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Virginia Woolf: Ein Leben

Als Miss Willatt im Oktober 1884 starb, war man der Meinung, "daß", wie es ihre Biographie ausdrückt, "die Welt ein Recht darauf hatte, mehr über eine bewundernswerte, wenn auch zurückhaltende Frau zu erfahren." Die Wahl der Adjektive macht deutlich, daß sie selbst es nur dann gewollt hätte, wenn man sie davon hätte überzeugen können, daß es für die Welt eine Bereicherung bedeuten würde."

Sibylle Cramer | 08.08.1999
    Was folgt, eine Betrachtung der Erzählerin, gilt nicht Miss Willatt, sondern, allgemeiner und hinterhältiger, dem Recht der Welt, über sie ins Bild gesetzt zu werden, und den Grad des Gebrauchs, den sie davon macht.

    "Memoiren einer Romanautorin" heißt die frühe Erzählung Virginia Woolfs, die sich mit der Biographie als Methode der Fälschung, Zensur und Begradigung von Lebensgeschichten beschäftigt. Im Fortgang der Erzählung wird die viktorianische Schriftstellerin unter der Oberfläche ihrer Biographie ausfindig gemacht und aus dem Wachsfigurenkabinett geholt, in das ihre Biographin und langjährige Freundin sie gesteckt hat. Das biographische Präparat macht einer Frau Platz, die ihr Leben mit mehr Fleiß als Fortüne an ihr literarisches Werk wandte, weil anders für das ungeschlachte, aber intelligente Mädchen in der viktorianischen Gesellschaft kein Unterkommen war. Die unüberhörbare Kritik der Autorin richtet sich gegen die Biographie als Form der Geschichtsschreibung. Inzwischen wird sie selbst unentwegt ins Museum hineingeschrieben, einbalsamiert und ausgestopft. Dagegen, gegen die kumpelhafte Zudringlichkeit ihrer Nachwelt, die wohlfeilen Gewißheiten und plumpen Mythisierungen der Person Virginia Woolfs richtet sich Hermione Lees Darstellung ausdrücklich.

    Das Buch der englischen Literaturwissenschaftlerin trägt in stolzer Lakonie den Titel Virginia Woolf - im Original. Holger Fliessbach, der das gewaltige Textgebirge ganz vorzüglich ins Deutsche geholt hat, fügt wohlweislich Ein Leben hinzu. Damit gibt er der Wahrheit die Ehre und verhindert Irrkäufe. Hermione Lee rekonstruiert das Leben Virginia Woolfs. Das Werk rückt ins zweite Glied und wird als überformter Ausdruck des Lebens ausgewiesen. Mit diesem Verfahren beruft sie sich in dem argumentativ sparsamen, methodenkritisch angelegten Einleitungskapitel auf die Autorin selbst:

    "In eine Skizze der Vergangenheit, die sie in ihren letzten beiden Lebensjahren in Angriff nahm, beharrt sie darauf, es müsse in der Biographie wie in der Autobiographie ein Zusammenhang zwischen den dunklen Bereichen der Persönlichkeit - der Seele" - und Faktoren wie den Zwängen von Klasse und Gesellschaft hergestellt werden; denn wie sinnlos wird sonst das Schreiben von Biographien". Der Lebensbeschreiber muß die Kluft zwischen dem äußeren Selbst ("die fiktive V.W., die ich wie eine Maske durch die Welt trage") und dem geheimen Selbst erkunden und verstehen."

    Aus Äußerungen wie diesen leitet die Biographin ihr Recht ab, die Werkgeschichte aus der Lebensgeschichte zu gewinnen, das Innerste und das Äußerste als Einheit zu begreifen und im Tauschgeschäft der vollkommenen Aufklärung zuzuführen. Vor allem aber bezieht sie von hier ihre Zuversicht, ihres Gegenstandes habhaft zu werden: des geheimen Selbst ihrer Figur. In den energisch durchgeformten Partien ihres Buchs stellt die Biographin ihre Figur in ihren Zeitverhältnissen dar: als lebendigen Widerspruch. Virginia Woolf wird als rückwärts voran- und der Zukunft entgegeneilende Gestalt der Zeitenwende kenntlich. Die Tochter des viktorianischen Biographen Leslie Stephen, die 1912 den Sozialisten Leonard Woolf heiratete, vollzog als Künstlerin, Feministin und Figur des öffentlichen Lebens den Schritt aus dem viktorianischen Zeitalter in die Moderne. Doch sie blieb zeitlebens ihrer großbürgerlichen Herkunft verhaftet und schöpfte aus dem Leben in Hyde Park Gate 22, ihrem Londoner Elternhaus, aus ihrer behüteten Kindheit und der vom Tod der Mutter überschatteten Jugend ihren erzählerischen Fundus. Bloomsbury war die Fortsetzung der bürgerlichen Familie mit anderen Mitteln. Die erotisch emanzipierte, skandalumwitterte Künstlergruppe um die Geschwister Stephen versammelte sich nach guter alter Art um den häuslich familiären Kamin.

