Ich wollte von Andrea Strunk zunächst wissen, ob denn wenigstens die Drahtzieher des Beslaner Terrorangriffs vor einem Jahr inzwischen bekannt seien:
Andrea Strunk: Nein, das ist nicht bekannt. Es gibt Vermutungen - beziehungsweise der tschetschenische Top-Terrorist Schamil Bassajev hat sich ja auch öffentlich in einem Interview mit einem englischen Sender zu diesem Attentat bekannt. Er hat ganz zynisch geäußert, dass die Osseten selber Schuld haben, weil sie eben die russische Regierung unterstützen. Aber auch Schamil Bassajev ist nun kein Mann, der solche Dinge ganz allein und auf eigene Faust machen kann.
Robert Baag: Präsident Wladimir Putin, Russlands Staatspräsident, hat eine Abordnung von Beslanen-Müttern empfangen. Anschließend äußerten diese Mütter, sie haben neues Vertrauen in die Regierung Russlands. Was ist von solch einer Äußerung zu halten, Frau Strunk?
Andrea Strunk: Ich glaube, dass die Mütter einfach froh waren, dass Putin sie, nachdem sie ein Jahr lang gebeten haben, dass er sie empfangen möge, dann am 2. September auch endlich empfangen hat. Sie hatten endlich die Möglichkeit, ihre Wut abzulassen, ihre Fragen einmal loszuwerden. Und ich kann mir schon vorstellen, dass Präsident Putin einfach versucht hat, darauf einzugehen und ihnen das Gefühl zu geben, dass in Zukunft alles getan wird, um die Wahrheit herauszufinden.
Robert Baag: Halten Sie das für glaubhaft?
Andrea Strunk: Nein.
Robert Baag: Frau Strunk, lassen Sie uns jetzt direkt zu Ihrem Buch kommen. Auf Seite 60 zitieren Sie Semfira, die ihren kleinen Jungen verloren hat: "Rache ist die einzige Antwort auf das, was sie uns angetan haben. Das ist das Gesetz des Kaukasus. Ich sage nicht, dass wir die Kinder der Inguschen umbringen sollen, aber sie haben Väter und Mütter, die sie zu diesen Ungeheuern erzogen haben. Ich erwarte, dass unsere jungen Männer losgehen. Wenn nichts geschieht, gehe ich selbst." Ist so etwas eine einzelne Stimme oder denken viele so - vielleicht sogar die Mehrheit - in Ossetien?
Andrea Strunk: Viele denken so. Ob es eine Mehrheit ist, das weiß ich nicht. Aber ich habe diesen Wunsch nach Rache von sehr, sehr vielen Osseten gehört - auch von vielen Männern, weil es die einzige Emotion ist, die man ihnen zugesteht. Feststeht, dass es bisher keine Blutrache für Beslan gegeben hat, und ich hoffe, dass es das auch nicht geben wird.
Robert Baag: Wer ist denn Ihrer Ansicht nach schuld an diesem von Ihnen auch eben angesprochenen zerrütteten Verhältnis zwischen den Nachbarn, den Inguschen und den Osseten?
Andrea Strunk: Also, dass jemand schuld ist, kann man so einfach nicht beantworten. Beide Völker sind immer manipuliert und benutzt worden für Ziele, die in der russischen Regierung formuliert worden sind. Wenn Sie dann so etwas wie Nachbarschaftshass oder ethnische Konflikte nehmen und die nur lange genug manipulieren, dann können Sie Menschen zu vielem bekommen.
Robert Baag: Sie schreiben, dass die überwiegend russisch-orthodoxen Osseten sich eigentlich nie so als Kaukasier empfunden haben wie die Tschetschenen, wie die Inguschen. Kann man daraus weiterleiten und sagen, dass sie so eine Art kaukasische Verbündete einer heute neopatriotischen, sich auch über die christliche, die orthodoxe Religion definierten Kreml-Ideologie fühlen?
Andrea Strunk: Ja, so wird das oft dargestellt. Auch die Osseten sehen das so. Aber es gibt auch eine andere Passage in dem Buch, wo der ossetische Schriftsteller Alan Tschertschesov meiner Meinung nach zu Recht darauf hinweist, dass weder die Moslems diesen muslimischen Glauben noch voll ausleben noch die Osseten ihren russisch-orthodoxen Glauben ausleben. Ich glaube, dass es einfach eine verschiedene Entwicklung auf der Ebene der Zivilisation ist, sozusagen. Inguschetien, Tschetschenien das sind sehr, sehr arme Länder mit ganz anderen Traditionen als Ossetien sie hat. In Ossetien gibt es Hochschulen und Theater. Eine ganz andere Entwicklung hat dieses Land genommen. Ich glaube, diese Differenzen sind ausschlaggebend für das schwierige Verhältnis zwischen den Völkern.
Robert Baag: Sie schreiben, sie wollten nicht das "inguschische Banditentum" teilen. Ist das hier nicht doch ein bisschen pauschalierend, so eine Art Kollektivurteil?
