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Verteidigung der offenen Gesellschaft

In Oslo hat die norwegische Regierung für den Sonntag zu einer nationalen Gedenkveranstaltung für die Opfer der Terroranschläge eingeladen. Beim Stockholmer Kulturfestival sind Schriftsteller aus Norwegen vertreten, die die Verbrechen vor allem mit der Vereinsamung des Täters und seiner Flucht in die virtuellen Welten des Internets erklären.

Von Agnes Bührig |
    Die Dachterrasse des Kulturhauses im Zentrum von Stockholm ist bis auf den letzten Platz besetzt. Mehr als 100 Menschen sind gekommen, um Beate Grimsrud zuzuhören. Sie steht auf einer kleinen, schwarz eingerahmten Bühne und erzählt von "ihrem" 22. Juli 2011. Seit mehr als 20 Jahren wohnt die 48-jährige Schriftstellerin in Schweden, doch als sie von den Terrorattentaten erfuhr, war sie gedanklich und gefühlsmäßig sofort wieder in ihrer alten Heimat Norwegen. Die Reaktionen der norwegischen Politiker haben ihr Respekt eingeflößt, sagt Grimsrud:

    "Norwegen wird kein Polizeistaat werden. Wir werden die offene Gesellschaft verteidigen und nicht mehr Waffenlizenzen vergeben und mehr Kontrollen einführen wie die USA. Das haben die Politiker auch so gesagt. Und ich war stolz auf Ministerpräsident Stoltenberg, dass er Gefühle zeigen und das Volk in so einer sorgenvollen Situation einen konnte."

    Die Anschläge des Anders Behring Breivik kamen für Norwegen völlig unerwartet: Eine Zäsur in der Geschichte der jungen Nation, die erst 1905 ihre Selbstständigkeit von Schweden erlangte. Katastrophen habe es schon gegeben: Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Nationalsozialisten das Land, 1980 kenterte die Bohrinsel Alexander Kielland - mehr als 100 Menschen starben. Aber mit den Terroranschlägen habe Norwegen seine Unschuld verloren, sagt die Schriftstellerin Beate Grimsrud. Ob die Parteien, auch die rechtspopulistische Fortschrittspartei, eine Teilschuld tragen, sei jedoch schwer zu sagen, meint sie:

    "Die Fortschrittspartei ist eine populistische Partei, aber sie hat sich in der letzten Zeit mehr dem Mainstream zugewandt. Sie drückt sich nicht mehr so einwandererfeindlich aus, bewegt sich politisch in Richtung Mitte. Früher hatte sie mal bis zu 25 Prozent der Wählergunst, aber das ist heute nicht mehr so. Breivik war eine Zeit lang dort Mitglied, aber ich glaube, dass die Fortschrittspartei eher mit der Arbeiterpartei zu vergleichen ist als mit dem, was Breivik gemacht hat. Sie steht nicht für Gewalt und Terror in der Gesellschaft."

    Grimsrud, die derzeit mit einem Roman über das Leben einer psychisch kranken Frau in Schweden Furore macht, glaubt, dass die Tat vor allem mit der Vereinsamung des Täters und seiner Flucht in die virtuellen Welten des Internets zu erklären ist. Diese Auffassung vertritt auch der norwegische Bestsellerautor Karl-Ove Knausgård. Er hat Hitlers Pamphlet "Mein Kampf" mit dem sogenannten Manifest verglichen, das Breivik kurz vor seiner Tat in Umlauf brachte:

    "Beide Texte haben ein paranoides Weltbild. 1924 wird alles Verrückte in der Welt auf Juden und Bolschewiken geschoben, 2011 auf Kulturmarxisten und Muslime. Beide Texte geben eine genaue Beschreibung, wie das Fremde gestoppt werden soll. Beide Texte sind voll von hasserfüllten Gedanken, geäußert von Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Es ist von uns und ihnen die Rede, nie aber von einem du. Weder Hitler noch Breivik lässt sich korrigieren, keiner der beiden nimmt Rücksicht oder hat ein Gegenüber."

    Breivik ist nicht psychisch krank, sagt Beate Grimsrud. Er ist in einer krankhaften Weise auf sein Ziel fixiert. Ein Gegenüber würde da stören. Um die Tat nachvollziehbar machen und bearbeiten zu können, verbleibt ihr als Schriftstellerin nur, an den Humanismus zu appellieren.

    Deshalb hat sie einen Text geschrieben, der erklärt, warum die Gesellschaft grundsätzlich gut funktioniert. Warum geht nicht jeder Mensch auf die Straße und schießt um sich, warum baut nicht jeder eine Bombe, obwohl alle wissen, wie es geht? Wir sollten uns daran erinnern, dass es in Norwegen fünf Millionen Menschen gibt, die nicht um sich geschossen haben, sagt sie.