sie aufzuhalten, riss an ihren Gewändern der Wind. "
Am Ende des Romans wird der erwachsene Kerim in Berlin erstochen. Ein Buch also, ausgespannt zwischen Mord und Mord. Was ist es für ein Leben dazwischen?
Schon vor Kerims Geburt beginnt der erste Golfkrieg; aber in der abgelegenen Gegend, in der die Familie lebt, gibt es auch einen vergleichsweise friedlichen Alltag. Das Kind ist schon früh ein Einzelgänger; es hadert mit sich selbst. Als der opportunistische Vater nach einer ersten halbherzigen Geste des Widerspruchs von Geheimdienstleuten des Regimes fast beiläufig ermordet wird, übernimmt Kerim sein Restaurant.
Eines Tages entführen die Gotteskrieger den jungen Erwachsenen, weil sie sein Auto brauchen, und danach lebt er ohne Einwände mit ihnen. Kerim, der nie sonderlich religiös war, macht mithilfe seines charismatischen Lehrers die spirituelle Erfahrung eines überwältigenden Einsseins mit sich und der Welt. Dabei könnten einige Floskeln dieses Lehrers auch von jedem Sonntagsredner kommen: Freiheit brauche Grenzen. Jeder Mensch sei auf die Gemeinschaft angewiesen und ihr verpflichtet. Der Westen kenne als Werte nur Geld und Profit. Was in dieser Abstraktheit alles und nichts sagt, wird mörderisch, wenn die Gotteskrieger es in Taten umsetzen: Alle, auch "westlich infinzierte Moslems", sind Todfeinde, sofern sie einen "feigen Frieden" mit dem irdischen Leben schließen. Kerim dient als Handlanger bei mehreren Anschlägen.
Weil er aber selbst nicht töten kann, flieht er; dabei gerät er oft in Lebensgefahr, etwa im Frachtraum eines Schiffs nach Europa. In Berlin hilft ihm der Onkel beim Asylverfahren und er findet eine deutsche Freundin. Trotzdem: Die Gewalt, die er im Irak erlebte, bleibt unvergessen, und ist dabei doch unaussprechbar; ein Tabu. Er und seine Freunde, auch sie Migranten, leben in einem Sinn-Vakuum. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und ein zielloser Tatendrang führt die verunsicherten jungen Männer nacheinander, als Vereinzelte, in die Arme des islamischen Extremismus. Damit wird die Welt erneut übersichtlich; es gibt Brüder und Feinde, der Glaube wird untrennbar mit Gewalt verbunden - und Kerim wird als Verräter des heiligen Krieges umgebracht.
Sherko Fatah hat einen spannenden, handlungsreichen und komplexen Roman geschrieben, der auch für junge Erwachsene gut lesbar ist, ohne dass das auf Kosten seiner Literarität ginge. Die Sprache hat oft poetische Züge, ohne dass hier "schöngeschrieben" würde, und sie ist bei aller Präzision behutsam. Kerim wird nicht pathologisiert, und damit trägt der Roman zur Ernüchterung der Debatte um islamischen Extremismus bei.
Kerim ist im Grunde eine tragische Figur, er ist nicht Subjekt seiner eigenen Geschichte: Oft sind es Zufälle, die sein Leben bestimmen. Er ist kein hasserfüllter Gotteskrieger, sondern entspricht in vielem dem Klischee "des" jungen Erwachsenen, das heißt er sucht nach Sinn und Grenzüberschreitung, er fühlt sich von radikaler Rhetorik angezogen - und der Onkel rätselt, warum ausgerechnet "Religion", bis hin zu diversen christlichen Sekten, so bedeutsam geworden ist, nachdem sie in seiner Jugend als rückständig galt.
Fatah bietet keine allgemeine Erklärung für den Paradigmenwechsel von politischen hin zu religiösen Bewegungen. Es geht dem Autor eher darum, Verstrickung und den Verlust an Entscheidungsfreiheit an einem einzelnen Beispiel darzustellen. Eine wichtige Rolle bei der Vereinsamung Kerims spielt das Schweigen, das die irakische Gesellschaft prägt; man fürchtet Spitzel bis in die Familien hinein.
