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Very british (4/5)
Die Herrenschneiderinnen aus der Savile Row

Die Savile Row in London ist die Geburtsstätte des englischen Maßanzuges. Bisher war dieser Beruf eine echte Männerdomäne. Doch auch das traditionelle Handwerk ist im Wandel und so erobern immer mehr Frauen die Edelschneiderei.

Von Ruth Rach | 25.10.2018
    Die britische Schneidermeisterin Kathryn Sargent in ihrem Geschäft auf der Savile Row in London
    Kathryn Sargent sorgte für Riesenschlagzeilen, als sie 2009 beim Londoner Herrenschneider Gieves and Hawkes zur ersten Atelierchefin ernannt wurde. Inzwischen hat sie sich von der Savile Row abgenabelt und ein Atelier in der Brook Street eröffnet (AFP/ Jack Taylor)
    Eigentlich passt Mr. Hitchcock überhaupt nicht in die Carnaby Street. Die ist viel zu laut, viel zu hip, zu jung, und wird viel eher mit der Moderevolution der 60er-Jahre assoziiert als mit seinem zeitlosen Nadelstreifenanzug, der so elegant, so perfekt geschnitten ist, dass er eigentlich nur aus der Savile Row stammen kann, der Geburtsstätte des britischen Maßanzugs. Und doch...
    John Hitchcock schlüpft durch eine schwarze, unscheinbare Tür und geht eine schmale Treppe hoch. Die Mädchen sind wahrscheinlich beim Lunch, sagt er. Aber weit gefehlt. Jennie heftet einen Kragen, Ashley bügelt ein Futter, Liberty arbeitet an einer Achselnaht. Und Lambrose, der einzige Mann im Atelier, näht an einem Revers. Nein, ich betrachte mich nicht als Chef, sagt der langjährige Schneider. Wir lernen alle voneinander.
    Die Werkstatt der Lehrlinge gehört zu Anderson and Sheppard, einem der renommiertesten Herrenschneider. John Hitchcock, ihr leitender Direktor, hat seine Lehrlinge höchstpersönlich ausgewählt, aus hunderten von Bewerbern. Er hat ein gutes Gespür. Jennie, 26, hat beim landesweiten Wettbewerb der Jungschneider die Silberne Schere gewonnen.
    Weg von der Wegwerfgesellschaft
    In den 80er-Jahren waren Anzüge von der Stange im Trend, niemand wollte mehr Schneider werden. Aber das hat sich in den vergangenen paar Jahren total geändert, sagt Jennie. Die Leute haben die Wegwerfmode satt. Sie wollen Sachen tragen, die nachhaltig sind und die mit Geschick und Sorgfalt gemacht werden.
    Ausbildungsplätze in der Savile Row sind inzwischen heiß begehrt. Auch wenn die Goldene Meile der britischen Edelschneider von Hedge Fonds und einer amerikanischen Modekette unterwandert wurde, genießen die Nadelkünstler dort weiterhin einen legendären Ruf. Jennie hat am London College of Fashion studiert und ist dann gleich bei Anderson and Sheppard eingestiegen, zunächst als Praktikantin.
    Sie will nie mehr woanders arbeiten, betont Jennie. Einen Anzug, der von Anderson und Sheppard genäht wurde, könne man schon von Weitem erkennen. Am liebsten möchte Jennie ihre ganze Karriere bei Anderson and Sheppard verbringen. So wie Mr. Hitchcock. Auch er hat sich vom einfachen Lehrling hochgearbeitet und ist sein Leben lang im selben Haus geblieben. John Hitchcock gilt als einer der besten Schneider der Savile Row. Seit über 20 Jahren näht er auch die Anzüge von Prinz Charles.
    Drei bis sechs Jahre bis zur Schneiderin
    In der Hierarchie der Savile Row stehen die Head Cutters, die Atelierchefs, ganz oben. Sie stehen im Geschäft, beraten den Kunden, nehmen Maß. Die Tailors, die Schneider wiederum, nähen die kostbaren Teile zusammen. Einer ist für die Weste zuständig, ein anderer für die Jacke, ein dritter für die Hose und einer ist in erster Linie auf Knöpfe spezialisiert. An ihrem Handwerk hat sich seit 100 Jahren kaum etwas geändert. Und auch nicht an ihrer Ausrüstung: Kreide, Schere, Nadel und Faden.
    Eine Lehre in der Savile Row dauert drei bis sechs Jahre, erzählt Ashley, 22. Während dieser Zeit muss sie mit dem Mindestlohn auskommen. Das nimmt sie gerne in Kauf, denn was sie hier lerne, das sei unbezahlbar.
    Erfolgreich in der Männerdomäne
    Traditionell waren in der Savile Row stets Männer für den Zuschnitt verantwortlich, die Frauen arbeiteten im Hintergrund, vor allem als Näherinnen, sagt Ashley. Nun bahnen sich grundlegende Veränderungen an. Immer mehr Frauen drängen ins Geschäft. Vor allem Lehrlinge, frisch aus den Mode-Colleges. Ihr großes Vorbild: Kathryn Sargent.
    Kathryn sorgte für Riesenschlagzeilen, als sie 2009 bei Gieves and Hawkes zur ersten Atelierchefin ernannt wurde. Inzwischen hat sie sich von der Savile Row abgenabelt und ein eigenes Atelier eröffnet, ein paar Ecken weiter, in der Brook Street.
    Damals wurde sie ständig gefragt, warum sie bloß in dieser Männerdomäne arbeiten wolle, erzählt Kathryn Sargent. Natürlich musste sie sich erst beweisen. Aber sobald sie gezeigt hätte, dass sie ihr Handwerk so gut beherrscht wie ihre männlichen Kollegen, sei sie voll akzeptiert worden. "Wenn ich einen Maßanzug 'bespoke' für einen Kunden mache, geht es mir nicht darum, einen 'Kathryn Sargent Anzug' zu kreieren. Sondern ein Kleidungsstück, das ihm auf den Leib geschnitten ist und das er sein Leben lang schätzen wird."