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Violinsonaten von Charles Ives

Der 1874 geborene Charles Edward Ives aus Connecticut gilt als Begründer der US-amerikanischen Kunstmusik. Ihn beschäftigen die Themen und Fragen, die in seiner Herkunft wurzeln: die Weltanschauung der sogenannten Transzendentalisten, die Hymnen und Gesänge der reformierten Kirche, das bürgerliche Leben in Neu-England.

Von Raoul Mörchen |
    Die Neue Platte kommt heute aus der Neuen Welt, aus Neu-England, genauer gesagt. Es sind die vier Sonaten für Violine und Klavier von Charles Ives, dem Pionier einer Kunstmusik, die sich in den Vereinigten Staaten um das Jahr 1900 selbstbewusst löst von europäischen Vorbildern.

    Eingespielt wurden die recht selten aufgeführten Werke beim Label Deutsche Grammophon von der US-Amerikanerin Hilary Hahn und ihrer aus der Ukraine stammenden Klavierpartnerin Valentina Lisitsa.

    Der Ort: Eine Wiese in der Nähe einer Farm in Connecticut. Die Zeit: Ein Sonntagmorgen, irgendwann in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ein Gottesdienst unter freiem Himmel, ein Camp Meeting der Presbyterianischen Kirche. Die eigentümliche Mischung aus Abendmahlfeier und religiöser Erweckungszeremonie haben die Gründerväter noch aus ihrer europäischen Heimat mitgebracht.

    Hier, im gelobten neuen Land, sind sie für eine Weile das Fundament derer, die man später einmal Fundamentalisten nennen wird. Mittendrin der junge Charles Ives; zumindest musikalisch alles andere als orthodox - viel mehr neugierig und wagemutig. Sein Vater, ein leidenschaftlicher Musiker, der nur widerwillig auch Geschäftsmann ist, ermutigt Charles, die Gesänge der Gemeinde und seiner Freunde auf dem Harmonium auch mal in einer fremden Tonart zu begleiten. Denn Gott, so glaubt der Vater und bald auch der Sohn, Gott hat jedem Menschen eine eigene Stimme gegeben: er muss sich anderen Menschen nicht um jeden Preis anpassen.

    Sonate 4, 1. Satz

    Wenn also die Stimmen manchmal durcheinander gehen, in der vierten Violinsonate von Charles Ives, dann nicht, weil sich die beiden Instrumente streiten, sondern bloß, weil jedes für sich gerade eigenen Gedanken nachhängt: Am Ende wird man sich schon wieder einig.

    So wie sich ja auch die Gemeinde nicht streitet beim "Children's Day at the Camp Meeting", beim Kindertag des Camp Meetings, an das sich Charles Ives in seiner gleichnamigen Sonate erinnert: Mal tritt einer hervor und stimmt einen Hymnus an, dann übertönen ihn andere, mal spricht der Pastor, mal meldet sich ein Mitglied der Gemeinde zu Wort, mal singen die Kinder begeistert mit, mal stehlen sie sich davon aus der Andacht.

    Ives' Werk lebt von solchen Erinnerungen und Rückblicken. Es lebt von Bildern und vor allem von Klängen aus einer Zeit, die für Ives nicht nur das Paradies der eigenen Herkunft war, sondern das Paradies einer ganzen Nation. Glaube und Freiheit, Kunst und Natur, Individualität und Gemeinschaft: Im protestantischen Neu-England jener Zeit sind Mensch, Gott und Welt eine glückliche Einheit.

    Sonate 1, 1. Satz, Beginn

    Mit Recht gilt dieser 1874 geborene Charles Edward Ives aus Danbury, Connecticut, als Begründer der US-amerikanischen Kunstmusik. Hat er auch beim Vater und später, beim Studium in Yale, das traditionelle Handwerk der europäischen Kollegen gründlich erlernt, so beschäftigen ihn doch Themen und Fragen, die ganz und gar in seiner eigenen Herkunft wurzeln: die Weltanschauung der sogenannten Transzendentalisten um die Philosophen Emerson und Thoreau, die Hymnen und Gesänge der reformierten Kirche, das bürgerliche Leben in Neu-England.

    Ja, sogar in dem von ihm so geliebten Sport ist er durch und durch Amerikaner, spielt American Football und Baseball. Ives hält diese, seine neue Welt nicht heraus aus der Musik, sondern setzt ihr ein lebendiges Denkmal. Was Ives damals umgibt und was ihn beschäftigt, man kann es allenthalben hören.

