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Verweigerungshaltung und das Gefühl der Leere

Das Buch "Ein Mann der schläft" von Georges Perec besticht durch eine formal strenge und dichte Machart. Der französische Schriftsteller erzählt von einem Studenten, der am Tag seines Examens nicht mehr aufsteht. Er lässt sich von nun an treiben.

Von Sabine Peters | 31.01.2013
    Ein junger Mann, ein Soziologiestudent in Paris steht eines Morgens nicht wie gewohnt auf, obwohl es der Tag ist, an dem er sein Examen schreiben sollte. Er bleibt liegen, studiert die Risse in der Wand seines engen Mansardenzimmers. Später setzt er sich auf, weicht Socken in einer Plastikschüssel ein und raucht. Er ist 25 Jahre alt, hat 29 Zähne und drei Hemden. Und jetzt hat er ganz einfach den Faden verloren.

    Der Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec, der von 1936 bis 1982 lebte, zählt zu den wichtigsten Vertretern der französischen Nachkriegsliteratur. Seine Eltern waren eingewanderte polnischstämmige Juden; der Vater fiel im Zweiten Weltkrieg, die Mutter wurde in einem KZ ermordet. Die Handlung seiner Geschichte "Ein Mann der schläft" hat autobiografische Züge – als Student erlebte Perec selbst eine Phase von Apathie und Depression. Das Buch erschien, bevor Perec ein Mitglied der literarischen Gruppe Oulipo wurde, einer sogenannten Werkstatt für potenzielle Literatur. Zu den Besonderheiten dieser Bewegung gehören selbst auferlegte formale Zwänge, die zu einer kreativen Spracherweiterung werden können. So verzichtet Perecs späterer Roman "La Disparation", in der deutschen Übersetzung "Anton Volys Fortgang" vollständig auf den Buchstaben "e". Aber auch das 1967 erstmals publizierte Buch "Ein Mann der schläft" fasziniert durch seine formale strenge und dichte Machart. Dabei wirkt diese Geschichte federleicht, auch wenn sie ein bodenloses Thema behandelt – es geht um das Gefühl der Leere.

    Perec schildert Belangloses, Sinnloses; und daraus wird ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Der junge Mann bricht alle Kontakte ab und lässt sich treiben; die Welt und er selbst sind gleichgültig geworden. Seine Mahlzeiten kaut er gründlich. Auf seinen Wegen durch die Stadt zählt er Kirchen, Denkmäler, Museen, russische Restaurants. Er lebt in einem Kokon aus Einsamkeit, aus der ihn weder die Musik John Coltranes noch der Anblick anderer Verlorener rettet – ohnehin sind Worte wie Rettung ihm gleichgültig, er hat keine metaphysische Ader. Einen konkreten Anlass zu Depression und Rückzug gab es nicht, ihm wird klar, dass er zwar soweit immer ein netter Kerl war, aber dass er im Grunde nie wünschte, am Leben teilzunehmen. Eine Erkenntnis, die ihn enttäuscht, denn auch sie ist so lächerlich wie eine Zipfelmütze. Er ist jung, noch ganz am Anfang, und doch sind alle Plätze vorgezeichnet: Vom Kinderstühlchen bis zum Rollstuhl warten die Gegenstände auf ihn, sie warten, dass sie an die Reihe kommen. Er aber möchte sich ganz einfach raushalten.

    Das Beklemmende an Georges Perecs fragmentarisch erzählter Geschichte liegt in der sanften Verweigerungshaltung, die hier zu einem Exerzitium, zu einer Übung in Stillstand wird. Perec hat als Erzählperspektive die zweite Person Singular gewählt, also die Rede an einen anderen, an ein Gegenüber. Hier aber handelt es sich um eine monologische Form, um ein Selbstgespräch. Zitat:

    "Du hast nichts gelernt, höchstens, dass die Einsamkeit nichts lehrt, dass die Gleichgültigkeit nichts lehrt, … bist nur an einigen Kilometern Fassaden entlanggestrichen, an Schaufenstern, an Parks und Kais."

    Elementare Reflexe bleiben: Der junge Mann sieht sich um, bevor er eine Straße überquert, und schützt sich vor dem Wind, um seine Zigarette anzuzünden.

    Ein melancholisches Dasein, ein Leben ohne Motor und Motive – dieses Thema findet sich bei Melville, Kafka, Beckett, und gelegentlich tauchen entsprechende Zitate sogar wortwörtlich in Perecs Text auf. Und doch steht "Ein Mann der schläft" als ganz eigenes, überzeugendes Stück Literatur da. Wenn die Gestalt des Bartleby in Melvilles gleichnamiger Erzählung es immerhin noch vorzieht, etwas nicht zu tun – sein Satz "ich möchte lieber nicht" ist längst zum Klassiker geworden – dann zieht Perecs Figur es nicht einmal vor, noch etwas vorzuziehen. Das heißt, die Negation selbst wird negiert. Der Text stellt sich sozusagen selbst eine Falle, und man fragt sich mehr und mehr, ob es da überhaupt noch einen Ausweg gibt. Mit einem Attribut wie "nihilistisch" kommt man dem Geheimnis dieses Buchs nicht auf die Spur. Auch eine psychologische Lektüre, wonach es also um eine Krankheitsgeschichte der Indifferenz ginge, führt nicht unbedingt weit. Das Gefühl von Unabhängigkeit schlägt alsbald in Beliebigkeit um, die Einsamkeit lehrt nichts, sie ist nicht einmal originell, die Verweigerung scheitert. Sie scheitert am Ablauf der Zeit, die weitermacht. Der Puls schlägt, der Atem geht ein und aus. Zuletzt steht der Mann an der Place Clichy und wartet, dass der Regen aufhört zu fallen.

    Perecs schmale Geschichte mit ihren minimalistischen Drehungen und Wendungen ist mittlerweile in zehn Sprachen übersetzt, und sie hat Generationen von europäischen Schriftstellern inspiriert, ob Ernst Jandl oder Peer Hultberg, Agota Kristof, Jon Fosse, Georges Arthur Goldschmidt oder Leslie Kaplan. Es ist gut, dass der Zürcher Diaphanes-Verlag diese poetische, konzentrierte Darstellung einer melancholischen Zerstreuung und Zerfaserung jetzt noch einmal veröffentlicht: Perec schreibt, schreibt nicht "über" diesen Zustand, sondern aus ihm heraus. Und das gibt diesem Text ein radikales, subversives Potenzial.
    Georges Perec: "Ein Mann der schläft", Roman. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Diaphanes-Verlag, 110 Seiten, 10 Euro.