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Vielfalt des Lebens

Zu den großen Erfolgen des Buchmessenschwerpunktes Griechenland im Herbst 2002 zählt auf jeden Fall der Durchbruch von Ioanna Karystiani. Mit ihrem Roman Die Frauen von Andros hat sie sich Scharen von Leserinnen und Lesern erobert, in viele Weltsprachen ist er übersetzt worden. Seine Signatur, ein poetischer Realismus, kennzeichnet auch den neuen Roman Schattenhochzeit. Die Übersetzung ist ihm leider nicht immer gewachsen.

Alexander von Bormann | 14.04.2004
    Karystianis Schreiben gilt dem Versuch, alte Bräuche, altes Leid, oft jahrhundertealte Prägungen, besprechbar, überwindbar zu machen. Der Bruch zwischen Mittelalter und Moderne trennt auf den Inseln erst seit kurzem die Generationen, und zahlreiche Traditionen wurden erst in den letzten Jahrzehnten, also reichlich spät, fragwürdig, obsolet. So das Institut der Blutrache. Es hat auf Kreta, wo der neue Roman spielt, ganze Familien ausgerottet oder vertrieben, und der Leser betritt nicht ohne Befremden eine Welt, wo die Verpflichtung zum Töten noch vor ganz kurzer Zeit über vielen Heranwachsenden hing.

    Karystiani beginnt ihren Roman sozusagen mit umgekehrter Perspektive. Ihre Hauptperson Kyriakos Roussias, ein berühmter Aidsforscher in den USA, wird in einem hochmodernen Ambiente gezeigt. Er war 1970 als Junge zu seiner Patentante nach Illinois geschickt worden, um dem Kreislauf des Tötens auf Kreta zu entspringen. Einsamkeit und die Verdrängung der Erinnerung nährten seinen Forscherimpuls. Seine Freundin verlässt ihn, weil er keine Kinder will, unbewusst der Versuch, aus der Kette der Mörder auszusteigen. Er lebt ein Leben im Wartestand, und vom Leser wird einiges verlangt: Die ersten fünfzig Seiten entwickeln das mit sozusagen russischer Genauigkeit. Doch die Sätze sind so spannend und genau gefügt, man weiß sofort, dass auch die Handlung noch in Gang kommt. Roussias reagiert auf Verstörungen seines Körpers, er weiß, dass er Kreta nach mehr als fünfundzwanzig Jahren wiederbesuchen muss.

    Im Juli 1998 kehrt er zurück, und die kretische Landschaft wird sofort zur Hauptperson – Hochebenen und Steilküsten, Felder, Berge, Dörfer, Täler. Karystiani kann endlich ihre Beschreibungslust loslassen: "Im Hintergrund erhoben sich die Berge, die wie ausgebreitete Röcke wirkten, die durch die Mangel gedreht worden waren." Anrührend das Wiedersehen von Kyriakos mit der Schwester: "Über die Jahre hinweg war die Sehnsucht nach dem jüngeren Bruder wie ein sanft gurgelnder Brunnen gewesen, der ihr Herz besonders in den Abendstunden während der Schneestürme im Februar zu überfluten drohte."

    Die Heimkehr wird genüsslich ausgemessen, mit souveräner Zeichnung der vielen Charaktere und archaischen Riten. Er gilt als erfolgreicher, berühmter Sohn der Insel. Er besucht seinen 1972 ermordeten Vater auf dem Friedhof, sagt ein befremdliches "Hier bin ich Vater", was uns so klingt, als ob er sich dem traditionellen Auftrag stellen wollte, seinen Vater zu rächen. Der war von seinem Cousin gleichen Namens – er heißt zur Unterscheidung "der Kurze" – aus Rache erschossen worden, hatte der Vater doch den Zwillingsbruder des Kurzen, einen berühmten jungen Sänger getötet, ja abgeschlachtet. Das erfährt Kyriakos langsam, aus widerwillig geführten Dorfgesprächen, und er hat damit zu tun, sein Vaterbild auf diese Tat einzustellen.

    Er besucht den Schmied, von dem es heißt, er habe gesehen, wie der Vater getötet wurde. Dessen Antwort: "Ich habe gesehen, wie dein Vater getötet hat." Er hatte aus einem Versteck die Abschlachtung des Sängers, die über eine Stunde dauerte, beobachtet, und ist begreiflicherweise mit der Tötung des Mörders ganz einverstanden. Roussias wird nachdenklich. Seine Arbeit ist nicht zuletzt ein Zwang, "um nicht wieder an das Bild seines Vaters denken zu müssen, und an das seines Opfers und seines Mörders". Zugleich wird er von einem ehemaligen Mitschüler auf seine Arbeit hin angesprochen: "Du bist jemand, der Leben rettet."