    Die erste Hälfte des Buchs beschäftigt sich ausführlich mit Herkunft, Kindheit und Jugend bis hin zur Heirat virginia Woolfs. Es sind seine überzeugendsten Partien. Hier setzt sich die Biographin gegen ihren umfangreichen Stoff immerhin noch durch. Hier versinkt sie noch nicht unter den Materialmmassen, die ihr für das spätere Leben der Schriftstellerin zur Verfügung stehen. Virginias Woolfs Leben zwischen der Einsamkeit ihres ländlichen Cottage und der Londoner Gesellschaft, die Hogarth Press, die sie mit Leonard Woolf begründete, die umnachtung, in die sie immer wieder lebensbedrohlich versinkt, das strenge häusliche Regime, mit dem Leonard Woolf ihre Gesundheit stabilisiert, vor allem der kontinuierliche Verarbeitungsprozeß des Lebensstoffes, die Stilisierung und Transformierung des Lebens ins ästhetische Gebilde., all dies wird so detailliert ausgebreitet und dokumentiert, daß in einzelnen Fällen das Werk geradezu als Fälschung erscheinen will.

    Hermione Lee ist eine stupende Kennerin des Werks und bis in die entlegensten Winkel vertraut mit der obsessiven Autobiographin ohne Autobiographie, mit Virginia Woolfs immensem Tagebuch- und Briefwerk, ihrer lebenslänglich intensiven Beschäftigung mit den Maskenspielen des Selbst und den Problemen biographischen Schreibens. Allem Anschein nach verfügt sie über einen immensen Zettelkasten, der die schier unübersehbaren Materialien bis in die entlegensten Verzweigungen der graphomanen Familie Stephen und des Künstlerkreises um die Woolfs vollständig zu erfassen scheint. Jedenfalls gebietet die Biographin über ehrfurchtgebietende Heerscharen von Fakten, die sie belegen kann. Kein Baum, kein Strauch, der nicht nachgewiesen wird. Allein in die Beschreibung von Asheham House, dem ersten Wohnsitz des jung verheirateten Paares, fließen zehn Zitate, aus Leonard Woolfs Memoiren, einer Biographie der Schwester Virginia Woolfs und den frühen Kurzgeschichten, Tagebüchern und Erzählungen Virginia Woolfs:

    "Asheham war ein seltsames Haus, elegant, abgelegen, düster und irgendwie rätselhaft. Leonard bezeichnete es als "außerordentlich romantisch aussehendes Haus". Es lag etwas zurückgesetzt an einer Biegung der Straße von Newhaven nach Lewes, hingeworfen unterhalb der Downsll, direkt zu Füßen der steil anfragenden Asheham Down (wo es den ganzen Spätsommer und Herbst hindurch Pilze im Überfluß gab). Es gab keine anderen Häuser in der Nachbarschaft, nur einige Scheunen und die Hütte eines Schäfers. Eine Reihe mächtiger Ulmen führte hinauf, und vor dem Haus hatte man eine prächtige Sicht ins Land. Ein ungepflegter Rasen und Felder erstreckten sich hinunter bis zur Ouse; auf der anderen Seite des Flußtals lag Rodmell, ihr künftiges Heim. Auf einer Seite des Hauses gab es "einen kleinen, verwilderten Garten, umgeben von einer Mauer", den Leonard bearbeitete."

    Auf den folgenden Seiten öffnet Hermione Lee die Haustür und mustert die Zimmer, die Fenstertüren, Terrasse und den Seitenflügel. Den Rundgang durch das Haus beschließt sie mit einer kleinen Sammlung von Zeugnissen über die Bedeutung des Hauses für die beiden Bewohner, mit Materialien aus den Tagebüchern, einer Kurzgeschichte, einem Essay und Leonard Woolfs Rückblick Mein Leben mit Virginia Woolf . Die Beschreibung von Asheham House verrät die viktorianische Erzählerin, die sich in der Biographin versteckt. So haben die Romane des 19. Jahrhunderts Wohnsitze beschrieben und mit ihrer Lage und Architektur den gesellschaftlichen Rang ihrer Bewohner bestimmt. So haben sie den Leser in die Erzählung eingeladen, ihn mit den Räumlichkeiten vertraut gemacht und das Gelände geebnet für die folgende fallende oder steigende, in jedem Fall gesellschaftsbezogene Konflikthandlung.

