"Warum haben die sich nicht das Kind angesehen - und wenn sie das Kind gesehen hätten, hätten sie es gleich mitnehmen müssen in ärztliche Obhut. Dann würde das Kind vielleicht heute noch leben."
"Es gibt keine Hinweise dafür, dass unsere Mitarbeiter diesbezüglich etwas falsch gemacht haben könnten. Alles, was an Informationen eingegangen ist, ist so verarbeitet worden wie vorgeschrieben."
Lea Sophie stirbt im November 2007, weil die Eltern das kleine Mädchen nicht mehr versorgen und das Jugendamt versagt. Aber was in Schwerin geschieht, geschieht auch in Hamburg, Bremen und anderswo. Was liegt im Argen bei den Jugendämtern? Trifft die Behörden in stiller Regelmäßigkeit eine Mitschuld?
Mordprozess in Schwerin: Angeklagt wegen Kindstötung sind die Eltern der verstorbenen Lea-Sophie. Die Großeltern erheben schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt - erklärt deren Anwalt, Ulrich Knye.
"Dass der Großvater und natürlich auch die Großmutter, die haben ja überhaupt nicht vorausgesehen, dass das Kind möglicherweise in einen so lebensbedrohlichen Zustand kommt, wie es dann gekommen ist. Die haben so im Allgemeinen gespürt, dass die Entwicklung des Kindes nicht in Ordnung ist, dass möglicherweise die Eltern überfordert sind und dass dieses "Familienpaket" Hilfe braucht, und darauf ist nicht reagiert worden. Wenn diese Art von Hilfe mit Entschiedenheit gewährt worden wäre, dann wäre Lea-Sophie zu retten gewesen."
Lea Sophie - ein Opfer des Jugendamtes? Zu diesem Schluss kommt zumindest der Untersuchungsausschuss, den die Stadtvertreter einberufen hatten. Der dreiseitige Abschlussbericht enthält den ernüchternden Schluss: Hätte das Jugendamt anders reagiert, könnte das Kind noch leben. Eines der Ausschussmitglieder war Andreas Schütte von der SPD und Mitarbeiter des Jugendamtes in Osterholz bei Bremen.
"Quintessenz ist, dass der Tod von Lea-Sophie vermeidbar gewesen wäre. Vermeidbar in dem Sinne, dass das Jugendamt, neben den individuellen Fehlern, die dort bei der Sachbearbeitung passiert sind, auch durch strukturelle Fehler das beschleunigt hat oder das verursacht hat, dass dort keine Hilfe hineingebracht wurde in die Familie."
Strukturelle Fehler im Amt beschleunigen das Drama. Es findet ein vorläufiges Ende in dem heutigen Urteil gegen die 23-jährige Mutter und den 26-jährigen Vater.
Elf Jahre und neun Monate Haft für beide Elternteile - wegen Mordes. In Tateinheit mit Misshandlung Schutzbefohlener. Ein hartes Urteil im Vergleich zu anderen Fällen.
Beide hatten vor Gericht immer wieder betont, den Tod ihres Kindes nicht beabsichtigt zu haben. Beide waren offensichtlich total überfordert im Umgang mit der kleinen Lea-Sophie, die nach der Geburt eines zweiten Kindes in der Familie ständig schreit, um sich schlägt, Spielsachen zerstört und nicht mehr essen will. Der Erziehungsversuch mündet für die Eltern darin, dass sie die Augen verschließen - und für das Mädchen in einem qualvollen Sterben.
Die Eltern können offensichtlich kein Schutzschild für ihr Kind sein. Sie kümmern sich stattdessen aufopferungsvoll um die Haustiere, führen Fütterungsprotokolle für ihre Hamster - das Kind wird schlicht vergessen.
Wie so häufig reagiert die Politik reflexartig, als immer mehr Fälle von Kindesmisshandlungen bekannt werden. Im Dezember ruft die Kanzlerin zu einem Kindergipfel: "Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens", fordert Angela Merkel.
Kinder benötigen mehr Einfluss in unserer Gesellschaft, eine bessere Lobby, so der Tenor. In den Augen von Georg Ehrmann hat sich seit jenen Tagen tatsächlich etwas zum Positiven verändert. Der Vorsitzende des Vereines "Deutsche Kinderhilfe direkt" spricht von einem Mentalitätswandel in der Bevölkerung, den er an zwei Punkten festmacht:
"Das eine ist die Abwahl des Oberbürgermeisters in Schwerin. Und das zweite ist, dass überall dort, wo wir solche Hotlines haben, wo Bürger also die Möglichkeit haben, ihre Ängste zu schildern oder eben auch Dinge zu melden, dass dort ein rasanter Anstieg an Fällen auch geschildert werden können."
"Jede Woche kommen drei Kinder durch ihre Eltern zu Tode. Wir haben 150 bis 170 Fälle im Jahr. Das ist auf einem schrecklich hohen Niveau konstant", so der Experte von der Kinderhilfe.
"Die Kindstötungen haben nicht zugenommen,"
meint auch Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen.
"Aber sie sind die Spitze des Eisberges. Dahinter verbirgt sich Misshandlung, Verwahrlosung, Vernachlässigung!"
