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Vince Anderson
Der coolste Prediger von New York City

Der Mann ist ein Phänomen: Seit fast 20 Jahren veranstaltet Reverend Vince Anderson in New York mit seinem "love choir" eine Art musikalische Predigt. Und seit fünf Jahren bespielt er jeden Montag eine Kneipe in Williamsburg. Seine Musik, die sich zwischen Tom Waits, Blues und Gospel begwegt, begeistert viele immer wieder aufs Neue.

Von Martin Becker |
    Reverend Vince Anderson betritt die Bühne, und alle drehen durch. Beim ersten Song - als wären wir schon mitten in der Zugabe. Seit fünf Jahren spielt der Reverend mit seinem "love choir" im "Union Pool". Mit einigen der besten Musiker der Stadt, mit Gästen, mit vollkommener Hingabe. Früher hat der Reverend um die Ecke gewohnt - bis sein Haus einem Williamsburger Loft-Projekt weichen musste. Der Preis der grassierenden Gentrifizierung. Aber ganz vertreiben lässt er sich nicht. Er hält die Stellung, dieser Prediger, der auf der Bühne gerne mal Schnaps trinkt.
    "Es gibt eine Liturgie, wir spielen jede Woche fast immer dieselben Songs. Das ist beruhigend. Aber, wie in jeder guten Liturgie ist Platz für kleine Überraschungen - das reizt mich!"
    Jede Show ist komplett anders
    Und tatsächlich: Jede Show des Reverend ist komplett anders. Je nachdem, welche Stimmung und welche Geschichten er mitbringt. Im Sommer beispielsweise war eine ältere Freundin von ihm gestorben - also war die Show eher nachdenklich. Und manchmal wiederum ist dieser Reverend Vince Anderson, Jahrgang 1970, pure Energie. Er schreit, er singt. Kein Wunder also, das einige der Leute seine Songs auswendig kennen, weil sie jede Woche dabei sind.
    "Keine Ahnung, ob sie noch wegen mir kommen - was ja schön ist! Sie kommen wegen ihrer Freunde und weil sie es mögen - diese Atmosphäre ist einmalig und wichtig für sie."
    Am Tag nach der Show sitzen wir in einem liebevoll gepflegten Garten im Brooklyner Stadtteil Bushwick, einige U-Bahn-Stationen entfernt von den unbezahlbar gewordenen Wohnungen im hippen Williamsburg. Hier wohnt Reverend Vince Anderson. Mit Marienbildern im Wohnzimmer. Mit seinem Hund Hudson, der während unseres Gesprächs auf seinem Schoß schläft. Und mit seinen unzähligen Pflanzen und Blumen.
    "Vor jeder Show muss ich in meinen Garten und mit meinen Händen im Dreck wühlen - das erdet mich, das ist wichtig."
    Jeden Sonntag predigt der Reverend übrigens ganz ohne Musik. Seine Kirche hat den Namen "Barstool Tabernacle", man könnte also übersetzen: "Barhocker Tabernakel". Und der Gottesdienst geht so: Man trifft sich um vier Uhr nachmittags in einer Brooklyner Kneipe. Man trinkt. Man diskutiert. Über Gott und die Welt. Ganz wortwörtlich.
    "Ich bin ein Kneipentyp"
    "Ich bin ein Kneipentyp. Deshalb habe ich für mein Leben die Bar ausgesucht, um Leute zu treffen. Mit ihnen sinnvolle Gespräche zu führen. Dampf abzulassen. Alles Gründe eben, warum Leute in Bars gehen - und ich bin einer von diesen Leuten."
    Ein schnapstrinkender Prediger, der sich mit seiner Gemeinde in der Bar trifft und auf der Bühne die Sau rauslässt, noch dazu sogar verdammt lustig ist - für den Reverend sind all das keine Widersprüche zu seiner Mission. Und die heißt: Leuten einen Raum zu geben, an dem sie loslassen können. Er singt von gebrochenen Herzen und will zugleich, dass die Leute sich lieben. Er erzählt freimütig von seinem ersten Date seit Jahren und wie fucking schön das eigentlich war. Und er lässt sich auf offener Bühne Fragen stellen: Bist du jetzt verliebt? Was ist der Sinn des Lebens? Magst du eigentlich Thunfischsalat, Vince?
    "Religiöse Leute nehmen sich sehr ernst. Das sollten sie nicht, weil niemand das tun sollte. Wir haben so wenig Zeit auf der Erde - und wir sollten ihre Absurdität genießen!"
    Da gab es mal diesen Typen, erzählt Vince, der kam jede Woche, um einen einzigen Song zu hören. Und er kam immer noch, als der schon lange nicht mehr im Repertoire war. Und gestand dem Reverend, die Show hätte sein Leben verändert:
    "Ich mag es eigentlich nicht, solche Geschichten zu erzählen – sonst wirke ich wirklich wie ein Prediger. Oh, ich habe das Leben dieses Menschenkinds gerettet. Das ist Blödsinn, darum geht es nicht. Es geht um diesen Anstoß zur Veränderung. Und den hat dieser Typ in meiner Show für sich selbst gefunden."
    Eine Sache gibt es aber doch, auf die der coolste Prediger von New York City ziemlich stolz ist. Dass sich Menschen in seiner Show kennen lernen. Dass sie sich dort verlieben. Dass sie ein Paar werden. Und um den Rest kümmert sich Reverend Vince Anderson natürlich auch gern.
    "Wenn ich Leute trauen kann, die sich in meiner Show getroffen haben - wie großartig ist das denn?"