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Viel Erfolg mit wenig Inhalt

Die Piraten suchen ihre Position im Parteienspektrum und setzen dabei derzeit vor allem auf ihr alternatives Politikmodell. Die Konkurrenz schießt sich auf die Partei ein.

Von Barbara Roth |
    "- "Ich darf um Ruhe bitten. Es ist, die Situation ist verworren. Aufgrund aktueller Ereignisse unterbreche ich diesen Wahlgang. Warum werdet ihr gleich erfahren."
    - "Liebe Piraten, ich bitte euch, euch zu setzen. Ruhe bitte. Ich habe ein paar Ansagen zu machen.""

    Bundesparteitag der Piraten, gestern früher Nachmittag. Laut Tagesordnung steht eigentlich die Wahl des Vorsitzenden an. Doch der Veranstaltungsleiter unterbricht - wie so oft an diesem Wochenende. Es geht zuweilen chaotisch zu bei der noch jungen Partei. Gut 1.500 Piraten sind angereist, die Hotels in Neumünster bei Kiel ausgebucht. Viele übernachten deshalb in der Tagungshalle im Schlafsack. Auf langen Tischreihen reiht sich Laptop an Laptop, denn nebenbei wird eifrig getwittert, gechattet, gepostet. Der Mann am Rednerpult trägt sein Haar leuchtend orange gefärbt – die Parteifarbe der Piraten.

    "- "Ein Mitglied der Piratenpartei Deutschland hat vor der Presse diverse Statements in Form von "über den Holocaust könne man diskutieren oder man könne ja leugnen, es wäre ja Meinungsfreiheit" geäußert."
    - Buh-Rufe
    - "Also, bitte um Ruhe. Als Reaktion auf das Statement dieses Mitglieds, der Name ist der Versammlungsleitung bekannt und es werden auch weitere Dinge geprüft, ziehe ich als Versammlungsleiter einen sonstigen Antrag vor.""

    Jan Leukert ist nervös. Denn mit dem Erfolg der Partei kommt auch die Aufmerksamkeit. Mit vielen Inhalten haben die Piraten noch nicht von sich Reden gemacht, dafür mit anderen Dingen.

    Rechtsextremes Gedankengut einiger Mitglieder, missverständliche Vergleiche mit der NSDAP – der öffentliche Gegenwind bläst heftig. Und den Politikneulingen ist daran gelegen, in Neumünster nicht weitere negative Schlagzeilen zu produzieren.

    "- "Die Piratenpartei Deutschland erklärt, der Holocaust ist unbestreitbarer Teil der Geschichte. Ihn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit zu leugnen oder zu relativieren, widerspricht den Grundsätzen der Partei."
    - Applaus.
    - "Der Antrag ist angenommen.""

    Abgrenzung gegen rechts, gegen Nazis in den eigenen Reihen, gegen Rassismus. Die Piraten beziehen klar Position und haben bereits auf dem Parteitag Gelegenheit, Flagge zu zeigen. Buh-Rufe und Pfiffe – als sich für die Vorstandswahl ein Bewerber präsentiert, der früher von Weltjudentum gefaselt hatte. Ein großer Teil der Anwesenden dreht dem Redner demonstrativ den Rücken zu oder verlässt die Halle unter Protest.

    "- "Weil ich nicht möchte, dass Menschen eine Position vertreten, die ich finde man in dieser Republik einfach nicht mehr vertreten kann. Deshalb gehen wir raus."
    - "Ein Statement gegen einen Kandidaten, der als jemand bekannt ist, der antisemitische Äußerungen betrieben hat und betreibt. Man will ihm einfach zeigen, dass solche Äußerungen in der Piratenpartei keinen Platz haben.""