"In den Gesprächen der Männer entstanden öfter unvermittelt Pausen, die niemand unterbrach, ganz so, als hätte ihr Reden geschwärzte Passagen. ... Kerim war vertraut mit dieser Art von Vertuschung allerorten. Sie geschah meistens unabsichtlich, war mehr ein Reflex. Hatte irgendjemand etwas Merkwürdiges gesehen und war leichtsinnig genug, darüber zu reden, so bekam er Antworten wie etwa: War bestimmt nur dies oder das. Es geschah auch - Kerim hatte das im Gasthaus beobachtet - dass einfach niemand antwortete, was sehr ungewöhnlich war und den Sprecher alarmieren musste. ... Sein Vater hockte sich nieder... "Erinnerst du dich... was habe ich dir damals gesagt?" Kerim überlegte: "Wenn ich niemals darüber rede, wird es irgendwann nur noch wie ein Traum sein..." Sein Vater nickte. "Man vergisst es nicht, aber es ist nicht mehr so wichtig. Rede nicht darüber, zu niemandem..." "
Nicht sehen, nicht hören, nicht schreien. So erreichen Kerim auch mehrere gut gemeinte Angebote im Irak oder in Deutschland nicht; er sucht seinen Halt eher bei abstrakten "reinen" Ideen als bei konkreten, fehlbaren Leuten. Kerim sieht sich gefangen in einem Netz aus Ansprüchen, eigenem Versagen und Schuld, als Opfer - und der Autor lässt die Figuren in seinem Roman nicht diskutieren; vielleicht hätte das dem Helden geholfen. Es bleiben Leerstellen, und gerade die reizen dazu, nachzudenken, wo sich eine rettende Lücke für Kerim hätte auftun können.
Sherko Fatah erhebt also nicht den Anspruch, alles enträtseln zu können - er wahrt fast sämtlichen Figuren gegenüber Distanz, ja Respekt. Ein einziger der Gotteskrieger wird als brutaler Mörder gezeigt, obwohl der spirituelle Lehrer mit seiner verbalen Verführungskraft ebenso gefährlich ist: Beides erwachsene Männer, die halbe Kinder als lebendige Bomben fernsteuern. Dies Buch zeigt erschreckend detailgenau, wie Gewalt aussieht, wie sie klingt, was sie zerstört, ohne dass man hier von Sensationslüsternheit sprechen wollte. Denn die Sprache des Romans wahrt eine Gespanntheit, sie hält die Balance zwischen Nähe und Distanz, Verstehen und Befremdung.
Sherko Fatah: Das dunkle Schiff. Roman.
Jung und Jung, 430 Seiten, 22 Euro
Fatah, der 1964 in der damaligen DDR geboren wurde, hat einen deutsch-irakischen Familienhintergrund, der ihn zum Grenzgänger zwischen den Kulturen macht. Sein letzter Roman "Onkelchen" kreiste um einen kurdisch-irakischen Lehrer, ein Folteropfer, das illegal in Deutschland lebt, und Fatah ging der Frage nach, ob und wieweit es möglich ist, fremdes Leiden überhaupt zu verstehen.
Einfühlung und Befremdung zeichnen auch den neuen Roman aus - Fatah thematisiert die Verbindung von Gewalt und Glaube, die nicht nur im Irak, sondern auch im Westen stattfindet. "Das dunkle Schiff" ist keine eindimensionale Warnung vor "dem" Islam, keine einfache Geschichte über den heiligen Krieg mit seinen Tätern und Opfern - denn Kerim, die fiktive Hauptfigur, ist Täter und Opfer zugleich. Man sympathisiert über weite Strecken mit ihm und will verstehen, was sich in ihm abspielt.
