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Viel zu sagen

"Asado Verbal" heißt zu Deutsch so viel wie "verbales Grillfest". Timo Berger und Rike Bolte geben diese Anthologie junger argentinischer Literatur heraus. Sie haben fünfzehn Texte vorwiegend junger Autoren ausgewählt - deren Themen bewegen sich jenseits von Fußball, Tango oder Militärdiktatur.

Von Eva Karnofsky | 04.06.2010
    Asado Verbal zu lesen lohnt sich, denn die fünfzehn Texte geben einen Überblick darüber, was junge argentinische Autorinnen und Autoren heute beschäftigt. Sie halten sich nicht nur bei den altbekannten Themen wie Fußball, Tango oder Aufarbeitung der Militärdiktatur auf, mit denen man Argentinien hierzulande meist verbindet, sondern nehmen darüber hinaus die verschiedensten Lebensbereiche in den Blick. Ausflüge ins Fantastische, am Río de la Plata seit Horacio Quiroga und Jorge Luis Borges sehr beliebt, finden ebenso statt wie realistisch-kritische Auseinandersetzungen mit dem täglichen Leben, und auch der Humor kommt keinesfalls zu kurz.

    Washington Cucurto, Jahrgang 1973, fährt mit seinem Fahrrad jeden Morgen ab 5.30 Uhr von Supermarkt zu Supermarkt, um dort Regale aufzufüllen. Er lädt die Leser ein, ihn einen Tag lang dabei zu begleiten:

    "Aufs Fahrrad passen wir nicht alle, oder wisst ihr was? Stellt euch besser vor, ihr seid die Abziehbildchen, die ich mir immer an meinen blauen Helm klebe."

    In flotter Umgangssprache schildert er das erwachende Buenos Aires, doch vor allem macht er sich über die Konsumgesellschaft lustig:

    "Das Regal. Es gibt uns eine Heimat. Es gibt Regale in allen Größen und mit allen Dingen, die ihr euch vorstellen könnt und noch nie gesehen habt, zum Beispiel die neuen Badeentchen, die es zur Batterie Everready im Angebot dazu gibt. Oft sind die Geschenke besser als die Produkte selbst."

    Und aus der Tatsache, dass man ihn einmal entlassen hat, weil er nicht rasiert war, hat er auch seine Schlüsse gezogen:

    "Zu allem sage ich ja, das ist grundlegend: Das Wichtigste im Leben ist, zu allem Ja zu sagen. Das Einzige, was etwas bringt, ist, ja, zu sagen: Ja Señor."

    Während Cucurto die Ausbeutung ironisch vorführt, wählt Lucía Puenzo, 1976 geboren, einen bitter-ernsten Ton, um die argentinische Klassengesellschaft zu schildern, in der man Hausangestellte noch gelegentlich wie Leibeigene behandelt. Puenzo erzählt die Geschichte einer Hasenjagd des reichen Herrn Razzani und seines künftigen Schwiegersohns Rufino. Bei dieser Jagd schießt Rufino einem halbwüchsigen Jungen namens Paraguay ins Bein. Paraguay ist Razzanis unehelicher Sohn, das Hausmädchen Irma dessen Mutter. Der Junge, der bei den Großeltern in Irmas Heimat in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, hat sie in den Ferien besucht. Der Arzt rät Irma, wenn ihr Sohn wieder gesund werden soll, den Vorfall zu vergessen.

    In dieser Nacht lässt sich Rufino drei Mal auftragen. Das ist der beste provenzalische Hase meines Lebens, beteuert er. Und bittet um Applaus für Irma. Die Panik davor, was ihm hätte widerfahren können, (nicht Paraguay, sondern seiner Zukunft) stimmt ihn euphorisch, jetzt, wo alles wieder unter Kontrolle zu sein scheint. Razzani macht sich kein einziges Mal über ihn lustig; er behandelt ihn sogar besser als sonst.

    Um Gewalt, Straflosigkeit und Korruption geht es auch in Carlos Blascos Text über Luis Miguel Guzmán, alias Picota, der mit acht Jahren seinen ersten Diebstahl beging, sieben Jahre später seinen ersten Mord. Mit neunzehn wird er wegen Mordes an seiner Freundin verurteilt:

    Aber seine geheimen Beziehungen zu einem hohen Funktionär in der Provinzverwaltung, für den er schon einige Jobs erledigt hatte, halfen ihm, wieder auf freien Fuß zu kommen. Die Polizei hatte begriffen, dass Picota mittlerweile unantastbar geworden war. Dort, wo er zuschlug, entstanden im Handumdrehen Zonen, in denen die Polizei nicht eingriff.