    Die erst 2006 in Berlin gründete Partei boomt. An die 27.000 Mitglieder in nur sechs Jahren. Seit dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus vor sechs Monaten ist die Zahl der Mitglieder nach oben geschossen. Die Kehrseite der Medaille: Die aufstrebende Partei droht ihren Charme des Laienhaften einzubüßen. Die Piraten wollen anders sein, eine andere Art Politik machen - mehr Transparenz, Bürgernähe, Mitbestimmung. Kai-Uwe Schnapp, Politikwissenschaftler an der Uni Hamburg:

    "Das ist natürlich attraktiv für total Politikfrustrierte. Und das macht die Piraten aber auch wiederum heterogen, weil keine einigende Ideologie zugrunde liegt, wo man sagt, meine wichtigste Frage ist die soziale Frage oder meine wichtigste Frage ist die ideologische Frage. Sondern die Frage ist rein auf einen Prozess bezogen, nämlich das glaubwürdige oder geglaubte Versprechen, anders Politik zu machen als andere. Deswegen ist es auch ideologisch sehr breit bis zu Rechtsradikalismus, NPD und so weiter. Wo die Partei auch erst ihren Weg finden muss, damit umzugehen."

    Auf dem Parteitag ist die Piratenmischung bunt: Turnschuh- wie Anzugträger. Schlabber-T-Shirt und kurze Röcke. Lange, bunte, keine Haare. Die Frauen sind eindeutig in der Minderzahl. Und nun geht auch noch eines der bekanntesten Gesichter von Bord. Marina Weisband hört als parlamentarische Geschäftsführerin auf. Nach einem Jahr im Amt ausgebrannt und erschöpft.

    "Wir waren jung und wir waren klein, aber wir haben heute schon Geschichte geschrieben. Jetzt werden wir ernst genommen. Und es wird gegen uns geschossen. Und unsere Schutzfrist war kurz. Aber das ist nichts, was wir nicht schaffen können. Letzten Endes machen wir der Gesellschaft ein Angebot. Und es ist Aufgabe der Gesellschaft, dieses Angebot auf Herz und Nieren zu prüfen."

    Glaubt man den jüngsten Umfragen, wird es den Piraten an Wählerzuspruch nicht mangeln: Ihr Sprung in die Landtage von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen gilt als sicher. Bundesweit kommt die Partei derzeit auf bis 13 Prozent. Die politische Konkurrenz ist nervös – vor allem im linken Lager. Denn bei der Bundestagswahl 2013 könnten die Newcomer die Grünen als dritte Kraft ablösen; in Nordrhein-Westfalen SPD und Grüne die Fortsetzung ihrer Koalition vermasseln.

    "- "Ich wollte mal Hallo sagen."
    - "Hallo. Geht es gut?"
    - "Ja. Anstrengend."
    - "Ja, anstrengend. Weiche Knie, dicke Füße, viel Rumgelaufe."
    - "Ja, das ist ja bei allen Parteien so.""

    Ein Höflichkeitsbesuch soll es sein. Small-Talk mit dem politischen Gegner. Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Spitzenkandidat ist Joachim Paul. In der Fußgängerzone von Neuss steuert der Pirat den Infostand der Öko-Partei an. Vor Jahren wählte er noch grün, verrät der Pirat dem Landtagsabgeordneten Hans Christian Markert. Doch der ist nicht zum Plaudern aufgelegt:

    "- "Gibt es eine klare Abgrenzung zu den Nazis bei den Piraten?"
    - "Die steht schon im Programm, wir machen nur Formfehler."
    - "Nee, nee, vorsicht, nicht ganz so lockern damit umgehen."
    - "Man verhält sich ein bisschen ungeschickt. Wir sind Anfänger, ganz klar."
    - "Nee, Anfänger seid ihr jetzt nicht mehr."
    - "Moment, Moment, das gilt sogar für die etablierte Politik: Die SPD hat ihr Sarrazin-Problem. Also, geschickt hat die sich auch nicht verhalten."
    - "Also, ich finde, ihr seid Stacheln in unserem Hintern. Wir sollen uns anstrengen, wir sollen für Transparenz und Bürgernähe sorgen, alles einverstanden. Frische, neue Köpfe. Aber dieser Umgang, der stört mich.""

    Joachim Paul trägt schwarze Jeans, schwarze Jacke, einen gepflegten weißen Bart. Ein Biophysiker mit Doktortitel, der sicher nicht zum Klischee eines jungen, computerverrückten Piraten passt. Sein Sohn ist so ein Technikfreak. Er hat den Vater 2009 zu einem Piratenstammtisch mitgeschleppt, seitdem schwärmt der 54-Jährige von der Idee einer Demokratie der Vielen, von der Intelligenz der Masse und Basisbeteiligung via Internet.

