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Viktor Nekrassow: In den Schützengräben von Stalingrad und: Wassilij Grossmann: Leben und Schicksal

Ganz anders - naturgemäß - der zeitgenössische sowjetische Blick: "Stalingrad ist befreit", heißt es feierlich in dieser Kino-Wochenschau von Mitte Februar ’43. - "Über der Stadt weht die Rote Fahne. Eine grandiose Schlacht ist zu Ende, an die man sich noch in Jahrhunderten erinnern wird." Der Sieg von Stalingrad hat - vor allem in der inzwischen untergegangenen Sowjetunion - eine zutiefst identitätsstiftende und -konservierende Funktion besessen. Mit positiven, sicherlich auch mit fragwürdigen Begleiterscheinungen. - Zwei Bücher, zwei auch ins Deutsche übersetzte Klassiker sind - nicht nur deshalb - unbedingt wiederzuentdecken. Lassen Sie sich überraschen von Karla Hielscher.

Karla Hielscher |
    Aus der Masse der russischen Kriegs-Literatur mit ihrem heroischem Pathos, durch die der Große Vaterländische Krieg zu einem patriotischen Mythos wurde, der auch noch Jahrzehnte später als wichtigstes Bindemittel der Sowjetideologie funktionierte, ragen zwei außergewöhnliche, widerständige Werke heraus. Sie widersetzen sich der offiziellen ideologischen Instrumentalisierung dieses Krieges, und es ist kein Zufall, dass das Thema beider Bücher die Schlacht von Stalingrad ist. Die Rede ist von Viktor Nekrassows Roman "In den Schützengräben von Stalingrad" und Wassilij Grossmans Romanepos "Leben und Schicksal". Was beide Werke verbindet und ihre nachdrückliche Wirkung erklärt, ist ihre innere Freiheit.

    Immer wieder hört man von russischen Menschen, die den Krieg durchlebt haben, dass diese schreckliche Leidenszeit nach den vorangegangenen bleiernen Jahren der Angst vor dem stalinistischen Terror mit seinen Säuberungen und Schauprozessen und der gleichzeitigen verlogen enthusiastischen Massenaufgebote und Propagandainszenierungen auch als eine Zeit der Befreiung empfunden wurde. Die Verteidigung der Heimat gegen den Feind von außen führte zu einem überwältigenden Gefühl der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit. Der lastende Druck einer verordneten Glücksideologie wich gemeinsamem Leid und Mitleid. Die Hoffnung war groß, dass die Befreiung vom Faschismus auch zu einer Befreiung und Erneuerung im eigenen Land führen würde.

    Genau diese Stimmung ist in Nekrassows Roman, der 1946 in der Zeitschrift "Znamja" erschien, noch spürbar. Nekrassow, der die gesamte Schlacht um Stalingrad an vorderster Front durchlebt hatte, setzte sich gleich nach Kriegsende - von schwerer Verwundung gezeichnet - ohne alle schriftstellerischen Vorkenntnisse - an sein Buch. Im Nachwort zu einer Neuauflage 1981 beschreibt er seinen damaligen naiven Hoffnungen:

    In der Welt wird Frieden herrschen! Nun ist endlich die Sonne der Freiheit aufgegangen! Für alle. Für die befreiten Völker, für uns, für mich... Gerade daran - dass die Rote Armee der Welt Frieden und Freiheit gebracht hat - glaubte ich, als ich mit halbgelähmten Fingern in ein Schulheft den ersten Satz schrieb: "Der Rückzugsbefehl kommt ganz überraschend.

    Autorin: Eine solche Stimmung war damals weit verbreitet. Mit Rührung betrachte ich die Ausgabe des SWA Verlages mit seinem brüchigen, gelben Papier, des Verlages der Sowjetischen Militär-Administration, der den Roman 1948 in Ostberlin publizierte.

