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Vertonte Hoffnung

Zu den Eigenarten des Schleswig-Holstein-Musikfestivals gehört es, dass es jeweils einem Land gewidmet ist – diesmal Polen. Einer der Polen-Höhepunkte fand gestern unter dem Titel "Vertonte Hoffnung" in der Hamburger Kirche St. Michaelis statt: Krzysztof Penderecki dirigierte sein "Polnisches Requiem".

Von Frieder Reininghaus |
    "Bekenntniswerke" wollen qua Definitionem in einer bestimmten Weise funktionieren. Sie genießen den Vorteil, dass sie ein doppelter Kriterien-Kanon begleitet und würdigt. Zum einen wird nach Sinn und Substanz, Tragfähigkeit und Reichweite ihrer "Botschaft" gefragt. Erst in zweiter Linie stehen ästhetische Disposition, das Performative und die technische Qualität der Ausführung zur Diskussion.

    Krzysztof Pendereckis "Polnisches Requiem" für Solostimmen, Chor und großes Orchester folgt in der Hauptsache dem lateinischen Text der katholischen Totenmesse; einige Zeilen aus einem regional verankerten Kirchenlied sind in polnischer Sprache eingefügt. Einzelne Teile des sich über fast zwei Stunden erstreckenden liturgischen Groß-Werks wurden anlässlich von Gedenkveranstaltungen geschaffen – das klangsinnliche Agnus dei beispielsweise 1981 zu den Trauerfeierlichkeiten für Kardinal Stefan Wyszyński, der Hauptteil des Dies irae zum 40. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto gegen den Terror der deutschen Wehrmacht am 1. August 1944; ein anderer Abschnitt war bereits 1982 entstanden anlässlich der Seligsprechung von Pater Maximilian Kolbe, der im Konzentrationslager Auschwitz anstelle eines anderen Häftlings und dessen Familie freiwillig in den Tod gegangen war.

    Indem das Schleswig Holstein Musik Festival in diesem Jahr insgesamt an polnische Werke erinnerte, die sich auf die Zeitgeschichte in der Mitte des so außerordentlich blutigen und grausamen 20. Jahrhunderts beziehen, gewann auch die höchst repräsentative Oratorien-Aufführung in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis einen klaren dramaturgischen Sinn. Die Trauer erscheint eingebettet in eine weithin sehr tröstlich stimmende Musik – und der Wille, die Liturgie als große Klammer zu nutzen, erweist sich als konstitutiv.

    Über Glaubensfragen ist tunlichst nicht zu rechten. Schon gar nicht, wenn sie in der Hülle einer pluralistisch konzipierten, mit den verschiedensten stilistischen Anknüpfungsebenen operierenden Musik erscheinen. Freilich birgt noch der weitherzigste musikalische Katholizismus in sich das Problem, dass nicht alle Welt katholisch ist. Und beileibe nicht alle polnischen Staatsbürger, die Opfer des Nazi-Terrors wurden, waren es. Nicht einmal die Mehrheit.

    So erweist sich im überwältigenden Zugriff von Pendereckis Musik in ihrer konsequenten Verwobenheit mit der Erinnerungskultur der polnischen Nachkriegszeit nicht nur integrative Kraft, sondern auch das Moment des Ausschließlichen und Ausschließenden. Der vom Komponisten intendierten Verbindlichkeit bescheinigte die Packungsbeilage, dass "die unterschiedlichen Einzelteile [ ... ] bruchlos in einen in sich geschlossenen Gesamtplan aufgegangen wären". Gerade in dieser monströsen Bruchlosigkeit liegt das Problem: Offene Form und Überschreiten der liturgischen Formeln wäre offener, moderner, freier und brüderlicher gewesen.

    Der Komponist leitete das von musikalischen Traditionalismen geprägte Hamburger Groß-Unternehmen eigenhändig – "he preceded over the orchestra", wie die Engländer sagen. Der Philharmonische Chor Warschau grundierte im starken Hall der weiten Halle die majestätischen Flächen des Werks mit Inbrunst, die NDR-Radiophilharmonie zeichnete auch zartere Linien der neobarocken Tonmalerei mit Genauigkeit und warmem Ton nach. Wenn mit dem Offertorium und dem Finale. Libera animas die kniffligen theologischen Fragen angeschnitten werden, ob die Toten an Gott denken können und die Seelen in der Hölle noch Qualen erdulden müssen, dann mag einen die Hoffnung beschleichen, dass die Engel im katholischen Himmel vielleicht lieber Luigi Nonos Prometeo hören als Pendereckis kontemplativen Aufguss aus der Musikgeschichte von drei Jahrhunderten.