    Hermione Lee hält sich an das Muster. Sie ist sich ihres Materials als zureichenden Grundes für ihre Synthese so sicher, daß sie je länger desto endgültiger aufhört, ihren Gegenstand als Widerstand zu begreifen. Die Partitur aus Melodiestimme, Mittelstimme und Generalbaß, als welche der Mozart-Biograph Wolfgang Hildesheimer biographisches Schreiben einst bezeichnet hat, die biographische Komposition aus Faktographie, Unbewußtem und der dritten Stimme des Biographen, sie dörrt ins Einstimmige, Gleichförmige, Serielle aus. Die Distanz zu ihrer Figur schmilzt bis zu dem Grad, daß sie zur Stimmenimitatorin ihrer Figur wird:

    "Für Virginia war Mitzi (das Pinseläffchen Leonard Woolfs S.C.) gleichermaßen eine Plage wie Freude. In diesem Sommer gab es noch andere Plagegeister. Sibyl Colefax, die "Coalboxl,' (Kohlenkiste)11, die mittlerweile ein Dekorationsunternehmen besaß - die finanziellen Schwierigkeiten ihres Mannes gehörten zu den Zeichen der Weltwirtschaftskrise -, war böse auf sie, weil sie eine Verabredung abgesagt hatte; sie sagte zu Clive (der dies mit Freuden weitererzählte), sie finde, daß Virginia sich zu sehr abschotte. Ethel mußte auf Distanz gehalten werden. Die Woolfs erfuhren, daß Francis Birrell wieder schwer krank war. Duncan hatte Hämorrhoiden, eine "lächerliche peinigendeKrankheit, die in Virginia snobistische Gefühle weckte. Sie kritisierte ihn, weil er Nessa als "Tante Mary," bezeichnete, und sich selbst, weil sie "die gute Märchentante" spielte. Sie hatte Zahnschmerzen und mußte sich zwei weitere Zähne ziehen lassen."

    Nessa ist der Kosename Vanessa Bells, der Schwester virginia Woolfs. Ähnlich verfährt die Erzählerin mit den übrigen Angehörigen und Freunden der Woolfs. Die Biographie wimmelt von Eleonors, Goldies, Nellies und Rogers.. , Die familiäre Vertraulichkeit im Umgang mit ihrem Personal ist das Oberflächensymptom für den irritierenden Rollenwechsel der Biographin, ihre Verwandlung in eine Romanschriftstellerin aus der Krinolinenzeit, die auktorial über ihre Figuren verfügt, als wären sie die Geschöpfe ihrer eigenen Phantasie. Sie paust das Leben Virginia Woolfs immer kleinteiliger, immer nahsichtiger, immer wahlloser auf die Landkarte ihrer Zeit - bis zu dem Punkt, wo das gesellschaftliche Leben den Horizont bestimmt. Hitlers Aufstieg zur Macht wird eingeschoben zwischen die Hämorrhoiden Duncan Grants, den Zahnarztbesuch und Abend- und Teegesellschaften, bei denen man sich über Kultur und Barbarei unterhält und Maynard Keynes sich über die deutsche Wirtschaft vernehmen läßt:

    "Sie ging zum Garten hinaus, durch die Tür am Ende des Gartens, hinter der Kirche zum Fluß und ein wenig auf die Brücke von Southease zu. John Hubbard, ein Landarbeiter, der in einer Korbweidenpflanzung Gräben reinigte, sah sie um zwanzig vor zwölf zum Fluß gehen. Er hatte sie oft dort gesehen, aber gewöhnlich nachmittags. Er beobachtete sie ein oder zwei Minuten lang und ging dann zum Mittagessen nach Hause. Der Fluß führte viel Wasser, und die Strömung war reißend; die Ufer der Ouse sind wegen der starken Strömung immer ohne Bewuchs. Sie hob einen großen Stein vom Ufer auf, steckte ihn in die Tasche, ließ den Stock los und ging oder sprang in den Fluß. Sie konnte schwimmen, aber sie ließ sich ertrinken."