    Nekrassow verarbeitete in dem Buch allein und ausschließlich seine eigenen Erfahrungen als stellvertretender Kommandeur eines Pionierbataillons. Beginnend mit dem deprimierenden, chaotischen Rückzug, schildert er detailliert den ganz gewöhnlichen Kriegsalltag in der Stalingrader Kampflinie: Minenlegen, Schanzarbeiten, Sprengungen, Unterstände bauen; wochenlanger Stellungskrieg um einen Wasserturm, fehlgeschlagene Angriffe, Überleben in einem Granattrichter, Apathie und Abstumpfung angesichts des täglichen Sterbens und das wunschlose Glück, wenn man einmal in einem ruhigen Unterstand einen Topf mit heißen Nudeln bekommt. Und er schildert mit genauer Beobachtungsgabe das Verhalten der einfachen Frontsoldaten unter diesen unmenschlichen Bedingungen. Die Einzigartigkeit des Buches zeigt sich in seinem Understatement, seinem nüchternen Frontjargon, der ehrlichen Darstellung auch von falschen Entscheidungen, die zu unnötigen Verlusten führten, in seiner unpathetischen Beschreibung der Kameradschaft unter den Soldaten, wo der Wodka und die letzte Zigarettenkippe geteilt werden. Natürlich wurde der Roman von einer dogmatischen Kritik sogleich angegriffen. Man warf Nekrassov seine eingeschränkte Perspektive vor. "Der Autor sieht nicht weiter als bis zur Brustwehr seines Schützengrabens". Aber gerade diese "Schützengrabenwahrheit" ist die Besonderheit und Stärke dieses Buches, macht seine Wahrhaftigkeit aus. Symptomatisch ist etwa ein solcher Satz:

    Das ist der russische Mensch. Wenn er im Schützengraben liegt, wird er mehr auf seinen Spieß schimpfen als auf den Deutschen.

    Dass dieses erste Buch des jungen Autors trotzdem sogleich publiziert wurde, erscheint fast als ein Wunder. Denn es passt so gar nicht in die gängigen Schablonen des sozialistischen Realismus: Von dem habe er, wie Nekrassow später erklärte, fast nichts gewusst, eher von Hemingway oder Remarque. Die sozialistische Ideologie kommt nicht vor, die Partei fehlt, es fehlt jede Spur von heroischem Pathos. Und Stalin taucht z.B. ganz nebenbei in so einem Zusammenhang auf:

    ...und dann kriechen wir ins Erdloch. Hier ist ein Ofen, ein Tisch mit gekürzten Beinchen und zwei Stühle. (...) Die Lampe aus einer oben zusammengedrückten Kartuschenhülse qualmt. An der Wand hängt ein Kalender mit angestrichenen Daten, eine Aufstellung der Rufzeichen, ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Bild Stalins und noch das eines jungen Mannes mit lockigem Haar und offenem, sympathischen Gesicht. "Wer ist das?" Karnauchov, der meinen Blick aufgefangen hat, wird verlegen. "Jack London". "Jack London?" Karnauchov steht gegen das Licht. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber an seinen durchscheinenden Ohren sehe ich, dass er rot geworden ist. "Warum denn plötzlich Jack London?" "Einfach so... Ich achte ihn... Wollen sie Milch?" "Milch? Hier? Woher?" "Kondensierte... amerikanische. Die Jungs haben sie beschafft." Mit großem Genuss lecke ich den Löffel mit der dicken, übermäßig süßen Milch ab....

    Und Nekrassow hat sich später zu Chruschtschows Zeiten, als Stalins Rolle totgeschwiegen wurde, empört dagegen gewehrt, für eine Neuauflage solche Stellen herauszustreichen. Nach der Lektüre dieses Buches, das so ehrlich und souverän die freie Atmosphäre zwischen den Frontsoldaten spüren lässt, kann man nachvollziehen, dass der junge Nekrassow, der direkt nach dem Krieg voller Illusionen in die Partei eingetreten war, ein paar Jahre später zu einem konsequenten Dissidenten wurde, in die Emigration gehen musste und dort 1987 in Paris starb. Im Gegensatz zu Nekrassows Buch, das noch die hoffnungsvolle Atmosphäre der ersten Nachkriegszeit spiegelt, ist Wassilij Grossmans großes historisches Romanwerk "Leben und Schicksal" schon ein Buch der Desillusion.