    "- "Wo findet bei ihnen Sozialpolitik statt?"
    - "Sozialpolitik?"
    - "Ja, beispielsweise wohnortnahe Gesundheitsvorsorge?"
    - "Ja, ja, das ist grüne Beschlusslage."
    - "Ist das auch Piratenbeschlusslage?"
    - "Nein, das ist natürlich noch nicht Piratenbeschlusslage, weil unser Programm erst 87 Seiten lang ist.
    - "Das heißt, das ist noch nicht fertig, aber man geht schon mal in die Parlamente."
    - "Moment, Moment, was heißt, man geht schon mal in die Parlamente, ihr hattet genau dasselbe Problem."
    - "Nee, es gab ein Grundsatzprogramm von 1980."
    - "Ihr ward eine monothematische Partei und hattet auch nur zwei oder drei Themen."
    - "Frieden, Umwelt, Frauen und soziale Teilhabe hatten wir damals schon drauf."
    - "Und wir werden heute bereits nach Finanz- und Außenpolitik gefragt."
    - "Ja, die Finanzpolitik habe ich mir angeguckt, da fällt mir teilweise irgendwie das Frühstück aus dem Hals.""

    Der Grüne Markert hat im Wahlprogramm der nordrhein-westfälischen Piraten geblättert. Darin wird etwa die Streichung aller staatlichen Subventionen gefordert. Ferner sollen die Schulklassen kleiner und ein fahrscheinloser, also kostenloser öffentlicher Personennahverkehr eingeführt werden. Doch wie die Piraten diese Wahlkampfversprechen finanzieren wollen, dazu findet sich im Programm kein klares Wort.

    "- "Es gibt schon ein Parteiprogramm, da stehen auch Visionen drin. Und bei allen anderen Parteien kann man oben drüber schreiben, es gilt das gebrochene Wort. Sie wollen ja auch nicht in den Krieg ziehen."
    - "Uns wirft man Unklarheiten vor, die Bürgerinnen und Bürger – zumindest diejenigen, die uns wählen oder die nach langen Jahren wieder an die Wahlurne kommen, sehen das anders."
    - "Stachel in unserem etablierten Hintern, finde ich richtig. An der Stelle, wo es um Transparenz und wo es um die Frage der direkten Demokratie geht. Wobei ich glaube, in der Sache sind wir da nicht weit auseinander. Das haben sie für sich nicht gepachtet."
    - "Nein, sondern das können wir dann ja auch zusammen machen.""

    Viel Erfolg mit wenig Inhalt. Der grüne Politiker schüttelt missmutig den Kopf. Wie halten es die Piraten mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan? Wie stehen sie zum Betreuungsgeld? Wie zur Eurorettung? Joachim Paul muss passen. An diesen Positionen arbeitet seine Partei noch.

    "- "Entweder müssen sie sagen, wir sind jetzt dabei seit 2006, wir kommen jetzt wahrscheinlich in viele Parlamente rein und wir sind jetzt eine neue Kraft. Punkt."
    - "Dann nehme ich sie ernst und dann nehme ich sie auch programmatisch ernst und da wo sie nichts, kein Programm haben, werde ich sie auch angreifen. Oder aber sie sagen, wir sind eine junge Partei, wir müssen erst mal abwarten und bitte spielt nur mit uns."
    - "Nee, nee, nee – dieses Nicht-Ernst-Genommen-Werden, die Zeiten sind lange vorbei.""