Im Umfeld des Kindergipfels entbrennt ein politischer Streit darüber, ob es Sinn macht, spezielle Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen. Für Sozialdemokrat Wolfgang Jüttner, der gerade für seine Partei ein Programm gegen Kinderarmut vorgestellt hat, führt an dieser Forderung kein Weg vorbei.
"Im Konfliktfall muss Kindeswohl vor Elternrecht gehen. Das ist in Deutschland bisher nicht der Fall, das hat auch mit der Tradition und der Instrumentalisierung im Faschismus zu tun!"
Johannes Singhammer, CSU-Familienpolitiker, hält dagegen: Er verweist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom April. Da hatte Karlsruhe entschieden, ein Vater dürfe nicht gegen seinen Willen gezwungen werden, Kontakt zu einem unehelichen Kind zu pflegen. Dies könne nicht im Sinne des Kindeswohles sein:
"Wir sind der Meinung als Union, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in diesem bizarren Fall die Kinderrechte ein für allemal festgelegt worden sind, und zwar durch Urteilsgründe, die sehr viel deutlicher Kinderrechte definieren, als es der Gesetzgeber in einem Artikel des Grundgesetzes machen könnte."
Die christdemokratische Familienministerin fürchtet darüber hinaus, dass eine Verankerung von gesonderten Kinderrechten in der Verfassung die eigene konservative Klientel verprellen könnte, weil dies gewissermaßen als Affront gegen die überwiegende Mehrzahl der verantwortungsvollen Eltern empfunden werden könnte:
"Wenn wir von Kinderrechten sprechen, sprechen wir von allen Kindern und allen Eltern. Die Kinderrechte stellen auch niemals die enge und wichtige Beziehung von Kind und Eltern in Frage, deshalb trenne ich auch die Diskussion des Kinderschutzes, den wir heute ganz konkret vor Ort machen müssen, von der Frage des Grundgesetzes."
Die Aufnahme eines Kinderartikels ins Grundgesetz scheint also mit der Union kaum machbar zu sein - und längst ist das Thema Gegenstand einer parteipolitischen Kontroverse.
Für Georg Ehrmann von der Kinderhilfe steht fest, dass niemand eine Grundgesetzänderung zum Schutz unserer Kinder braucht.
"Das ist eine Placebo-Debatte, die von der Politik initiiert worden ist, um von den wesentlichen Problem abzulenken. Das elementare Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Gleichbehandlung, auf Schutz vor den Eltern - das ist jetzt schon verfassungsrechtlich geregelt."
Experten in den Ämtern, wie der Leiter der Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg, Wolfgang Hammer, fordern schon lange ein Umdenken, auch bei den Finanzen.
"Sowohl bei den Handelnden im sozialen System, als auch bei denen, die die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen. Nun gibt es aber ja in Deutschland zumindest verbal zwischen den großen gesellschaftlichen Gruppen, Parteien eigentlich kein Bestreiten mehr, dass der Ausbau gerade der Hilfsangebote ab Schwangerschaft, Geburt, in den ersten Lebensjahren besonders wichtig ist - sowohl im Bereich der Kindertagesbetreuung, als auch bei den frühen Hilfen. Die Frage ist ja nur, ob sich diese generelle Aussage irgendwo in den haushaltspolitischen Prioritäten auf kommunaler oder Landesseite wiederfindet."
Weil die Gefahr bestehe, dass Kindeswohl von der Kassenlage abhänge.
"Weil wir normalerweise diese ganzen präventiven Hilfen in Deutschland auch aufgrund der Ausgestaltung des Kinder- und Jugendhilferechtes finanzpolitisch ausgestaltet haben als freiwillige Leistung der Kommunen. Das heißt, ob eine Kommune zwei kleine Projekte frühe Hilfen macht oder zwanzig, dreißig oder gar flächendeckend, ob sie zehn Jugendhäuser haben oder hundert Jugendhäuser, das ist im Gesetz nicht festgelegt, im Bundesgesetz."
Hamburg setzt seit dem Fall der ebenfalls verhungerten Jessica verstärkt auf solche Präventions-Projekte.
"Zuerst braucht man den Staat, um die Eltern in die Lage zu versetzen, gerade für die, die es nicht aus eigener Kraft können. Das ist für mich eine klare Aufforderung, in diesem frühen Bereich ausreichend und bedarfsgerecht qualifizierte Hilfen anzubieten. Die zweite Anforderung ist aber da, wenn Eltern das zum Teil dann aber trotzdem nicht tun - egal ob durch eigenes Verschulden oder weil sie überfordert sind. Dann muss dieses Kind sich auf seinen Staat verlassen können, dass es geschützt wird und dann muss man gucken wie ist die Ausgestaltung der Rechtsgrundlagen, um das möglich zu machen. Aber wenn daraus ein System wird, dass eher in Richtung Überwachungsstaat geht oder was dazu führt, dass die Sozialarbeiter aus Angst davor, dass sie vor dem Kadi stehen, nur noch bürokratische Absicherungsarbeit machen, dann passiert etwas Falsches."
Genau in diese Richtung zielen aber die Vorschläge vieler Politiker.
"Ab dem ersten Juli dieses Jahres wird es eine zusätzliche Untersuchung für dreijährige Kinder geben!"
