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Vier Jahre ohne Wehrpflicht

2005 schaffte Tschechien die Wehrpflicht ab. Im kriegserfahrenen Volk hatte sich eine Wehrmüdigkeit entwickelt. Vier Jahre später hat Tschechien trotz oder wegen seiner Berufsarmee ein militärisches Problem: die Pflicht gegenüber der NATO.

Von Barbara Schmidt-Mattern | 05.08.2009
    Das blaue Büchlein war schon immer begehrt bei jungen tschechischen Männern. Es bescheinigte einem Wehrpflichtigen, für den ohnehin unbeliebten Militärdienst zu klein, zu kurzsichtig oder sonstwie untauglich zu sein. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nahm die Bereitschaft zum Dienst an der Waffe noch weiter ab. Gerade die junge Generation wollte lieber reisen und ihre Zeit in eine gute Ausbildung investieren. Einige griffen dafür zu sogar zu drastischen Maßnahmen. Jiri Sedivy, ehemaliger Generalstab-Chef der tschechischen Armee, erinnert sich:

    "In der ersten Hälfte der 90-Jahre versuchten einige Wehrpflichtige auf verschiedenste Art und Weise, dem Militärdienst zu entgehen. Sie bestochen hierfür sogar Ärzte, damit diese sie als untauglich einstuften."

    Im Jahre 2005 war es dann soweit: Die damalige Regierung unter dem sozialdemokratischen Premierminister Stanislav Groß schaffte die Wehrpflicht ab. Ein Schritt, der zwischen den politischen Lagern zwar lange umstritten, in der Öffentlichkeit aber nur wenig diskutiert worden war – aus Mangel an Widerspruch:

    "Die tschechische Gesellschaft ist generell ziemlich pazifistisch orientiert. Bereits in den 70er- und 80er-Jahren gab es in der Bevölkerung eine ziemlich große Abneigung gegen den Wehrdienst. Auch aus der Armee selbst kamen entsprechende Appelle: Professionelle Einheiten sind viel effektiver, und die Ausbildung der Soldaten im Grundwehrdienst war eine ziemlich teure Angelegenheit."

    Mit Waffen hatten die jungen Rekruten in der Regel keine Erfahrung, erinnert sich Sedivy. Immer wieder sei es öfter zu Unfällen gekommen, oder die Technik musste repariert werden. In Armeekreisen trauert deshalb kaum jemand der Wehrpflicht nach. Nur vereinzelt regte sich Widerspruch vor vier Jahren, und auch erst, als die Abschaffung schon fast beschlossene Sache war:

    "Wir haben damals von einigen jungen Männern und sogar von einigen Eltern Briefe bekommen, in denen sie darum baten, ihre Kinder sofort einzuziehen. Hintergrund war der erzieherische Effekt der Armee und der Gedanke des 'Mannwerdens'."

    Die meisten Tschechen haben diese Argumente jedoch nie überzeugt. Und auch die Befürchtungen in den Krankenhäusern und Altersheimen, dass in Zukunft allzuviele Zivilidienstleistende fehlen könnten, haben sich nicht bewahrheitet. Jiri Sedivy erklärt, warum:

    "Das Problem mit dem Zivildienst bestand darin, dass er anderthalb Mal so lang war wie der Wehrdienst. Viele junge Männer wollten ihre Zeit aber nicht mit einer Tätigkeit verschwenden, die ihnen keinen Gewinn brachte. Für den Zivildienst entschieden sich daher nur sehr wenige, nur diejenigen, die wirklich eine Abneigung gegen Waffen an sich hatten."

    Statt der abgeschafften Wehrpflicht beschäftigt die Tschechen heute eine ganz andere Frage, nämlich das Schicksal jener 900 Soldaten im Ausland. 385 von ihnen sind derzeit im Kosovo stationiert, weiter 381 Soldaten wurden im Rahmen der Internationalen Schutzgruppe ISAF nach Afghanistan entsandt. Dort wollen die Tschechen unter Beweis stellen, was sie der NATO mit ihrem Beitritt 1999 zugesichert haben: den Aufbau einer kleinen, aber schlagkräftigen und spezialisierten Truppe. Generalmajor Josef Proks erklärt:

    "Der Nato-Beitritt hat uns neue Verpflichtungen gebracht. Aber nicht nur die Armee ist beigetreten, sondern die Tschechische Republik als ganzes Land. Für Auslandseinsätze ist eine organische Berufsarmee eindeutig besser, denn sie kann anders als früher die Wehrpflichtigen gezielt für diese Einsätze ausgebildet werden."

    Zuletzt geriet die Wehrpflicht noch einmal vor zwei Jahren in die Diskussion. Damals kochte der Protest vieler Tschechen gegen die geplante Radaranlage für das US-Raketenabwehrsystem hoch. Der damalige Europaminister Alexander Vondra reagierte mit einer unverhohlenen Drohung, die er vor allem an die jungen Demonstranten richtete:

    "Wir haben die Wehrpflicht aufgehoben in der Annahme, dass wir unsere Verteidigung und Sicherheit auf die Zusammenarbeit mit den Verbündeten gründen. Wenn wir die Bündnispflichten verletzen, müssen wir uns bewusst sein, dass so ein Nein zwar einfach ist, aber andererseits Konsequenzen haben wird, unter anderem, dass man in der Zukunft nicht ausschließen kann, dass wir die Wehrpflicht wieder einführen müssen."

    Für diesen Vorstoß wurde Vondra von seinen Kabinettskollegen allerdings sofort zurückgepfiffen. Denn eine Rückkehr zur Wehrpflicht würde damals wie heute allzu viele Wählerstimmen kosten.