    Die beiden ersten Bücher der Kriegstrilogie des bekannten Schriftstellers und Spezialkorrespondenten der Armeezeitschrift "Roter Stern" Grossman entsprachen im Wesentlichen noch der offiziellen Sicht auf den Großen Vaterländischen Krieg. Der dritte Band, den Grossman als sein eigentliches Lebenswerk betrachtete, wurde zu einem Buch radikalster Systemkritik, demonstriert den Bruch mit allen ideologischen Denkschablonen. Das Manuskript dieses Werks wurde 1962 samt aller Durchschläge und Varianten vom KGB beschlagnahmt. Der Autor starb wenige Jahre später vereinsamt und verbittert, und hat nicht mehr erlebt, wie sein Buch, von dem eine Abschrift über Freunde in den Westen gelangt war, sein literarisches Leben entfaltete. 1984 erschien es bei uns in Deutschland, von Heinrich Böll mit seinem berühmten Essay "Die Fähigkeit zu trauern" voll Bewunderung begrüßt, und erst im Zeichen der Perestrojka konnte es 1988 in der Sowjetunion publiziert werden. Stalingrad, dieser historische Wendepunkt der Geschichte, wird in Grossmans Werk zum Ausgangspunkt einer gewaltigen philosophischen Gesamtdarstellung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Nekrassows Buch erhebt es den Anspruch - wie Tolstoj in "Krieg und Frieden" - eine ganze Epoche geistig auszuleuchten.

    Der Roman setzt aus den Schicksalen von Dutzenden von Menschen, die sich in zeitlich und räumlich nach allen Seiten ausweitenden konzentrischen Kreisen rund um die Schlacht von Stalingrad anordnen, ein grandioses Bild der Epoche des Totalitarismus in Europa zusammen. Die Erzählräume, die der Roman erfasst, sind die Kabinette Stalins und Hitlers; sie reichen vom Kommandostab der Roten Armee über das Hinterland in der Kalmückensteppe bis in die umzingelten Häuser am Wolgaufer; sie umgreifen das deutsche KZ mit der Internationale der Kriegsgefangenen und Widerstandskämpfer und den sowjetischen GULAG; sie führen den Leser in die Vernichtungsmaschinerie der SS und die Folterkammern des KGB in der Lubjanka, ins jüdische Getto und auf den Weg der geschlagenen Paulus-Armee in die Gefangenschaft. Die Räume sind verbunden durch ein dichtes Geflecht von Schicksalen einzelner Menschen, die hier leben und sterben, kämpfen und lieben, in ihre Alltagssorgen und Auseinandersetzungen verstrickt sind, und in bohrenden Gesprächen über ihre Zeit nachdenken.

    Grossman zeigt es in seinem Roman auf erschütternde Weise: der heldenhafte, opferreiche Kampf des sowjetischen Volkes gegen die faschistischen Aggressoren war ein Kampf um die Freiheit im doppelten Sinne. Mit dem Sieg über die Deutschen verband man die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Neuanfang im eigenen Land. Während dieses Krieges war die ganze sowjetische Gesellschaft gegen den gemeinsamen Feind zu einer Einheit zusammengeschmiedet. Da kämpft der überzeugte Kommunist Mostowskoj gemeinsam mit Major Jerschow, dessen gesamte Familie bei der Kulaken-Vernichtung und der nachfolgenden Hungersnot umgekommen war. Der Soldat und Häftling des Jahres 1937 Darjenskij trifft an der Front den Untersuchungsrichter von damals, der ihm ein paar Zähne ausgeschlagen hatte, als Politkommissar wieder. Und im deutschen KZ leiden der menschewistische Emigrant Tschernezow, der Parteikommunist Osipow und der Tolstojaner Ikonnikow gemeinsam mit den Antifaschisten aus aller Herren Länder. Jerschow fühlt es so:

    Es war ihm klar, dass er im Kampf gegen die Deutschen für ein freies russisches Leben kämpfte, dass der Sieg über Hitler auch ein Sieg über die Lager sein würde, in denen seine Mutter, seine Schwester und sein Vater umgekommen waren.