Mitte Juni: der zweite sogenannte Kindergipfel, bei dem Vertreter von Bund und Ländern darüber beraten, wie der Schutz von Minderjährigen verbessert werden kann. Zufrieden verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel die Einführung einer weiteren Vorsorgeuntersuchung - die U 7a:
"Zwischen zwei und vier Jahren wird jetzt eine Lücke geschlossen!"
Kinderärzte sollen dabei helfen, die Jugendämter auf den Plan zu rufen, wenn sie feststellen, dass Kinder vernachlässigt oder gar misshandelt werden - oder wenn auffällt, dass Eltern erst gar nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen erscheinen.
"Die Vorstellung, dass sowieso über 95 Prozent der Eltern an diesen Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen, ist falsch. Unsere Erfahrungen sind, dass diese Quote etwa bei 80 Prozent liegt."
Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller hatte genau aus diesem Grund im Frühjahr 2007 Pflicht-Untersuchungen eingeführt. Alle Eltern werden zu den regelmäßigen Vorsorge-Checks beim Kinderarzt eingeladen. Erscheinen sie trotz zweifacher Mahnung nicht, wird das Jugendamt aktiv. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen:
"Wer nicht kommt - das kann man ganz leicht im Melderegister abgleichen - wird ein zweites Mal aufgefordert und dann geht das Jugendamt hin und guckt nach. Und die Erfahrungen haben wir jetzt im Saarland seit einiger Zeit. Von den Nachzüglern kommen bei der zweiten Aufforderung neunzig Prozent sofort und sagen: Ich war im Urlaub, ich hab es vergessen, danke, dass Sie mich benachrichtigt haben. Bei den restlichen zehn Prozent ist es gut, dass das Jugendamt sofort in der Familie ist, denn die brauchen deutlich mehr Hilfe!"
Bisher allerdings gibt es solche verbindlichen Einladungen zur Vorsorge nur in einigen wenigen Bundesländern. Sechs Länder arbeiten an Gesetzen, mit denen freiwillige Untersuchungen zur Pflicht gemacht würden. Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe bleibt dennoch skeptisch:
"Ich halte es für einen Baustein, nicht für den entscheidenden, so wie er im Moment von der Politik kommuniziert wird. Wenn ein Kinderarzt einen Fall meldet, dann muss das Jugendamt auch in der Lage sein, dem Fall nachzugehen. Wenn - wie hier in Berlin - der Fall dann Nr. 151 des Sachbearbeiters wird, und das Jugendamt gar nicht vernünftig arbeiten kann, dann bringt auch der Kinderarzt in dem System nichts!"
Die ganze Dramatik in der Kinder- und Jugendhilfe spiegelt sich in Zahlen wieder, die erst seit heute morgen kursieren.
28.200 jungen Menschen mussten deutsche Jugendämter im Jahr 2007 in Notsituationen beispringen; an jedem Tag des Jahres 77 Mal.
Die Zahlen scheinen unaufhörlich zu steigen. Der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann sieht daher nur noch eine Möglichkeit, diesen traurigen Trend zu stoppen:
Erziehungskurse für alle Eltern zur Pflicht zu machen. Die Zahl der Familien, um die sich Jugendämter kümmern müssen, hat sich innerhalb von zwanzig Jahren versechsfacht. Natürlich seien eine bessere Ausstattung und mehr Geld immer richtig, sagt Dirk Schürgut, Leiter der Sozialen Dienste in Neubrandenburg.
"Also wünschenswert wäre es für jeden einzelnen Mitarbeiter, der hier am Ende der Verantwortungskette seinen Kopf hinhalten muss, dass es bundeseinheitliche Standards gibt für die Überprüfung von Kindeswohlsicherung. Das wäre definitiv wünschenswert, das würde ich mal so sagen. Aber demgegenüber steht halt der Fakt, das Jugendhilfe und Kindeswohlsicherung kommunale Aufgabe ist."
Bundeseinheitliche Regeln der Kunst - die gibt es nach all den Jahren der Diskussion noch immer nicht. Wünschenswert wäre auch eine mutigere Haltung der Familiengerichte, sagt Soziologe Freigang.
"Also vor Jessica, Kevin und Lea-Sophie haben viele Sozialarbeiter die Erfahrung gemacht, dass sie vorm Familiengericht abgeblitzt sind. Das gehört zu den leidvollen Grunderfahrungen von Sozialarbeitern, die gesagt haben, wir wollen ein Kind aus einer misslichen Situation retten und das Familiengericht setzt das Elternrecht höher an als das Kindeswohl. Und aus solchen Erfahrungen haben Sozialarbeiter vielfach gelernt, dass sie das nicht mehr machen, dass sie sich dieser Schmach nicht aussetzen vorm Familiengericht als Elternfeinde, als Kinderrausnehmer behandelt zu werden."
Seine Sozialarbeiter, so Schürgut, litten unter diesem - wie er es nennt - "Vorurteil" sehr.
"Wir wollen von diesem Image wegkommen. Wir begreifen uns als Dienstleister. Wir möchten gerne den Leuten Hilfe anbieten. Das ist ja, ich sag mal so, die Leute, die in den Jugendämtern arbeiten, sind fast alle Sozialarbeiter. Die sind nicht Sozialarbeiter geworden, weil sie Karten abreißen wollen, die sind Sozialarbeiter geworden, weil sie ein Menschenbild haben, dass humanistisch geprägt ist, auf Hilfe orientiert."