    Die politischen Freibeuter mischen nicht nur die Parteienlandschaft auf. Sie sind in den Augen des Hamburger Politikwissenschaftlers Kai-Uwe Schnapp ein Phänomen – eine Partei mit vielen Anhängern, aber ohne Identität:

    "Sie haben im Moment diesen Punkt: Wir wollen gesellschaftliche Diskussionsprozesse anders organisieren. Und das trägt, glaube ich auch, schon noch ein Stück weit – mindestens bis zur Bundestagswahl. Aber auf Sicht muss man natürlich auch zu inhaltlichen Dingen kommen. Die Konservativen haben vor allem ordnungspolitische Probleme, die Liberalen haben Freiheitsprobleme, die Sozialisten die Frage der sozialen Gerechtigkeit und die Grünen der Ökologie. Und so ein Thema muss man natürlich finden, um Identität herausbilden zu können. Ich glaube, alleine um einen Prozess herum kann man keine Identität herausbilden."

    "- "Bernd Schlömer erhielt 922 Stimmen – das sind 66,62 Prozent. Lieber Bernd, ich darf ich fragen: Nimmst Du die Wahl zum Vorsitzenden der Piraten in Deutschland an?"
    - "Ich nehme die Wahl an. Vielen Dank. Wir werden viel erreichen.""

    Stundenlang ziehen sich die Wahlgänge hin. Erst stellen sich die Kandidaten vor, dann beantworten sie ausführlich Fragen. Zwei Tage nehmen sich die Piraten Zeit, über Personen und Positionen zu streiten, anstatt ihr Programm mit Inhalten zu füllen.

    Bernd Schlömer: "Politik muss leicht und verständlich für Jedermann sein. Sie muss die Menschen einladen, mitzugestalten. Als Vorsitzender hat man die Aufgabe, Öffentlichkeit für Politik, Beteiligung und Partizipation zu begeistern. Die Arbeit an eigenen Positionen muss uns einen und darf uns nicht trennen. Ich möchte versuchen, die Piraten zur konstruktiven Zusammenarbeit und Geschlossenheit zu animieren. Bei aller Individualität müssen wir wieder stärker als im letzten Jahr wieder miteinander arbeiten."

    Mit Sebastian März wird er weiterarbeiten; der ehemalige Vorsitzende ist Schlömers Stellvertreter. Der 41-Jährige arbeitet im Verteidigungsministerium. Dort ist er für die Bundeswehrhochschulen zuständig. Sein ehrenamtliches Parteiamt ist für seinen Arbeitgeber wohl kein Problem. Mit ihm steht ein Parteimanager an der Spitze, der laut und meinungsstark ist, aber auch provozieren und organisieren kann. Vor allem aber wird Bernd Schlömer zugetraut, die internen Diskussionsprozesse nach außen deutlich zu verkaufen. Der Politikwissenschaftler Kai Uwe Schnapp sieht in den Piraten bereits die besseren Liberalen:

    "Als FDP würde ich mir große Sorgen machen, weil ich schon denke, dass gerade mit der starken Betonung von Bürger- und Freiheitsrechten, von Meinungsfreiheit und so weiter die Piraten sehr wohl das Potenzial haben, die FDP abzulösen. Und die Kernklientel der FDP zum guten Teil mit zu übernehmen. Und dann wirklich die modernere, politisch-liberale Partei zu sein, die sich um Bürger-, Freiheitsrechte kümmert. Da wäre so ein Kern, der auf längere Sicht geeignet wäre, eine Partei zu tragen."

    Wuppertal. Vergangene Woche. Die örtlichen Piraten haben ins Nebenzimmer einer Kneipe eingeladen. Der Saal füllt sich schnell. An die 60 Besucher sitzen vor einer kleinen Bühne. Das Gros ist männlich, der Alterschnitt weit jenseits der 50 - ein bürgerliches Publikum. Hinten an einem Tisch hat es sich ein älterer Herr bequem gemacht. Elegant gekleidet, das weiße Haar akkurat gescheitelt.

    "Mich interessiert einfach, dass da jetzt eine neue Kraft da ist, die versucht, auf ganz ungewöhnliche Art und Weise das ein oder andere vielleicht auch zurechtzurücken. Auch, wenn sie kein richtiges Programm bis jetzt haben, das man kennen würde. Aber mir gefällt das einfach, dass da ein bisschen aufgemischt wird die großen Parteien."