    Sonate 3, 1. Satz

    Als Komponist hat es Ives nicht leicht gehabt: Erst zweifelte das Publikum an seiner Kreativität, später zweifelte er selbst. Lange schon vor seinem Tod im Jahr 1954 gab er das Komponieren auf. Auch die vier Violinsonaten, die Hilary Hahn und Valentina Lisitsa nun in einer Gesamteinspielung vorlegen, entstammen jenem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von etwa 20 Jahren, in denen Ives beinahe sämtliche Werke schrieb - am Wochenende, in den Ferien und nach Feierabend übrigens, denn Charles Ives verdiente sein Geld zunächst als Angestellter, später als Miteigentümer einer Versicherungsgesellschaft.

    Was er komponierte, das kannten lange nur gute Freunde und einige Musiker und Kritiker, denen Ives auf eigene Kosten Kopien seiner Manuskripte zukommen ließ. Diese Zeiten sind Gott sei dank vorbei. Ives' Ruf als Lichtgestalt der jüngeren Musikgeschichte ist längst gesichert. So muss man sich eigentlich wundern, dass man einem so ereignisreichen und spannenden Werkkomplex wie den vier Violinsonaten auch heute kaum im Konzert begegnet, selten auf CD und sehr selten in der Interpretation einer so berühmten Solistin wie Hilary Hahn und ihrer aufstrebenden Klavierpartnerin Valentina Lisitsa.

    Hahn und Lisitsa haben die vier Sonaten vor einigen Jahren in ihre gemeinsamen Programme genommen und spielen sie seitdem regelmäßig. Das spricht nicht nur für den Eigenwillen der beiden Musikerinnen, es macht auch verständlich, warum diese Aufnahme so klingt wie sie klingt: Sehr souverän und in einem gute Sinne auch routiniert. Am ehesten erkennt man diese gute Routine in der großen Natürlichkeit, mit der die rhythmisch und metrisch zuweilen hochkomplexe Musik fließt und auch in einer gewissen Toleranz im Zusammenspiel: Hahn und Lisitsa zählen nicht mehr genau mit, sie lassen sich ganz offenbar leiten von einem gewissermaßen natürlichen Instinkt für die komponierte Bewegung.

    Sonate 3, 2. Satz

    Für ein Publikum, das mit Ives nicht vertraut ist, ist das vermutlich der beste Zugang: Hilary Hahn und Valentina Lisitsa spielen die Sonaten so selbstverständlich, als ginge es um Brahms, Ravel oder Debussy. Ihr Charles Ives ist ein skurriler Romantiker, einer, der eine an sich konventionelle, vertraute Sprache spricht, und diese Sprache bloß mit einigen originellen, überraschenden Wendungen aufraut.

    Wenn inmitten dichter Harmonien plötzlich eine Kirchenlied auftaucht oder, wie im zweiten Satz der zweite Sonate, Anspielung auf das volkstümliche "Fiddling", dann erschrickt man nicht und wundert sich auch nicht allzu sehr, sondern freut sich über den willkommenen musikalischen Gast, den man hier trifft, "In the Barn" - "In der Scheune".

    Sonate 2, 2. Satz

    Man kann Charles Ives zweifellos auch von dieser Seite betrachten, von der Seite Hilary Hahns und Valentina Lisitsas: als einen originellen Komponisten, der die Tradition bereichert, aber nicht in Frage stellt. Man kann ihn mit gleichem Recht vermutlich von einer anderen Seite aus betrachten und die Abweichung stärker betonen, das Neue an Ives, das Amerikanische, das Moderne. Dann müsste man vor allem klanglich schärfer spielen und rhythmisch genauer als die beiden Musikerinnen es in der vorliegenden Aufnahme tun. Und müsste wohl auch in der Geigenstimme das technisch zwar großartige, aber doch einförmig-süßliche Vibrato reduzieren, das gerade bei Ives merkwürdig altmodisch anmutet.

    Doch Hilary Hahns und Valentina Lisitsas Sonaten-Recital ist auch so, wie es ist, ein bemerkenswertes und nachdrückliches Plädoyer für den großen Amerikaner Charles Ives - und eine sehr verlockende Einladung, sich einzulassen auf die mal verstörende, mal verzaubernde Originalität seiner anekdotischen Musik.

    Sonate 2, 2. Satz

    Das war zum Schluss unserer Sendung "Die neue Platte" der 2. Satz aus der Sonate Nummer 2 für Violine und Klavier von Charles Ives - entnommen der Gesamtaufnahme der Sonaten mit Hilary Hahn und Valentina Lisitsa. Die CD ist erschienen beim Label Deutsche Grammophon und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.