Mit flächendeckender, früher präventiver Hilfe, so der Sozialpädagoge Freigang hätten die skandinavischen Länder viel Erfolg. Dort bekomme jede Familie Hilfe, damit die präventiven Angebote nicht als Stigma empfunden würden, als Stigma der Unzulänglichkeit im Umgang mit den eigenen Kindern. Diese Methode ist personal- und kostenintensiv - aber immer noch günstiger als Kosten, die entstünden, wenn eine Gesellschaft sich das nicht leiste.
Die Mittel, die der Staat der frühen präventiven Hilfe versagt - darin sind sich viele Experten einig - müssen später in Jugendpsychiatrie und Strafvollzug gesteckt werden.
"Es wäre gut, diese Unterstützung, Beratung, und zwar Prävention nicht unmittelbar beim Jugendamt anzusiedeln. Also, der Ruf gerade in den östlichen Jugendämtern als Eingriffsbehörde ist einfach zu fest etabliert."
Die politische Diskussion indes scheint genau in diese Richtung zu gehen.
Mehr Macht sollen in jedem Falle die Jugendämter bekommen. "Datenschutz darf Kinderschutz nicht behindern", lautet die Devise der Ministerpräsidenten. Wenn Problemfamilien umziehen, soll künftig sichergestellt sein, dass die Daten auch an das Jugendamt weitergegeben werden. Nach den Erfahrungen der Deutschen Kinderhilfe funktioniert der Datenaustausch zwischen den Behörden generell nicht so wie es sein müsste. Georg Ehrmann erinnert an den Tod der siebenjährigen Jessica in Hamburg:
"Ganz konkret ging es darum, dass sie nicht zur Schule gekommen ist und dass das nicht weitergeleitet wurde."
Oder an den Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen, dessen Leiche im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden war, eines bereits auffällig gewordenen Mannes:
"Ein Blick in den Polizeicomputer hat ergeben: Der Mann ist als gewaltbereit und bewaffnet geführt. Das Jugendamt hatte keine Kenntnis von diesem polizeiinternen Eintrag. Also, alles, was um das Umfeld des Kindes und der Familie an Daten da ist, sei es bei der Polizei, sei es bei den Schulbehörden, sei es bei Trägern, muss zu einer Akte zusammengeführt werden."
Bis Ende des Jahres soll das durch gelockerte Datenschutzbestimmungen ermöglicht werden. Vor allem die unionsgeführten Länder drängen zudem darauf, dass Sozialarbeiter künftig unangemeldet zu Hausbesuchen erscheinen können. Hessens Ministerpräsident Roland Koch, CDU:
"Es darf keine Entscheidung des Jugendamtes mehr nach Aktenlage geben. Wir haben die Situation, dass sie mit den Eltern persönlich sprechen müssen, dass sie die unmittelbare Wohnumgebung persönlich in Augenschein nehmen müssen, all das ist jetzt durch Gesetz verändert!"
Dadurch könnten Entscheidungen der Jugendämter dann auch gerichtsfester gemacht werden, hofft Bärbel Dieckmann, SPD-Vorstandsmitglied und Oberbürgermeisterin von Bonn:
"Ich habe in Bonn gerade diesen Fall gehabt, wo wir ein Kind aus der Familie rausholen wollten und in erster Instanz der Richter uns nicht Recht gegeben hat. Also auch da muss sich in dieser Gesellschaft etwas verändern."
Es fehle eben nicht nur an Geld und Personal, um die Arbeit der Jugendämter effektiver zu gestalten, resümiert Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe:
"Es hat natürlich Fälle wie in Schwerin oder Bremen gegeben, wo es ein starkes individuelles Verschulden von einzelnen Sachbearbeitern es gegeben hat. Trotzdem ist das System krank. Wir haben die aufsuchende Jugendhilfe in den vergangenen Jahren systematisch abgebaut. Viele Jugendamtmitarbeiter dürfen gar nicht mehr rausgehen. Und wir haben eine stark pädagogisch geprägte Ausbildung, die sehr stark auf die Kooperation mit den Eltern setzt. Wie häufig wird gesagt, wir dürfen das Vertrauensverhältnis zu den Eltern nicht zerstören und wie wenig wurde aber auch das Wächteramt für das Kind gesehen. Hier muss ein Mentalitätswechsel stattfinden, der mit Geld nichts zu tun hat!"
Das Dilemma des Kinderschutzes zwischen Prävention, Sanktion und Kontrolle lässt sich nur schwer auflösen. Die momentane Diskussion hat zu einer großen Verunsicherung auf allen Seiten geführt. In den Jugendämtern herrscht die Tendenz, sich stärker abzusichern vor späteren möglichen Vorwürfen.
"Der Weg müsste ein anderer sein, eine wohlwollende Begleitung aller ohne den Generalverdacht: Ihr seid potenzielle Kindeswohlgefährder. Dort, wo Probleme auftauchen, wird man sie dann wahrscheinlich erst mal wohlwollend und gegebenenfalls – wenn es nicht mit Beratung zu lösen ist - auch mal mit Eingriff lösen, aber man ist näher dran, man kennt Kinder, man sieht sie und man kann mit den Eltern so arbeiten, dass man erst mal gemeinsam davon ausgeht: Ihr wollt gute Eltern sein, wie können wir euch helfen, dass auch das gelingt."