    Der Schlußsatz behauptet ein Wissen, das so zweifelsfrei nicht zu haben ist. Normalerweise kämpfen Ertrinkende in bewußtlosem Zustand reflexhaft um ihr Leben. Wenn die Biographie bei diesen letzten Sätzen über die lebende Virginia Woolf angekommen ist, hat sich Hermione Lee längst in eine zweite Miss Linsett verwandelt, jene unglückliche viktorianische Biographin, die in der Erzählung "Memoiren einer Romanautorin" Virginia Woolfs Spottfigur war. Die Beschreibung des Selbstmords zeigt alle ihre Tugenden, namentlich ihren erzählerischen Takt, ihre bewundernswürdigen Quellenkenntnisse und ihre Sprache, die in der Übersetzung Holger Fliessbachs Klarheit und Sachlichkeit mit unaufdringlicher Empathie verbindet. Zugleich wird die Klippe sichtbar, an der Biographien der positivistischen Machart notwendig scheitern müssen. Ein Leben ist mit einer endlichen Zahl von Fakten nicht beschreibbar, ja biographisches Erzählen scheitert ohne erfinderische Zutaten schon an der lebendigen Wirklichkeit eines einzigen Augenblicks. Vor allem auf der argumentativen Ebene gehören sie freilich zum gängigen Repertoire der Lebensbeschreibung, weil anders Geschichte, vergangenes Leben der Darstellung nicht zugänglich wären. Für die Stilhaltung namentlich des Künstlerbiographen hat das Konsequenzen. Der Zweifel mußte mitregieren bei der geraden Gleichung von sterblicher Figur und unsterblichem Werk und der Illustrierung des einen durch das andere.

    Hermione Lees Methode, die Einfühlung in den Mikrokosmos Virginia Woolf, die selbstverständliche Beschwörung der fernen Gestalt, als kratze eben ihre Feder übers Papier, entstammt der Biographik des 19. Jahrhunderts. Kein Wunder, daß ein Kuriosum entstanden ist, ein viktorianischer Roman, der sich ausgerechnet mit einer der Gründerfiguren modernen Erzählens befaßt. Virginia Woolf hat beispielhaft vorgeführt, wie einer fragmentierten Welt, dem als Einheit nicht mehr faßbaren Ich, einem desintegrierten Leben erzählerisch beizukommen ist. Bezeichnenderweise fehlt bei Hermione Lee das Porträt der Künstlerschaft Virginia Woolfs. Aus Materialmassen läßt sich Größe nicht rekonstruieren.

    "Ja, wollte man das Leben mit irgend etwas vergleichen, müßte es einem vorkommen, wie wenn man mit fünfzig Meilen Stundengeschwindigkeit durch den Tunnel der Untergrundbahn geblasen wird - am anderen Ende ohne eine einzige Haarnadel im Haar landendl Splitternackt vor Gottes Füße gesaust! Halsüberkopf in die Asphodelenwiesem stürzend wie braune Pakete in der Post aufs Ladeband geknallt! Mit nach hinten wehendem Haar, wie der Schweif eines Rennpferds. Ja, das scheint die rasende Geschwindigkeit des Lebens auszudrücken, den unausgesetzten Verschleiß, die Ausbesserei; alles so nebenbei, alles so aufs Gratewohl."

    Das Mal an der Wand" heißt die Kurzgeschichte aus dem Jahr 1917, die im folgenden auf zielstrebige Weise zerstreut ihr Stichwort ansteuert "Rangordnungsliste". Reflektiert wird, am häuslichen Kamin, mit einer Zigarette in der Hand, über Wahrnehmung. Im Bild des Mals an der Wand, schildert sie den Augenblick der Kunst, Kunst, in dem ein natürlicher Gegenstand in eine Formgestalt des Denkens überführt wird. Die zunächst nicht identifizierte Schnecke an der Wand gibt das Bewegungsmodell des Denkens vor. Die häusliche Szene vor dem Kamin ist ein visueller Zeugungsakt. Der Leser erlebt den Prozeß der Entstehung eines Kunstwerks als ein Kunstwerk, das die Rangordnung der "wirklichen maßgeblichen Dinge" stürzt. Die Gewaltenteilung des Sehens, die Brechung des autoritären, seinen Gegenstand beherrschenden Blicks führte später zu ihren großen erzählerischen Synopsen von Augenblicken, die vom Gedächtnis in die Tiefe der zeit geweitet und zu ewigen Augenblicken stabilisiert werden.

    Virginia Woolf war sich in aller Deutlichkeit des Zerfalls der alten Zeit- und Lebensverhältnisse bewußt. Die Krise der Zeiterfahrung im technischen Zeitalter, die Beschleunigung des Lebens, Zertrümmerung der Zeit und Auflösung ihrer alten Textur spiegeln sich in den Formumwälzungen ihres Werks. Über die Folgen für die Verfaßtheit poetischer Subjektivität reflektiert sie am 31. Mai 1933 in ihrem Tagebuch.

    "Gestern abend, bei der Fahrt durch Richmond, hatte ich einen sehr tiefen Gedanken über die Synthese meines Seins: wie nur das Schreiben es zusammensetzt: wie nichts es zu einem Ganzen macht, außer wenn ich schreibe."