Der Roman beginnt mit einem traumatisierenden Erlebnis: Kerim, ein kleiner Junge noch, steht mit seinem Vater Anfang der achtziger Jahre irgendwo in den irakischen Bergen; weiter entfernt sammeln alte Frauen Kräuter. Es ist ruhig, und die Landschaft erscheint dem Kind "wie eine geöffnete Hand". Dann landet ein Helikopter. Soldaten zwingen die Frauen, einzusteigen.
"Er stand und sah sie abheben, ruckartig erst, dann unaufhaltsam, wie in den Himmel gezogen ... Ganz leicht legte sich der Helikopter auf die Seite und flog erneut seine weite Kurve, schraubte sich allmählich höher und höher, bis er befreit im Himmel dahinschwamm. Er blickte ihnen nach und winkte wieder. Und tatsächlich kam die Maschine erneut heran, das Donnern wurde laut und lauter, bis er sich die Ohren zuhielt. Den Kopf im Nacken sah er die Frauen. Da fielen sie, eine nach der anderen stürzte aus der Luke, mit gebreiteten Armen glänzten sie auf im Licht, und wie um sie aufzuhalten, riss an ihren Gewändern der Wind. "
Am Ende des Romans wird der erwachsene Kerim in Berlin erstochen. Ein Buch also, ausgespannt zwischen Mord und Mord. Was ist es für ein Leben dazwischen?
Schon vor Kerims Geburt beginnt der erste Golfkrieg; aber in der abgelegenen Gegend, in der die Familie lebt, gibt es auch einen vergleichsweise friedlichen Alltag. Das Kind ist schon früh ein Einzelgänger; es hadert mit sich selbst. Als der opportunistische Vater nach einer ersten halbherzigen Geste des Widerspruchs von Geheimdienstleuten des Regimes fast beiläufig ermordet wird, übernimmt Kerim sein Restaurant.
Eines Tages entführen die Gotteskrieger den jungen Erwachsenen, weil sie sein Auto brauchen, und danach lebt er ohne Einwände mit ihnen. Kerim, der nie sonderlich religiös war, macht mithilfe seines charismatischen Lehrers die spirituelle Erfahrung eines überwältigenden Einsseins mit sich und der Welt. Dabei könnten einige Floskeln dieses Lehrers auch von jedem Sonntagsredner kommen: Freiheit brauche Grenzen. Jeder Mensch sei auf die Gemeinschaft angewiesen und ihr verpflichtet. Der Westen kenne als Werte nur Geld und Profit. Was in dieser Abstraktheit alles und nichts sagt, wird mörderisch, wenn die Gotteskrieger es in Taten umsetzen: Alle, auch "westlich infinzierte Moslems", sind Todfeinde, sofern sie einen "feigen Frieden" mit dem irdischen Leben schließen. Kerim dient als Handlanger bei mehreren Anschlägen.
Weil er aber selbst nicht töten kann, flieht er; dabei gerät er oft in Lebensgefahr, etwa im Frachtraum eines Schiffs nach Europa. In Berlin hilft ihm der Onkel beim Asylverfahren und er findet eine deutsche Freundin. Trotzdem: Die Gewalt, die er im Irak erlebte, bleibt unvergessen, und ist dabei doch unaussprechbar; ein Tabu. Er und seine Freunde, auch sie Migranten, leben in einem Sinn-Vakuum. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und ein zielloser Tatendrang führt die verunsicherten jungen Männer nacheinander, als Vereinzelte, in die Arme des islamischen Extremismus. Damit wird die Welt erneut übersichtlich; es gibt Brüder und Feinde, der Glaube wird untrennbar mit Gewalt verbunden - und Kerim wird als Verräter des heiligen Krieges umgebracht.
Sherko Fatah hat einen spannenden, handlungsreichen und komplexen Roman geschrieben, der auch für junge Erwachsene gut lesbar ist, ohne dass das auf Kosten seiner Literarität ginge. Die Sprache hat oft poetische Züge, ohne dass hier "schöngeschrieben" würde, und sie ist bei aller Präzision behutsam. Kerim wird nicht pathologisiert, und damit trägt der Roman zur Ernüchterung der Debatte um islamischen Extremismus bei.