"Es gibt keine Hinweise dafür, dass unsere Mitarbeiter diesbezüglich etwas falsch gemacht haben könnten. Alles, was an Informationen eingegangen ist, ist so verarbeitet worden wie vorgeschrieben."
Lea Sophie stirbt im November 2007, weil die Eltern das kleine Mädchen nicht mehr versorgen und das Jugendamt versagt. Aber was in Schwerin geschieht, geschieht auch in Hamburg, Bremen und anderswo. Was liegt im Argen bei den Jugendämtern? Trifft die Behörden in stiller Regelmäßigkeit eine Mitschuld?
Mordprozess in Schwerin: Angeklagt wegen Kindstötung sind die Eltern der verstorbenen Lea-Sophie. Die Großeltern erheben schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt - erklärt deren Anwalt, Ulrich Knye.
"Dass der Großvater und natürlich auch die Großmutter, die haben ja überhaupt nicht vorausgesehen, dass das Kind möglicherweise in einen so lebensbedrohlichen Zustand kommt, wie es dann gekommen ist. Die haben so im Allgemeinen gespürt, dass die Entwicklung des Kindes nicht in Ordnung ist, dass möglicherweise die Eltern überfordert sind und dass dieses "Familienpaket" Hilfe braucht, und darauf ist nicht reagiert worden. Wenn diese Art von Hilfe mit Entschiedenheit gewährt worden wäre, dann wäre Lea-Sophie zu retten gewesen."
Lea Sophie - ein Opfer des Jugendamtes? Zu diesem Schluss kommt zumindest der Untersuchungsausschuss, den die Stadtvertreter einberufen hatten. Der dreiseitige Abschlussbericht enthält den ernüchternden Schluss: Hätte das Jugendamt anders reagiert, könnte das Kind noch leben. Eines der Ausschussmitglieder war Andreas Schütte von der SPD und Mitarbeiter des Jugendamtes in Osterholz bei Bremen.
"Quintessenz ist, dass der Tod von Lea-Sophie vermeidbar gewesen wäre. Vermeidbar in dem Sinne, dass das Jugendamt, neben den individuellen Fehlern, die dort bei der Sachbearbeitung passiert sind, auch durch strukturelle Fehler das beschleunigt hat oder das verursacht hat, dass dort keine Hilfe hineingebracht wurde in die Familie."
Strukturelle Fehler im Amt beschleunigen das Drama. Es findet ein vorläufiges Ende in dem heutigen Urteil gegen die 23-jährige Mutter und den 26-jährigen Vater.
Elf Jahre und neun Monate Haft für beide Elternteile - wegen Mordes. In Tateinheit mit Misshandlung Schutzbefohlener. Ein hartes Urteil im Vergleich zu anderen Fällen.
Beide hatten vor Gericht immer wieder betont, den Tod ihres Kindes nicht beabsichtigt zu haben. Beide waren offensichtlich total überfordert im Umgang mit der kleinen Lea-Sophie, die nach der Geburt eines zweiten Kindes in der Familie ständig schreit, um sich schlägt, Spielsachen zerstört und nicht mehr essen will. Der Erziehungsversuch mündet für die Eltern darin, dass sie die Augen verschließen - und für das Mädchen in einem qualvollen Sterben.
Die Eltern können offensichtlich kein Schutzschild für ihr Kind sein. Sie kümmern sich stattdessen aufopferungsvoll um die Haustiere, führen Fütterungsprotokolle für ihre Hamster - das Kind wird schlicht vergessen.
Wie so häufig reagiert die Politik reflexartig, als immer mehr Fälle von Kindesmisshandlungen bekannt werden. Im Dezember ruft die Kanzlerin zu einem Kindergipfel: "Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens", fordert Angela Merkel.
Kinder benötigen mehr Einfluss in unserer Gesellschaft, eine bessere Lobby, so der Tenor. In den Augen von Georg Ehrmann hat sich seit jenen Tagen tatsächlich etwas zum Positiven verändert. Der Vorsitzende des Vereines "Deutsche Kinderhilfe direkt" spricht von einem Mentalitätswandel in der Bevölkerung, den er an zwei Punkten festmacht:
"Das eine ist die Abwahl des Oberbürgermeisters in Schwerin. Und das zweite ist, dass überall dort, wo wir solche Hotlines haben, wo Bürger also die Möglichkeit haben, ihre Ängste zu schildern oder eben auch Dinge zu melden, dass dort ein rasanter Anstieg an Fällen auch geschildert werden können."
"Jede Woche kommen drei Kinder durch ihre Eltern zu Tode. Wir haben 150 bis 170 Fälle im Jahr. Das ist auf einem schrecklich hohen Niveau konstant", so der Experte von der Kinderhilfe.
"Die Kindstötungen haben nicht zugenommen,"
meint auch Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen.
"Aber sie sind die Spitze des Eisberges. Dahinter verbirgt sich Misshandlung, Verwahrlosung, Vernachlässigung!"
Im Umfeld des Kindergipfels entbrennt ein politischer Streit darüber, ob es Sinn macht, spezielle Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen. Für Sozialdemokrat Wolfgang Jüttner, der gerade für seine Partei ein Programm gegen Kinderarmut vorgestellt hat, führt an dieser Forderung kein Weg vorbei.
