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Archiv


Viele nicht belegbare Vermutungen

Im Mai erschien eine Studie über Elisabeth Noelle-Neumann, Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Der Autor Jörg Becker versucht darin, Noelle-Neumann eine Nähe zum braunen Gedankengut nachzuweisen. Es folgte ein Rechtsstreit mit ihrem Großneffen, der mit einem Vergleich endete.

Von Niels Beintker | 22.07.2013
    Jörg Beckers Versuch einer kritischen Biografie der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann ist eine Anklageschrift, eine lautstarke Fundamentalkritik. Gestützt auf zahlreiches Archivmaterial will der Politologe die Mitbegründerin der modernen Meinungsforschung in Deutschland systematisch demontieren, sie gewissermaßen denunzieren als unreflektierte, unkritische Parteigängerin einer völkischen, ja, nationalsozialistisch grundierten Ideologie. Die leitende These wird gleich auf den ersten Seiten ausgebreitet.

    "Eine Stunde Null hat es für Noelle-Neumann nach 1945 weder in ihrem sozialen Umfeld noch in ihrem Denken gegeben. Gestützt auf alte Seilschaften aus der NS-Zeit hat sie im Nachkriegsdeutschland Karriere gemacht."

    Und dabei habe sie – so die Argumentation weiter – nach 1945 ihr Mittun bemäntelt, verschwiegen, zurechtgebogen, sich sogar zur Widerstandskämpferin stilisiert und doch die ideologischen Wurzeln aus der NS-Zeit nie gekappt. Schwere Geschütze, die da aufgefahren werden. Die Thesen riefen kontroverse Reaktionen hervor. Der "Spiegel" etwa schwärmte von den eindrucksvollen Archivfunden und resümierte, an der braunen Gesinnung der jungen Noelle-Neumann könne es keinen Zweifel mehr geben. Michael Wolfssohn, Historiker an der Münchner Hochschule der Bundeswehr, wiederum veröffentlichte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine wütende Rezension und hielt dem Biografen begrifflich-ideologische Unschärfe und Polemik vor. Der Großneffe der 2010 verstorbenen Meinungsforscherin, Ralph Erich Schmidt, strebte schließlich wegen falscher Vorwürfe eine Unterlassungsklage gegen Jörg Becker und den Schöningh-Verlag an. Vor dem Landgericht Köln einigten sich beide Parteien auf einen Vergleich. Das Buch wurde zurückgezogen. Auf der Internet-Seite von Schöningh hieß es bis vergangene Woche in einer Presseerklärung mit Blick auf die Richtigstellung unwahrer Behauptungen:

    "Dies betrifft insbesondere den im Buch verbreiteten Vorwurf, Entnazifizierungsurkunden, die Frau Noelle-Neumann vorlegte, seien gefälscht gewesen. Da dieser Vorwurf nachweislich falsch ist, wie übereinstimmende Dokumente aus ihrem Privatarchiv und dem Staatsarchiv Freiburg i.Br. belegen, verpflichten sich Autor und Verlag, dies in künftigen Auflagen des Buches richtigzustellen." (Abruf am 18.7.2013)"

    Eine grundlegend revidierte Neuausgabe ist nach Auskunft des Ferdinand Schöningh-Verlages nicht geplant. Eine Sprecherin sagte aber, der Autor habe die Rechte zurück erworben und wolle ein überarbeitetes Buch in einem anderen Verlag veröffentlichen. Tatsächlich hat Jörg Becker eine Fülle von Dokumenten zur Biografie Elisabeth Noelle-Neumanns zusammengetragen, gerade auch aus der Studienzeit und den frühen Berufsjahren. Zum Beispiel hat er eine Übersicht der Artikel erstellt, die die junge Doktorin der Publizistik im Rahmen ihrer ersten Anstellung als Redakteurin der Wochenzeitung "Das Reich" schrieb. 25 größere Beiträge sind demnach in den Jahren zwischen 1940 und 42 erschienen: Reportagen, eine Rezension des Propaganda-Films "Wunschkonzert", Beiträge über die USA. Wer nun aber auf eine systematische und mit Blick auf die leitende These notwendige genaue Analyse der Artikel hofft, wird enttäuscht. Jörg Becker reißt einzelne Gedanken an, greift das heraus, was seine Argumentation unterstreichen soll:

    "Wie sehr sich Noelle-Neumann mit dem Nazi-Regime identifizierte, zeigen ihre Bemerkungen über (…) den Film "Wunschkonzert" von 1940 (…). Der Film sei "echt", "heiter", "anspruchslos" und "locker"."

    Das ist dann fast schon alles, was man als Leser von Jörg Beckers Studie über die angeblich entlarvende Filmkritik erfährt. Der Autor hat immer wieder einen ausgeprägten Hang zu allzu suggestiven Rückschlüssen – was er dann wiederum pikanterweise den späteren Fragebögen des Allensbacher Institutes für Demoskopie zum Vorwurf macht.
    Kühn behauptet er etwa, bei der 1940 vorgelegten Dissertation der damals noch unverheirateten Elisabeth Noelle über Meinungs- und Massenforschung in den USA handele es sich um eine – Zitat – "außerhalb der Hochschule" angefertigte Auftragsarbeit für das Goebbels'sche Reichspropagandaministerium – der Autor begründet das mit Blick auf das ungewöhnlich kurze Promotionsverfahren, einen linientreuen Zweitgutachter und die üppigen Recherchehilfen durch einen Ministerialreferenten. Ist es damit aber bewiesen?
    Weiterhin behauptet er, die junge Journalistin habe – vielen Indizien zufolge – nicht nur für die Zeitung "Das Reich" gearbeitet, sondern auch – Zitat – in "irgendeiner Form" mit dem Sicherheitsdienst SD der SS. Belegen kann das Jörg Becker freilich nicht. Die vielen Indizien sind Spekulationen. Mehr nicht.

    "In Ermangelung schriftlicher Quellen lassen sich wissenschaftlich korrekt freilich nur zeitliche und thematische Kongruenzen zwischen Noelle-Neumanns journalistischen Arbeiten und den Lageberichten des SD feststellen. Doch diese beiden untersuchten Kongruenzen sind hinreichend, um irgendeine Form des Austausches zwischen Noelle-Neumann und dem SD anzunehmen."

    Das Buch enthält viele weitere nicht wirklich belegte oder belegbare Vermutungen. Jörg Becker fand wohl so viel Gefallen an seiner These, dass er dieser das zahlreiche erschlossene Material unterordnete – und nicht umgekehrt aus den Dokumenten eine These entwickelte. Einem Doktoranden der Geschichtswissenschaft hätte man eine derartig angelegte Studie nicht durchgehen lassen. Ein Emeritus der Politologie, der dieses Anklagebuch nach eigener Aussage schon lange schreiben wollte, darf dagegen scheinbar tun, was er will. Doch ein renommierter Wissenschaftsverlag hat sich mit der Publikation ein heftiges Eigentor geschossen. Und wichtige, spannende Fragen der Zeitgeschichte bleiben wegen all der Polemik unbeantwortet.


    Jörg Becker
    Elisabeth Noelle-Neumann: Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus. Schöningh Verlag, 369 Seiten, 34,90 Euro
    ISBN: 978-3-506-77614-3 (die Erstauflage wird vom Verlag
    wegen Rechtsstreitigkeiten nicht mehr ausgeliefert)