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Versuch einer Annäherung

Ferdinand Hodler gilt als einer der Gründerväter der Moderne, Vertreter des Symbolismus und des Jugendstils, und er ist der bekannteste Schweizer Maler des 19. Jahrhunderts. Der Durchbruch war ihm ausgerechnet in Paris gelungen, mit seinem berühmten Gemälde "Die Nacht". Heute ist Ferdinand Hodlers Werk nach wie vor in Europa in Ausstellungen zu sehen - doch in Frankreich hat man ihn vergessen. Das Pariser Musée d'Orsay will das jetzt korrigieren.

Von Björn Stüben | 17.11.2007
    Die Schau, die das Pariser Musée d'Orsay gerade zeigt, scheint zu den bereits winterlichen Temperaturen in der französischen Hauptstadt zu passen. Das Ausstellungsplakat zeigt die von einigen wenigen tief hängenden Wolken belebte Kulisse einer Alpengipfelkette in eisigen Blautönen vor hellblauem Himmel, gemalt vor knapp einhundert Jahren vom 1853 in Bern geborenen und 1918 in Genf gestorbenen Schweizer Künstler Ferdinand Hodler.

    Doch die Ausstellung hält nicht ganz, was das Plakat verspricht, denn dem Pariser Publikum, von dem ein Großteil die Kunst Hodlers gar nicht kennt, wird durchaus kein dekorativer Landschaftsmaler präsentiert. "Die Nacht", von Hodler selbst als eines seiner Hauptwerke bezeichnet, macht dies bereits zu Beginn der Schau deutlich. Die monumentale Komposition zeigt sechs wie auf einer Bühne in der freien Natur auf dem Boden ausgestreckt schlafende Männer und Frauen, in deren Mitte eine muskulöse Männerfigur mit vor Schreck erstarrtem Gesichtsausdruck die ganz in schwarz gehüllte Gestalt des Todes abzuwehren versucht.

    Inhaltlich ein symbolistisches Werk, doch stilistisch ein Paradebeispiel für den Realismus. Mit dieser eigenwilligen Kunstauffassung feierte Hodler in seiner Heimat und in Deutschland um 1900 große Erfolge. Konnte er diese auch bei den französischen Nachbarn verzeichnen? Sylvie Patry, Konservatorin am Musée d'Orsay, die über achtzig Werke des Schweizers in der Schau vereinen konnte, über Hodlers Verhältnis zu Frankreich:

    "Hodler stellte erstmals 1881 in Paris aus. Es handelte sich dabei um ein Selbstportrait, das ihn in wütender Pose beim Lesen eines Artikels in der Presse zeigt, in dem sein künstlerisches Schaffen scharf kritisiert wurde. Der damals 28-jährige Hodler träumte davon, sich in der Kunsthauptstadt Paris einen Namen als Maler zu machen. Mit seiner Monumentalkomposition "Die Nacht", einem seiner bis heute berühmtesten Werke, gelang ihm das eigentlich auch. Doch sein Erfolg blieb nur relativ. Auch wenn er bis um 1900 fast jedes Jahr Bilder zu Ausstellungen nach Paris schickte, gelang es ihm jedoch nie, auch nur ein einziges davon in Frankreich zu verkaufen."

    Französische Künstlerkollegen wie Puvis de Chavannes und Rodin, die in ihrer Kunst ebenfalls die Monumentalität anstrebten, zeigten sich begeistert von Hodlers Werken. Doch es gab auch andere Stimmen.

    "Die zeitgenössischen Kritiker warfen Hodler vor, seine Kunst wäre roh und grobschlächtig. Um die Jahrhundertwende kursierte die Vorstellung, dass die Kunst jeweils den nationalen Charakter eines Volkes widerspiegelt und somit betrachteten sich die Franzosen als klassisch und Hodler galt ihnen als gotisch. Er wäre zu sehr an der spätmittelalterlichen und nordischen Kunst orientiert. Zweifellos bewunderte Hodler vor allem Albrecht Dürer. Sein Stil wurde daher als germanisch betrachtet. Bedenkt man das gespannte Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich um 1900, dann wird verständlich, dass einem germanischen Künstler damals wenig Interesse entgegengebracht wurde."

    Die Zeiten haben sich zum Glück geändert. Doch das Pathos in Hodlers Bildern ist dasselbe geblieben. Das großformatige Bild "Die Wahrheit" von 1903 ist zentriert auf eine fahlweiße nackte Frauengestalt mit ausgestreckten Armen. Sechs Männer in Rückenansicht scheinen im Halbkreis einen Ausdruckstanz aufzuführen. Gleißendes Licht lässt die Szene optisch gefrieren. Vier Frauenfiguren im 1902 entstandenen Bild "Das Gefühl" durchschreiten vom Betrachter abgewandt ein Klatschmohnfeld. Ihre Gesten sollen unterschiedliche Gefühlsregungen verbildlichen. Hodlers Kunst war und ist sicher keine leichte Kost.

    "Eigentlich müsste die Kunst Hodlers dem heutigen französischen Publikum gefallen. Die letzte große Hodler-Ausstellung fand 1983 in Paris statt und damals konzentrierte sich die Kritik vor allem auf Hodler als Nationalmaler der Schweiz und als Porträtist der alpinen Bergwelt. Das war ein sehr eingeengter Blickwinkel. Unsere jetzige Schau will Hodlers europäische Bedeutung unterstreichen. Sicherlich lassen er und seine Kunst sich nicht aus dem Schweizer Kontext herauslösen, aber er gehörte zu den großen Künstlerfiguren der Jahrhundertwende, die natürlich in Zürich und Genf, aber eben vor allem auch in Paris, Berlin, München und Wien ausstellten."

    Von der Schau im Musée d'Orsay, die erstmals nach beinahe einem Vierteljahrhundert wieder Werke von Hodler in einer überzeugenden Auswahl in Paris vorführt, werden dem Publikum vielleicht weniger die pathetischen Großformate als vielmehr die Portraits und Landschaftsbilder in Erinnerung bleiben. So stehen Hodlers ausdrucksstarke Selbstportrait den Meisterwerken eines Courbet, die gerade im Pariser Grand Palais gezeigt werden, in nichts nach. Vor allem aber laden Hodlers See- und Bergansichten die Besucher ein, den direkten Vergleich mit den Bildern Cezannes zu unternehmen, die einige Stockwerke höher im Musée d'Orsay hängen. Der Natur ihre formalen Konstanten zu entlocken und sie im Bild wieder neu zu erschaffen, das schwebte offenbar beiden Künstlern vor. Und vielleicht könnte sich auf diese Art und Weise am Ende auch das Pariser Publikum an die Kunst Ferdinand Hodlers gewöhnen.