"Im Konfliktfall muss Kindeswohl vor Elternrecht gehen. Das ist in Deutschland bisher nicht der Fall, das hat auch mit der Tradition und der Instrumentalisierung im Faschismus zu tun!"
Johannes Singhammer, CSU-Familienpolitiker, hält dagegen: Er verweist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom April. Da hatte Karlsruhe entschieden, ein Vater dürfe nicht gegen seinen Willen gezwungen werden, Kontakt zu einem unehelichen Kind zu pflegen. Dies könne nicht im Sinne des Kindeswohles sein:
"Wir sind der Meinung als Union, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in diesem bizarren Fall die Kinderrechte ein für allemal festgelegt worden sind, und zwar durch Urteilsgründe, die sehr viel deutlicher Kinderrechte definieren, als es der Gesetzgeber in einem Artikel des Grundgesetzes machen könnte."
Die christdemokratische Familienministerin fürchtet darüber hinaus, dass eine Verankerung von gesonderten Kinderrechten in der Verfassung die eigene konservative Klientel verprellen könnte, weil dies gewissermaßen als Affront gegen die überwiegende Mehrzahl der verantwortungsvollen Eltern empfunden werden könnte:
"Wenn wir von Kinderrechten sprechen, sprechen wir von allen Kindern und allen Eltern. Die Kinderrechte stellen auch niemals die enge und wichtige Beziehung von Kind und Eltern in Frage, deshalb trenne ich auch die Diskussion des Kinderschutzes, den wir heute ganz konkret vor Ort machen müssen, von der Frage des Grundgesetzes."
Die Aufnahme eines Kinderartikels ins Grundgesetz scheint also mit der Union kaum machbar zu sein - und längst ist das Thema Gegenstand einer parteipolitischen Kontroverse.
Für Georg Ehrmann von der Kinderhilfe steht fest, dass niemand eine Grundgesetzänderung zum Schutz unserer Kinder braucht.
"Das ist eine Placebo-Debatte, die von der Politik initiiert worden ist, um von den wesentlichen Problem abzulenken. Das elementare Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Gleichbehandlung, auf Schutz vor den Eltern - das ist jetzt schon verfassungsrechtlich geregelt."
Experten in den Ämtern, wie der Leiter der Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg, Wolfgang Hammer, fordern schon lange ein Umdenken, auch bei den Finanzen.
"Sowohl bei den Handelnden im sozialen System, als auch bei denen, die die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen. Nun gibt es aber ja in Deutschland zumindest verbal zwischen den großen gesellschaftlichen Gruppen, Parteien eigentlich kein Bestreiten mehr, dass der Ausbau gerade der Hilfsangebote ab Schwangerschaft, Geburt, in den ersten Lebensjahren besonders wichtig ist - sowohl im Bereich der Kindertagesbetreuung, als auch bei den frühen Hilfen. Die Frage ist ja nur, ob sich diese generelle Aussage irgendwo in den haushaltspolitischen Prioritäten auf kommunaler oder Landesseite wiederfindet."
Weil die Gefahr bestehe, dass Kindeswohl von der Kassenlage abhänge.
"Weil wir normalerweise diese ganzen präventiven Hilfen in Deutschland auch aufgrund der Ausgestaltung des Kinder- und Jugendhilferechtes finanzpolitisch ausgestaltet haben als freiwillige Leistung der Kommunen. Das heißt, ob eine Kommune zwei kleine Projekte frühe Hilfen macht oder zwanzig, dreißig oder gar flächendeckend, ob sie zehn Jugendhäuser haben oder hundert Jugendhäuser, das ist im Gesetz nicht festgelegt, im Bundesgesetz."
Hamburg setzt seit dem Fall der ebenfalls verhungerten Jessica verstärkt auf solche Präventions-Projekte.
"Zuerst braucht man den Staat, um die Eltern in die Lage zu versetzen, gerade für die, die es nicht aus eigener Kraft können. Das ist für mich eine klare Aufforderung, in diesem frühen Bereich ausreichend und bedarfsgerecht qualifizierte Hilfen anzubieten. Die zweite Anforderung ist aber da, wenn Eltern das zum Teil dann aber trotzdem nicht tun - egal ob durch eigenes Verschulden oder weil sie überfordert sind. Dann muss dieses Kind sich auf seinen Staat verlassen können, dass es geschützt wird und dann muss man gucken wie ist die Ausgestaltung der Rechtsgrundlagen, um das möglich zu machen. Aber wenn daraus ein System wird, dass eher in Richtung Überwachungsstaat geht oder was dazu führt, dass die Sozialarbeiter aus Angst davor, dass sie vor dem Kadi stehen, nur noch bürokratische Absicherungsarbeit machen, dann passiert etwas Falsches."
Genau in diese Richtung zielen aber die Vorschläge vieler Politiker.
"Ab dem ersten Juli dieses Jahres wird es eine zusätzliche Untersuchung für dreijährige Kinder geben!"
Mitte Juni: der zweite sogenannte Kindergipfel, bei dem Vertreter von Bund und Ländern darüber beraten, wie der Schutz von Minderjährigen verbessert werden kann. Zufrieden verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel die Einführung einer weiteren Vorsorgeuntersuchung - die U 7a:
"Zwischen zwei und vier Jahren wird jetzt eine Lücke geschlossen!"