    Es ist der bittere Widersinn der Geschichte, dass sich die Menschen manchmal gerade im Bombenhagel und Granatbeschuss frei zu fühlen begannen. So entwickelt sich das im Stellungskrieg von Stalingrad von den Deutschen eingeschlossene legendäre Haus 6 Strich 1 zu einer Insel der Freiheit Die ständig auf ihnen lastende Todesgefahr hat die dort mit ihrem Kommandeur Grekow kämpfende Truppe von dem gewohnten politischen Druck befreit und ihnen jede Angst vor den Funktionären genommen. Als man ihnen den Politkommissar Krymow schickt, der den hier herrschenden aufrührerischen Geist unter Kontrolle bringen soll, muss dieser erkennen, dass seine Macht über diese Menschen gebrochen ist.

    In der Kampfpause, die jetzt eingetreten war, saßen und lagen die Männer auf den Schutthaufen (...) Krymow setzte sich neben Grekow zwischen die ruhenden Männer.

    "Ich schau euch an", sagte Krymow, "und denke an den berühmten Ausspruch, "die Russen haben die Preußen stets bezwungen." Eine leise träge Stimme sagte: "Fürwahr, führwahr." In diesem "Fürwahr" lag soviel Spott und Hohn gegenüber derlei Sprüchen, dass ein verhaltenes Lachen durch die Reihen der Männer ging. Was war das nun? Eine zufällige Blödelei oder eine Rebellion? War es ein aus der Gewissheit der eigenen Kraft und Erfahrung erwachsenes Missfallen an Krymows Predigt? Aber vielleicht war die Heiterkeit gar nicht rebellisch gemeint, sondern beruhte auf dem in Stalingrad verbreiteten Gefühl einer natürlichen Gleichheit aller?

    Als der Politkommissar den Kommandeur Grekow später zur Rede stellt und ihn fragt, was er denn wolle, antwortet dieser fröhlich:

    Ich will die Freiheit; für die kämpfe ich.

    Aber die erhoffte Freiheit kam nicht. Während die Niederlage von Stalingrad für die Deutschen eine Gnade war - bedeutete doch die verlorene Schlacht - Zitat "die ersten Stunden der Vermenschlichung des Lebens vieler Millionen Deutscher nach einem Jahrzehnt der totalen Unmenschlichkeit" - stärkte der sowjetische Sieg Stalins Macht. Der Diktator wusste genau: "Sieger werden nicht verurteilt."

    Der Stalingrader Triumph bestimmte den Ausgang des Krieges, aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort.

    Der Sieg des sowjetischen Volkes gegen den Hitlerfaschismus verwandelte sich für das eigene Volk in eine Niederlage. Und so endet das Buch mit dem Bild des bis auf den Grund zerstörten Stalingrad, das ein paar Monate lang "Mittelpunkt der Welt" gewesen war.

    Eine eigenartige Schwermut kam in den Menschen auf, die Stalingrad verteidigt hatten. Das Stalingrad des Krieges hatte eine Seele gehabt. Seine Seele war die Freiheit gewesen. Die Hauptstadt des antifaschistischen Krieges hatte sich in abgestorbene Ruinen einer mittleren sowjetischen Industrie- und Hafenstadt aus der Zeit vor dem Krieg verwandelt. Hier haben zehn Jahre später Armeen von Häftlingen einen gewaltigen Damm errichtet und ein staatliches Wasserkraftwerk gebaut, eines der größten der Welt.

    Karla Hielscher besprach: Viktor Nekrassov: "Stalingrad", 362 Seiten, zu beziehen im Aufbau-Taschenbuch Verlag in Berlin - und: Vassilij Grossmann: "Leben und Schicksal", erschienen im Albrecht Knaus Verlag München/Hamburg.