Andrea Strunk: Das ist eben das wie die Osseten es sehen. Sie bezeichnen die Inguschen als Viehdiebe und behaupten, dass die Inguschen heute eben noch vom Diebstahl leben. Das ist die eine Seite. Und die andere ist, dass Inguschetien inzwischen wirklich ein sehr, sehr schwieriges Land ist. Ausländer können sich dort nur mit Hilfe von Leibwächtern durch das Land begeben. Menschenhandel ist eine weit verbreitete Form des Geldverdienens und, ja, Inguschetien hat einfach ganz, ganz große Probleme mit der Kriminalität. Es ist ein unglaublich unsicheres und von Verbrechen geprägtes Land geworden, was, das möchte ich ausdrücklich betonen, nichts über die Bevölkerung aussagt. Die Inguschen sind sehr, sehr gastfreundliche Menschen. Aber die Struktur dieses Landes ist einfach völlig zerrüttet und verkommen.
Robert Baag: Es wird deutlich, dass es sich dort um eine vielschichtige Gemengelage handelt. Sie schreiben in Ihrem Dank am Ende Ihres Buches, Dank an die Gesprächspartner: Einer davon, der bewahrte mich vor den Fallstricken der Oberflächlichkeit. Was heißt das konkret?
Andrea Strunk: Das ist ein junger ossetischer Student, mit dem ich eben sehr viel über diese ossetischen Ansichten gesprochen habe. Es ist ja immer schwierig, wenn man von außen nach Ossetien kommt, und dann hört man dieses sehr nationalistische Gedankengut. Da kommt man sehr schnell dahin, Dinge anzunehmen, die vielleicht am Ende nicht stimmen. Und da ist es dann gut, wenn man mit einem Osseten spricht, der einem die lange Tradition bestimmter Meinungen und Ansichten nochmal klar macht.
Robert Baag:", so heißt der Titel Ihres Buches, Frau Strunk. Ein Requiem ist eine Totenmesse. Hat also Beslan keine Zukunft mehr?
Andrea Strunk: Doch. Beslan hat sicher eine Zukunft. Die Zeit heilt immer irgendwo alle Wunden. Und natürlich gibt es nie, nie, nie ein Ende. Aber ich glaube, dass die Eltern von Beslan, die hinterbliebenen Mütter, die Väter, die ihre Kinder identifizieren mussten und durch eine Leichenhalle mit Hunderten von grausam verstümmelten Toten gehen mussten, dass es für die kein Leben in einem normalen Leben mehr geben wird. Ich glaube, dass diese Menschen irgendwie aus der Welt und aus der Zeit gefallen sind und es auch bleiben werden.
Andrea Strunk: Beslan, Requiem.
Verlag Brendow, Moers 2005, 192 S., EUR 14,90
Andrea Strunk: Nein, das ist nicht bekannt. Es gibt Vermutungen - beziehungsweise der tschetschenische Top-Terrorist Schamil Bassajev hat sich ja auch öffentlich in einem Interview mit einem englischen Sender zu diesem Attentat bekannt. Er hat ganz zynisch geäußert, dass die Osseten selber Schuld haben, weil sie eben die russische Regierung unterstützen. Aber auch Schamil Bassajev ist nun kein Mann, der solche Dinge ganz allein und auf eigene Faust machen kann.
Robert Baag: Präsident Wladimir Putin, Russlands Staatspräsident, hat eine Abordnung von Beslanen-Müttern empfangen. Anschließend äußerten diese Mütter, sie haben neues Vertrauen in die Regierung Russlands. Was ist von solch einer Äußerung zu halten, Frau Strunk?
Andrea Strunk: Ich glaube, dass die Mütter einfach froh waren, dass Putin sie, nachdem sie ein Jahr lang gebeten haben, dass er sie empfangen möge, dann am 2. September auch endlich empfangen hat. Sie hatten endlich die Möglichkeit, ihre Wut abzulassen, ihre Fragen einmal loszuwerden. Und ich kann mir schon vorstellen, dass Präsident Putin einfach versucht hat, darauf einzugehen und ihnen das Gefühl zu geben, dass in Zukunft alles getan wird, um die Wahrheit herauszufinden.
Robert Baag: Halten Sie das für glaubhaft?
Andrea Strunk: Nein.
Robert Baag: Frau Strunk, lassen Sie uns jetzt direkt zu Ihrem Buch kommen. Auf Seite 60 zitieren Sie Semfira, die ihren kleinen Jungen verloren hat: "Rache ist die einzige Antwort auf das, was sie uns angetan haben. Das ist das Gesetz des Kaukasus. Ich sage nicht, dass wir die Kinder der Inguschen umbringen sollen, aber sie haben Väter und Mütter, die sie zu diesen Ungeheuern erzogen haben. Ich erwarte, dass unsere jungen Männer losgehen. Wenn nichts geschieht, gehe ich selbst." Ist so etwas eine einzelne Stimme oder denken viele so - vielleicht sogar die Mehrheit - in Ossetien?
Andrea Strunk: Viele denken so. Ob es eine Mehrheit ist, das weiß ich nicht. Aber ich habe diesen Wunsch nach Rache von sehr, sehr vielen Osseten gehört - auch von vielen Männern, weil es die einzige Emotion ist, die man ihnen zugesteht. Feststeht, dass es bisher keine Blutrache für Beslan gegeben hat, und ich hoffe, dass es das auch nicht geben wird.