Kinderärzte sollen dabei helfen, die Jugendämter auf den Plan zu rufen, wenn sie feststellen, dass Kinder vernachlässigt oder gar misshandelt werden - oder wenn auffällt, dass Eltern erst gar nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen erscheinen.
"Die Vorstellung, dass sowieso über 95 Prozent der Eltern an diesen Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen, ist falsch. Unsere Erfahrungen sind, dass diese Quote etwa bei 80 Prozent liegt."
Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller hatte genau aus diesem Grund im Frühjahr 2007 Pflicht-Untersuchungen eingeführt. Alle Eltern werden zu den regelmäßigen Vorsorge-Checks beim Kinderarzt eingeladen. Erscheinen sie trotz zweifacher Mahnung nicht, wird das Jugendamt aktiv. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen:
"Wer nicht kommt - das kann man ganz leicht im Melderegister abgleichen - wird ein zweites Mal aufgefordert und dann geht das Jugendamt hin und guckt nach. Und die Erfahrungen haben wir jetzt im Saarland seit einiger Zeit. Von den Nachzüglern kommen bei der zweiten Aufforderung neunzig Prozent sofort und sagen: Ich war im Urlaub, ich hab es vergessen, danke, dass Sie mich benachrichtigt haben. Bei den restlichen zehn Prozent ist es gut, dass das Jugendamt sofort in der Familie ist, denn die brauchen deutlich mehr Hilfe!"
Bisher allerdings gibt es solche verbindlichen Einladungen zur Vorsorge nur in einigen wenigen Bundesländern. Sechs Länder arbeiten an Gesetzen, mit denen freiwillige Untersuchungen zur Pflicht gemacht würden. Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe bleibt dennoch skeptisch:
"Ich halte es für einen Baustein, nicht für den entscheidenden, so wie er im Moment von der Politik kommuniziert wird. Wenn ein Kinderarzt einen Fall meldet, dann muss das Jugendamt auch in der Lage sein, dem Fall nachzugehen. Wenn - wie hier in Berlin - der Fall dann Nr. 151 des Sachbearbeiters wird, und das Jugendamt gar nicht vernünftig arbeiten kann, dann bringt auch der Kinderarzt in dem System nichts!"
Die ganze Dramatik in der Kinder- und Jugendhilfe spiegelt sich in Zahlen wieder, die erst seit heute morgen kursieren.
28.200 jungen Menschen mussten deutsche Jugendämter im Jahr 2007 in Notsituationen beispringen; an jedem Tag des Jahres 77 Mal.
Die Zahlen scheinen unaufhörlich zu steigen. Der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann sieht daher nur noch eine Möglichkeit, diesen traurigen Trend zu stoppen:
Erziehungskurse für alle Eltern zur Pflicht zu machen. Die Zahl der Familien, um die sich Jugendämter kümmern müssen, hat sich innerhalb von zwanzig Jahren versechsfacht. Natürlich seien eine bessere Ausstattung und mehr Geld immer richtig, sagt Dirk Schürgut, Leiter der Sozialen Dienste in Neubrandenburg.
"Also wünschenswert wäre es für jeden einzelnen Mitarbeiter, der hier am Ende der Verantwortungskette seinen Kopf hinhalten muss, dass es bundeseinheitliche Standards gibt für die Überprüfung von Kindeswohlsicherung. Das wäre definitiv wünschenswert, das würde ich mal so sagen. Aber demgegenüber steht halt der Fakt, das Jugendhilfe und Kindeswohlsicherung kommunale Aufgabe ist."
Bundeseinheitliche Regeln der Kunst - die gibt es nach all den Jahren der Diskussion noch immer nicht. Wünschenswert wäre auch eine mutigere Haltung der Familiengerichte, sagt Soziologe Freigang.
"Also vor Jessica, Kevin und Lea-Sophie haben viele Sozialarbeiter die Erfahrung gemacht, dass sie vorm Familiengericht abgeblitzt sind. Das gehört zu den leidvollen Grunderfahrungen von Sozialarbeitern, die gesagt haben, wir wollen ein Kind aus einer misslichen Situation retten und das Familiengericht setzt das Elternrecht höher an als das Kindeswohl. Und aus solchen Erfahrungen haben Sozialarbeiter vielfach gelernt, dass sie das nicht mehr machen, dass sie sich dieser Schmach nicht aussetzen vorm Familiengericht als Elternfeinde, als Kinderrausnehmer behandelt zu werden."
Seine Sozialarbeiter, so Schürgut, litten unter diesem - wie er es nennt - "Vorurteil" sehr.
"Wir wollen von diesem Image wegkommen. Wir begreifen uns als Dienstleister. Wir möchten gerne den Leuten Hilfe anbieten. Das ist ja, ich sag mal so, die Leute, die in den Jugendämtern arbeiten, sind fast alle Sozialarbeiter. Die sind nicht Sozialarbeiter geworden, weil sie Karten abreißen wollen, die sind Sozialarbeiter geworden, weil sie ein Menschenbild haben, dass humanistisch geprägt ist, auf Hilfe orientiert."