    Er ist das erste Mal bei den Piraten, erzählt der Rentner und verrät, dass er früher immer FDP gewählt hat, von deren Steuersenkungspolitik jedoch enttäuscht ist. Mehr Transparenz, mehr Mitspracherecht erhofft er sich von den Newcomern. Ihr Versprechen, eine andere Art Politik zu machen, hat ihn neugierig gemacht:

    "Das ist ähnlich, wie es bei den Grünen Mal war. Und da muss man gucken, wie gewisse Dinge vielleicht transparenter werden, die man sonst so nicht ohne Weiteres mitbekommt bei den großen Parteien. Und deshalb interessiert mich, was die Piraten hier ändern, was sie machen wollen. Vieles ist vielleicht noch völlig unausgegoren, aber die Ansätze! Es ist sicher interessiert heute Abend, was gesagt wird dazu."

    "Bedingungsloses Grundeinkommen" – das Thema des Abends ist keine leichte Kost. Diese staatliche Zahlung an alle haben die Piraten Anfang Dezember in Offenbach in ihr Grundsatzprogramm geschrieben. Es ist einer ihrer bisher seltenen konkreten politischen Beschlüsse. Die Forderung steht im Raum, was fehlt, ist ein schlüssiges Konzept. Der Wuppertaler Landtagskandidat Olaf Wegner arbeitet seit Monaten daran:

    "Die Idee des Grundeinkommens ist, dass einen bestimmten Betrag jeder Mensch hat. Darunter geht gar nicht. Es wird ein Grundeinkommen für Erwachsene geben von 457 Euro und einem Wohngeld bei einem Single von 350 Euro. Das heißt, jeder Mensch hätte schon mal 800 Euro garantiert für sich. Dadurch würden viele Sozialleistungen wegfallen, ganz klar Hartz IV, Kindergeld, BaFöG, Elterngeld – das würde alles wegfallen, weil das würde jetzt alles durch dieses garantierte Einkommen ersetzt werden. Finanziert würde das Ganze hauptsächlich durch den Wegfall der Steuerfreibeträge."

    Was aus den Beamten und Angestellten werden soll, die heute für Hartz IV, BaFöG oder Elterngeld zuständig sind, wird Pirat Wegner aus dem Publikum gefragt. Die könnten an die Schulen gehen, antwortet er, und die Lehrer bei der Verwaltungsarbeit entlasten. Zustimmendes Nicken, aber auch Kopfschütteln im Saal. Der Sozialpirat, wie er sich selbst nennt, räumt ein, dass verschiedene Arbeitsgruppen in seiner Partei an Papieren zum bedingungslosen Grundeinkommen schreiben. Ob sie sich bis zur Bundestagswahl auf ein gemeinsames Konzept einigen können, weiß er nicht. Noch wird intern um Idee und Finanzierung gestritten:

    "Und was uns ganz, ganz wichtig ist: Wir wollen keinen Zwang zur Arbeit. Das heißt, den Betrag gibt es bezahlt, ohne dass irgendeine Bedingung daran geknüpft ist, dass man arbeiten zu gehen hat. Wir glauben, wenn man den Leuten den Zwang wegnimmt, ihnen aber ein gewisses Einkommen garantiert, dass sicherlich mehr Leute arbeiten gehen würden beziehungsweise, dass sich das ungefähr mit den Leuten aufwiegt, die jetzt sagen: Ist okay, wenn ich 800 Euro habe, gehe ich nicht mehr arbeiten, weil ich will viel lieber meine Kinder zuhause oder ich möchte lieber meine Mutter pflegen."

    Zukunftsweisend, utopisch oder naiv – egal wie man seine Idee einer neuen Sozialpolitik für Deutschland auch nennen mag. An diesem Abend bekommt Wegner Applaus aus dem Publikum. Auch vom älteren Herrn, hinten am Tisch. Drei Stunden hat er interessiert zugehört, geduldig den vielen Zahlen und Details über deutsche Steuerpolitik gelauscht. Hat er alles verstanden? Lachend schüttelt er den Kopf. Wählt er jetzt Piraten? "Ich weiß es nicht", sagt er und fügt hinzu: Meinen Respekt haben sie:

    "Ich finde das löblich, dass sie sich da Gedanken gemacht haben. Und ich finde es auch richtig, dass man das nachher irgendwie auch mit anderen Modellen vergleichen will und dann hinterher, wenn es auch von anderen Gruppierungen mehr oder weniger gut geheißen wird, dass man den Bürger darüber abstimmen lässt. Aber bis dahin muss noch einiges passieren."