Robert Baag: Wer ist denn Ihrer Ansicht nach schuld an diesem von Ihnen auch eben angesprochenen zerrütteten Verhältnis zwischen den Nachbarn, den Inguschen und den Osseten?
Andrea Strunk: Also, dass jemand schuld ist, kann man so einfach nicht beantworten. Beide Völker sind immer manipuliert und benutzt worden für Ziele, die in der russischen Regierung formuliert worden sind. Wenn Sie dann so etwas wie Nachbarschaftshass oder ethnische Konflikte nehmen und die nur lange genug manipulieren, dann können Sie Menschen zu vielem bekommen.
Robert Baag: Sie schreiben, dass die überwiegend russisch-orthodoxen Osseten sich eigentlich nie so als Kaukasier empfunden haben wie die Tschetschenen, wie die Inguschen. Kann man daraus weiterleiten und sagen, dass sie so eine Art kaukasische Verbündete einer heute neopatriotischen, sich auch über die christliche, die orthodoxe Religion definierten Kreml-Ideologie fühlen?
Andrea Strunk: Ja, so wird das oft dargestellt. Auch die Osseten sehen das so. Aber es gibt auch eine andere Passage in dem Buch, wo der ossetische Schriftsteller Alan Tschertschesov meiner Meinung nach zu Recht darauf hinweist, dass weder die Moslems diesen muslimischen Glauben noch voll ausleben noch die Osseten ihren russisch-orthodoxen Glauben ausleben. Ich glaube, dass es einfach eine verschiedene Entwicklung auf der Ebene der Zivilisation ist, sozusagen. Inguschetien, Tschetschenien das sind sehr, sehr arme Länder mit ganz anderen Traditionen als Ossetien sie hat. In Ossetien gibt es Hochschulen und Theater. Eine ganz andere Entwicklung hat dieses Land genommen. Ich glaube, diese Differenzen sind ausschlaggebend für das schwierige Verhältnis zwischen den Völkern.
Robert Baag: Sie schreiben, sie wollten nicht das "inguschische Banditentum" teilen. Ist das hier nicht doch ein bisschen pauschalierend, so eine Art Kollektivurteil?
Andrea Strunk: Das ist eben das wie die Osseten es sehen. Sie bezeichnen die Inguschen als Viehdiebe und behaupten, dass die Inguschen heute eben noch vom Diebstahl leben. Das ist die eine Seite. Und die andere ist, dass Inguschetien inzwischen wirklich ein sehr, sehr schwieriges Land ist. Ausländer können sich dort nur mit Hilfe von Leibwächtern durch das Land begeben. Menschenhandel ist eine weit verbreitete Form des Geldverdienens und, ja, Inguschetien hat einfach ganz, ganz große Probleme mit der Kriminalität. Es ist ein unglaublich unsicheres und von Verbrechen geprägtes Land geworden, was, das möchte ich ausdrücklich betonen, nichts über die Bevölkerung aussagt. Die Inguschen sind sehr, sehr gastfreundliche Menschen. Aber die Struktur dieses Landes ist einfach völlig zerrüttet und verkommen.
Robert Baag: Es wird deutlich, dass es sich dort um eine vielschichtige Gemengelage handelt. Sie schreiben in Ihrem Dank am Ende Ihres Buches, Dank an die Gesprächspartner: Einer davon, der bewahrte mich vor den Fallstricken der Oberflächlichkeit. Was heißt das konkret?
Andrea Strunk: Das ist ein junger ossetischer Student, mit dem ich eben sehr viel über diese ossetischen Ansichten gesprochen habe. Es ist ja immer schwierig, wenn man von außen nach Ossetien kommt, und dann hört man dieses sehr nationalistische Gedankengut. Da kommt man sehr schnell dahin, Dinge anzunehmen, die vielleicht am Ende nicht stimmen. Und da ist es dann gut, wenn man mit einem Osseten spricht, der einem die lange Tradition bestimmter Meinungen und Ansichten nochmal klar macht.
Robert Baag:", so heißt der Titel Ihres Buches, Frau Strunk. Ein Requiem ist eine Totenmesse. Hat also Beslan keine Zukunft mehr?
Andrea Strunk: Doch. Beslan hat sicher eine Zukunft. Die Zeit heilt immer irgendwo alle Wunden. Und natürlich gibt es nie, nie, nie ein Ende. Aber ich glaube, dass die Eltern von Beslan, die hinterbliebenen Mütter, die Väter, die ihre Kinder identifizieren mussten und durch eine Leichenhalle mit Hunderten von grausam verstümmelten Toten gehen mussten, dass es für die kein Leben in einem normalen Leben mehr geben wird. Ich glaube, dass diese Menschen irgendwie aus der Welt und aus der Zeit gefallen sind und es auch bleiben werden.
Andrea Strunk: Beslan, Requiem.
Verlag Brendow, Moers 2005, 192 S., EUR 14,90