Mit flächendeckender, früher präventiver Hilfe, so der Sozialpädagoge Freigang hätten die skandinavischen Länder viel Erfolg. Dort bekomme jede Familie Hilfe, damit die präventiven Angebote nicht als Stigma empfunden würden, als Stigma der Unzulänglichkeit im Umgang mit den eigenen Kindern. Diese Methode ist personal- und kostenintensiv - aber immer noch günstiger als Kosten, die entstünden, wenn eine Gesellschaft sich das nicht leiste.
Die Mittel, die der Staat der frühen präventiven Hilfe versagt - darin sind sich viele Experten einig - müssen später in Jugendpsychiatrie und Strafvollzug gesteckt werden.
"Es wäre gut, diese Unterstützung, Beratung, und zwar Prävention nicht unmittelbar beim Jugendamt anzusiedeln. Also, der Ruf gerade in den östlichen Jugendämtern als Eingriffsbehörde ist einfach zu fest etabliert."
Die politische Diskussion indes scheint genau in diese Richtung zu gehen.
Mehr Macht sollen in jedem Falle die Jugendämter bekommen. "Datenschutz darf Kinderschutz nicht behindern", lautet die Devise der Ministerpräsidenten. Wenn Problemfamilien umziehen, soll künftig sichergestellt sein, dass die Daten auch an das Jugendamt weitergegeben werden. Nach den Erfahrungen der Deutschen Kinderhilfe funktioniert der Datenaustausch zwischen den Behörden generell nicht so wie es sein müsste. Georg Ehrmann erinnert an den Tod der siebenjährigen Jessica in Hamburg:
"Ganz konkret ging es darum, dass sie nicht zur Schule gekommen ist und dass das nicht weitergeleitet wurde."
Oder an den Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen, dessen Leiche im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden war, eines bereits auffällig gewordenen Mannes:
"Ein Blick in den Polizeicomputer hat ergeben: Der Mann ist als gewaltbereit und bewaffnet geführt. Das Jugendamt hatte keine Kenntnis von diesem polizeiinternen Eintrag. Also, alles, was um das Umfeld des Kindes und der Familie an Daten da ist, sei es bei der Polizei, sei es bei den Schulbehörden, sei es bei Trägern, muss zu einer Akte zusammengeführt werden."
Bis Ende des Jahres soll das durch gelockerte Datenschutzbestimmungen ermöglicht werden. Vor allem die unionsgeführten Länder drängen zudem darauf, dass Sozialarbeiter künftig unangemeldet zu Hausbesuchen erscheinen können. Hessens Ministerpräsident Roland Koch, CDU:
"Es darf keine Entscheidung des Jugendamtes mehr nach Aktenlage geben. Wir haben die Situation, dass sie mit den Eltern persönlich sprechen müssen, dass sie die unmittelbare Wohnumgebung persönlich in Augenschein nehmen müssen, all das ist jetzt durch Gesetz verändert!"
Dadurch könnten Entscheidungen der Jugendämter dann auch gerichtsfester gemacht werden, hofft Bärbel Dieckmann, SPD-Vorstandsmitglied und Oberbürgermeisterin von Bonn:
"Ich habe in Bonn gerade diesen Fall gehabt, wo wir ein Kind aus der Familie rausholen wollten und in erster Instanz der Richter uns nicht Recht gegeben hat. Also auch da muss sich in dieser Gesellschaft etwas verändern."
Es fehle eben nicht nur an Geld und Personal, um die Arbeit der Jugendämter effektiver zu gestalten, resümiert Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe:
"Es hat natürlich Fälle wie in Schwerin oder Bremen gegeben, wo es ein starkes individuelles Verschulden von einzelnen Sachbearbeitern es gegeben hat. Trotzdem ist das System krank. Wir haben die aufsuchende Jugendhilfe in den vergangenen Jahren systematisch abgebaut. Viele Jugendamtmitarbeiter dürfen gar nicht mehr rausgehen. Und wir haben eine stark pädagogisch geprägte Ausbildung, die sehr stark auf die Kooperation mit den Eltern setzt. Wie häufig wird gesagt, wir dürfen das Vertrauensverhältnis zu den Eltern nicht zerstören und wie wenig wurde aber auch das Wächteramt für das Kind gesehen. Hier muss ein Mentalitätswechsel stattfinden, der mit Geld nichts zu tun hat!"
Das Dilemma des Kinderschutzes zwischen Prävention, Sanktion und Kontrolle lässt sich nur schwer auflösen. Die momentane Diskussion hat zu einer großen Verunsicherung auf allen Seiten geführt. In den Jugendämtern herrscht die Tendenz, sich stärker abzusichern vor späteren möglichen Vorwürfen.
"Der Weg müsste ein anderer sein, eine wohlwollende Begleitung aller ohne den Generalverdacht: Ihr seid potenzielle Kindeswohlgefährder. Dort, wo Probleme auftauchen, wird man sie dann wahrscheinlich erst mal wohlwollend und gegebenenfalls – wenn es nicht mit Beratung zu lösen ist - auch mal mit Eingriff lösen, aber man ist näher dran, man kennt Kinder, man sieht sie und man kann mit den Eltern so arbeiten, dass man erst mal gemeinsam davon ausgeht: Ihr wollt gute Eltern sein, wie können wir euch helfen, dass auch das gelingt."