    "- "Können wir Ihnen helfen?"
    - "Möchten sie Infomaterial haben?"
    - "Sie können mir auch Fragen stellen."
    - "Wir beißen nicht."
    - "Möchten Sie ein Grundgesetz haben?"
    - "Es ist immer gut, so etwas im Schrank stehen zu haben."
    - "Wie gesagt, das verschenken wir auch, das kostet nichts.""

    Samstag, um die Mittagszeit. Ein Infostand in der Fußgängerzone im nordrhein-westfälischen Neuss. Aprilwetter, Regen, Sonne, Hagel. Die Wahlkämpfer der CDU haben längst aufgegeben. Gegenüber, am Stand der Piratenpartei, aber bleiben die Leute stehen. Wieder sind es auffällig viele ältere Herrschaften. Manche nehmen die Taschenbuchausgabe des deutschen Grundgesetzes mit, das Spitzenkandidat Joachim Paul den Kompass der Piraten nennt:

    "Weil wir das gut finden. Da haben sich die Gründer der Bundesrepublik richtig was Gutes einfallen lassen. Darum stehen wir auch dazu. Wir glauben, unser Grundgesetz ist eine gute Grundlage für eine Demokratie der Vielen."

    Eine Demokratie der Vielen. Via Internet. Auf die Frage, was das konkret zu bedeuten hat, spult Joachim Paul alt bekannten Parteiversprechen wie mehr Transparenz, Basisdemokratie, Bürgerbeteiligung herunter. Der 54-Jährige weiß um die hohen Erwartungen seiner Wähler. Nein, Angst habe er nicht. Trotzdem wird seine Stimme plötzlich sehr laut, die Aufnahme klingt fast scheppernd.

    "Weil wir sehr, sehr schnell große Verantwortung übertragen bekommen. Und zwar für unsere Demokratie. Wenn die Piraten scheitern, scheitern sollten, dann wird diese Demokratie der Vielen, die wir anstreben, auf Jahre hinaus nicht mehr Thema sein. Und das wäre ein Riesenverlust für unsere Demokratie."

    Spitzenkandidat Paul weiß um den Neid der politischen Konkurrenz. Er weiß, dass sie den Shooting-Stars ganz genau auf die Finger schauen werden. Ihm ist klar, dass seine Partei spätestens nach der NRW-Wahl Mitte Mai den Welpenschutz verliert.

    "Dann sind wir insgesamt in vier Landesparlamenten. Als Nächstes steht dann an eine Bundestagswahl im nächsten Jahr. Das wird heftig, ja. Der Welpenschutz ist dann weg und wir müssen dann liefern. Aber ich bin sehr zuversichtlich. Und vielleicht heißt es dann in zehn bis 15 Jahren, wir brauchen überhaupt keine Parteien mehr, weil das System, wie man Politik mit dem Netz macht, was die Piraten vorgeschlagen haben, funktioniert. Aber das ist Science Fiktion."

    Auf dem Bundesparteitag ist die Stimmung gereizt. Der Antrag auf Absetzung des Wahlleiters wird zwar abgelehnt, die Basis bleibt allerdings skeptisch. Eigentlich wollte der Vorstand die Parteistrukturen professioneller gestalten, um besser organisiert in den Bundestagswahlkampf zu ziehen. Doch die Basis-Piraten rebellieren gegen eine schleichende Anpassung an die etablierten Parteien: Einen Vorstand für zwei Jahre wählen, statt einem Jahr? Abgelehnt. Ein Beirat, der parallel zum Vorstand tagt? Durchgefallen. Ein Antrag auf Trennung von Amt und Mandat? Abgeschmettert. Die Basis will, dass alles so bleibt, wie bisher. Und über Inhalte und Programm soll dann im Herbst der nächste Parteitag entscheiden.