    Doch dann geht Picota zu weit: Er ermordet einen Polizisten und endet mit einem Messer in der Kehle. Der Befehl, ihn zu töten, kam von ganz oben.

    In den Ermittlungsakten wird die Todesursache von Luis Miguel Guzmán als Totschlag aus Notwehr in Folge eines bewaffneten Überfalls beschrieben.

    Mit seiner nüchtern-lakonischen Sprache unterstreicht Blasco die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse, vermittelt aber auch, dass sie längst Alltag sind. Wie die Gewalt inzwischen das tägliche Leben beeinflusst, kommt auch in weiteren Texten zum Ausdruck, wenn etwa ein Geburtstagsfest einer Fünfzehnjährigen mit einem Überfall endet.

    Mariana Enríquez, 1973 geboren, widmet sich dagegen einem heiteren Thema: dem weitverbreiteten Volksglauben an Wunder. Ihre Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit: Gustavo, der in Buenos Aires lebt, wird von der Familie in seine vergleichsweise rückständige Heimatprovinz Corrientes bestellt, weil sich mit dem Leichnam seiner Mutter Margarita Seltsames zugetragen hat, wie ihm seine Tante berichtet:

    "Deine Mami ist nicht vermodert. Sie sieht genauso aus wie damals, als wir sie begruben. Sie sieht sogar besser aus als damals, um ehrlich zu sein, sie ist nämlich nicht mehr so aufgeschwemmt."

    Am Grab finden sich bereits die ersten Pilger ein, die die Verstorbene um ein Wunder bitten. Gustavo, der rationale Hauptstädter, und Tante Lidia plädieren für schnellstes Einäschern:

    "Wir sind schließlich gar nicht darauf vorbereitet, eine Heilige unter uns zu haben, um ehrlich zu sein." "Aber was, wenn Margarita wirklich eine Heilige ist?" fragte Onkel Walter unsicher."

    Amüsant, mit leichter Ironie, schildert die Erzählerin die Streitereien der weitverzweigten Familie. Ein ernster Unterton ist immer dann zu spüren, wenn die Rede auf Onkel Julio kommt, der unter der Diktatur den Folterern als Chauffeur gedient hat und diese immer noch verteidigt. Die Kluft zwischen Apologeten und Gegnern der Militärdiktatur der Siebzigerjahre spaltet bis heute viele argentinische Familien. Die Gräuel der Diktatur sind in mehreren Texten der jungen Autoren präsent, nur bearbeiten sie sie naturgemäß nicht, wie ihre älteren Kollegen, aus eigenem Erleben, sondern als unrühmlichen Teil der Geschichte ihres Landes und ihrer Familien, um dessen Verständnis sie sich bemühen.
    Asado Verbal bietet eine gelungene Textauswahl und tritt den Beweis an, dass die nachwachsende argentinische Schriftstellergeneration viel zu sagen hat. Wie die Älteren, befassen sie sich mit Gewalt, Ausbeutung, sozialem Protest und politischen Missständen. Auch die Veränderung der Gesellschaft durch Neueinwanderer bewegt sie, nur sind es nicht mehr wie früher Europäer, die in ihren Texten in Argentinien eine neue Heimat suchen, sondern die heutigen Zuwanderer, etwa Chinesen oder Menschen aus südamerikanischen Nachbarländern.

    Die Auseinandersetzung mit Homosexualität fließt ebenso in ihre Arbeit ein wie die Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen durch neue Kommunikationstechnologien. Sie schreiben stilsicher, frisch und lebendig und sind meist stärker in der Umgangssprache zu Hause, als man es bislang aus Argentinien gewohnt war. Vor allem aber zeichnet viele Vertreter der neuen argentinischen Schriftstellergeneration ein spöttischer oder ironischer Blick aus, mit dem sie die Welt betrachten.

    Timo Berger/Rike Bolte (Hg.): "Asado Verbal. Junge argentinische Literatur". Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010, 145 Seiten, Euro 9,90.