Kerim ist im Grunde eine tragische Figur, er ist nicht Subjekt seiner eigenen Geschichte: Oft sind es Zufälle, die sein Leben bestimmen. Er ist kein hasserfüllter Gotteskrieger, sondern entspricht in vielem dem Klischee "des" jungen Erwachsenen, das heißt er sucht nach Sinn und Grenzüberschreitung, er fühlt sich von radikaler Rhetorik angezogen - und der Onkel rätselt, warum ausgerechnet "Religion", bis hin zu diversen christlichen Sekten, so bedeutsam geworden ist, nachdem sie in seiner Jugend als rückständig galt.
Fatah bietet keine allgemeine Erklärung für den Paradigmenwechsel von politischen hin zu religiösen Bewegungen. Es geht dem Autor eher darum, Verstrickung und den Verlust an Entscheidungsfreiheit an einem einzelnen Beispiel darzustellen. Eine wichtige Rolle bei der Vereinsamung Kerims spielt das Schweigen, das die irakische Gesellschaft prägt; man fürchtet Spitzel bis in die Familien hinein.
"In den Gesprächen der Männer entstanden öfter unvermittelt Pausen, die niemand unterbrach, ganz so, als hätte ihr Reden geschwärzte Passagen. ... Kerim war vertraut mit dieser Art von Vertuschung allerorten. Sie geschah meistens unabsichtlich, war mehr ein Reflex. Hatte irgendjemand etwas Merkwürdiges gesehen und war leichtsinnig genug, darüber zu reden, so bekam er Antworten wie etwa: War bestimmt nur dies oder das. Es geschah auch - Kerim hatte das im Gasthaus beobachtet - dass einfach niemand antwortete, was sehr ungewöhnlich war und den Sprecher alarmieren musste. ... Sein Vater hockte sich nieder... "Erinnerst du dich... was habe ich dir damals gesagt?" Kerim überlegte: "Wenn ich niemals darüber rede, wird es irgendwann nur noch wie ein Traum sein..." Sein Vater nickte. "Man vergisst es nicht, aber es ist nicht mehr so wichtig. Rede nicht darüber, zu niemandem..." "
Nicht sehen, nicht hören, nicht schreien. So erreichen Kerim auch mehrere gut gemeinte Angebote im Irak oder in Deutschland nicht; er sucht seinen Halt eher bei abstrakten "reinen" Ideen als bei konkreten, fehlbaren Leuten. Kerim sieht sich gefangen in einem Netz aus Ansprüchen, eigenem Versagen und Schuld, als Opfer - und der Autor lässt die Figuren in seinem Roman nicht diskutieren; vielleicht hätte das dem Helden geholfen. Es bleiben Leerstellen, und gerade die reizen dazu, nachzudenken, wo sich eine rettende Lücke für Kerim hätte auftun können.
Sherko Fatah erhebt also nicht den Anspruch, alles enträtseln zu können - er wahrt fast sämtlichen Figuren gegenüber Distanz, ja Respekt. Ein einziger der Gotteskrieger wird als brutaler Mörder gezeigt, obwohl der spirituelle Lehrer mit seiner verbalen Verführungskraft ebenso gefährlich ist: Beides erwachsene Männer, die halbe Kinder als lebendige Bomben fernsteuern. Dies Buch zeigt erschreckend detailgenau, wie Gewalt aussieht, wie sie klingt, was sie zerstört, ohne dass man hier von Sensationslüsternheit sprechen wollte. Denn die Sprache des Romans wahrt eine Gespanntheit, sie hält die Balance zwischen Nähe und Distanz, Verstehen und Befremdung.
Sherko Fatah: Das dunkle Schiff. Roman.
Jung und Jung, 430 Seiten, 22 Euro