    Kyriakos beobachtet seinen gleichnamigen Cousin, den Mörder seines Vaters, der dreizehn Jahre im Zuchthaus verbracht hat. Das Leben des "Kurzen" ist ruiniert. Auch misslingt ihm alles, und seine Schafe werden regelmäßig gestohlen. Auswanderungsversuche in andere Länder scheitern, er bekommt die Papiere nicht. Seine Frau Maro heißt "die Tote", lebt in größter Armut und wie erstorben. Kyriakos beobachtet die beiden, ist viel in der Nähe ihres Hauses, aber er sieht sie wohl kaum als seine Opfer. Wir erfahren erst am Schluss, was ihn treibt: Maro war seine erste große Liebe gewesen, unerfüllt natürlich, sehr spät erkennt er sie wieder. Die vielen Morde belasten das Leben in den Bergen. Kyriakos beneidet seine griechischen Freunde – "keiner von ihnen schleppte die Last so vieler Toter mit sich". Und er erscheint als Amerikaner in Kreta: "auch er wollte so eine Last nicht auf sich nehmen".

    Eine eiternde Wunde heißen die Familienfehden. Die Berge, stellt sein Schwager fest, warfen die Menschen auf sich selbst zurück und ließen sie hart wie Stein werden. Kyriakos fühlt sich inzwischen auf der Seite dieser "Verkannten". Er muss feststellen, dass nicht alles mitzuteilen ist und dass das alte, das andere Kreta im Schweigen untergeht und bewahrt wird. Ioanna Karystiani lenkt wie zur Korrektur dieser These den Blick immer wieder auf die jungen Leute. Ganz bezaubernd die Nichte von Kyriakos, hübsch, verschmitzt, verliebt in einen Hirten, der voll in der Gegenwart lebt, naiv und kapriziös zugleich, ein sehr gelungenes Teenager-Porträt, das Farbe und Munterkeit in diese Berglandschaft bringt.

    Der Count-down ist sehr gekonnt inszeniert: Wie im Western wissen die beiden Helden, die ungleichen Cousins, dass sie einander nicht entkommen können. Gut bewaffnet treffen sie sich an einem einsamen Ort an bergiger Küste. Es wird eine lange Nacht, mit viel Schweigen und gelegentlichen Reden. Kyriakos erfährt von seinem Vetter die letzten Worte seines Vaters, der seinem Mörder zugeflüstert hat: "Du hast mich erlöst." Für den Leser ist es deutlich, dass die Beiden die Kette der Morde zerbrechen werden, auch wenn bis zum Schluß der Einfluss der Landschaft, der Tradition, der Erwartungen ein Unsicherheitsfaktor bleibt. Kyriakos schießt seine Patronen ins Meer, der Kurze folgt seinem Beispiel, damit ist alles gesagt. Nicht aber für die Autorin, die noch allerlei Erklärungen nachträgt. Das ist immerhin gekonnt inszeniert, denn sie bildet noch einmal den Prozess ab, wie Kyriakos seine Vergangenheit und damit Gegenwart und Zukunft wiedergewinnt. Als er 1998 nach Amerika zurückkehrt, "fühlt er sich zum ersten Mal wieder komplett".

    Das Verdrängte ist ins Leben getreten, mit Toten und Lebenden, mit Namen, Farben und Jahreszahlen, und Kyriakos hat sich auf seine Weise den Erwartungen der Familien gestellt. Das Ende erinnert fast an einen Adoleszenzroman. Das könnte eine These sein: Es gibt Gegenden in Europa, in denen humane, komplexe Erwachsenheit, die mit Widersprüchen Rat weiß, noch zu den ganz jungen Errungenschaften gehört. Das Hochland von Kreta ist eine davon. Dem Roman ist das zur Kraftquelle geworden. Sein Reichtum ist bemerkenswert, und die Vielheit der Geschichten schnurrt nicht auf irgendeine Moral zusammen, sondern übergibt sich am Ende dem Leben, und damit einer anderen Zukunft für die meisten Personen, die wir in ihnen kennen gelernt haben.

    Ioanna Karystiani
    Schattenhochzeit
    Suhrkamp, 392 S., EUR 19,90