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Virtuelle Beleidigungen

Was früher auf dem Schulhof von Angesicht zu Angesicht passierte, verlagern Kinder und Jugendliche jetzt ins Internet und aufs Handy: beleidigen, beschimpfen, bloßstellen. Ein Workshop in Berlin hat die neue, noch kaum erforschte Form des Mobbings thematisiert.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 12.11.2009
    "Es gibt Chatroom-Bullying, es gibt E-Mail-Bullying, es gibt SMS-Bullying. Cyberbullying ist ein Verhalten, das eine Person oder mehrere Personen schädigen soll, aktiv schädigen soll, das aber praktisch über die neuen interaktiven Medien stattfindet. Das heißt also, eben durch das Internet, über Chatrooms, Instant Messaging, aber immer stärker wieder auch in Kombination mit dem Mobiltelefon."

    Anja Schultze-Krumbholz und Catarina Katzer gehören zu den ersten Wissenschaftlern, die in Deutschland die noch junge Variante des Mobbens untersucht haben. Beim klassischen Schulmobbing wird das Opfer vor den Augen der ganzen Klasse verprügelt, beschimpft und ausgegrenzt.

    Im Cyberspace jedoch mobben Kinder und Jugendliche anders. Hinter dem Rücken ihres Mitschülers setzen sie anonym per Handy ein Gerücht in die Welt. Jemand schickt ihm wiederholt dieselbe Mail: "Du bist fett." Bei einer Diskussion im Chatroom lassen alle ihren Klassenkameraden links liegen. Oder es kursiert ein obszön verändertes Foto in "SchülerVZ", einem sozialen Netzwerk im Internet. Dahinter steckt die Absicht, zu beleidigen oder gar zu bedrohen.

    "Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass circa jeder fünfte Jugendliche involviert ist, also entweder als Täter, als Opfer oder als sogenanntes Täteropfer, was sowohl Täter als auch Opfer wird. Und das ist relativ hoch, deckt sich aber mit internationalen Befunden und auch mit den restlichen Befunden aus Deutschland."

    Dass jeder Fünfte beteiligt ist, hat sie überrascht: Anja Schultze-Krumbholz ist Psychologin an der Freien Universität Berlin und untersucht Cyberbullying an verschiedenen Bremer und Berliner Schulen. Dabei hat sie die zwölf- bis 15-jährigen Schüler in den Fokus genommen und kritisiert deren mediales Verhalten.

    "Sehr problematisch aus meiner Sicht ist, dass heutzutage im Internet sehr viel preisgegeben wird, dass Leute sich nicht, auch Erwachsene sich nicht darüber bewusst sind, dass das Internet öffentlich ist und teilweise wirklich ihre privaten Erlebnisse, Geheimnisse dort ausbreiten, aufschreiben, eine Art Onlinetagebuch führen, durch das jeder an ihrem Leben teilhaben kann. Und dadurch macht man sich natürlich auch angreifbar."

    Weil das Schulmobbing bekannter und besser erforscht ist, hat Catarina Katzer zuerst nach Zusammenhängen mit Cyberbullying gesucht. Handelt es sich um dieselben Täter und Opfer? Verhalten sich Jugendliche sowohl auf dem Schulhof als auch im Internet ähnlich aggressiv? - fragte die Wissenschaftlerin und Beraterin aus Köln.

    Sie hat die bislang einzige repräsentative Studie zu Cyberbullying in Deutschland auf den Tisch gelegt. Katzer konnte feststellen, dass fast 80 Prozent der Jugendlichen, die in der Schule als sogenannte Bullies auftreten, auch im Chatroom andere beleidigen und ausgrenzen. Andersherum erleben auch 63 Prozent der Opfer von Schulmobbing ähnliche Erfahrungen im Internetchat.

    "Die Überlappung ist groß. Wir haben aber eben doch auch eine Gruppe von Leuten, die eben nur Täter in der Schule ist oder nur Täter im Cyberspace. Und von daher müssen wir uns auch konkret auf diese Gruppen stürzen, also nicht immer nur auf die Zusammenhänge, sondern gucken: Ja welche verschiedenen Tätergruppen haben wir denn eigentlich?"

    Auch die Opfer von Mobbing können zu Tätern werden. Sie wehren oder rächen sich. Andere Bullies schikanieren Außenseiter im Chatroom, halten Konkurrenten klein oder wollen ihren Freunden imponieren. Ihre Motive sind unter dem Strich sehr vielschichtig, sagt Catarina Katzer.

    "Es gibt möglicherweise verschiedene Abstufungen von Cyberbullying. Das heißt: eines, was sehr intendiert ist, was auch gezielt ist, und andere Formen, die vielleicht eben eher zufällig passieren oder Art Spaßhandlungen sind, oder zum Teil auch Dinge, die als ganz normal gelten, also, dass man sich einfach mal beschimpft im Chatroom oder in einer sozialen Community, im sozialen Netzwerk. Das gehört einfach dazu: Man 'proletet' da ein bisschen rum."

    Hinzu kommt, dass die Hemmschwelle, im Internet andere auszulachen und zu verhöhnen, sinkt. In der Anonymität des World Wide Web muss der Täter seinem Opfer nicht in die Augen blicken. Eine Rückmeldung für das eigene Verhalten bleibt aus, so Schultze-Krumbholz:

    "Das ist häufig auch ein Problem bei Cyberbullying, dass den Tätern gar nicht bewusst ist, wie sich ihre Taten auswirken. Ihnen fehlt dieses direkte Feedback. Sie sehen ihr Opfer nicht, können weder an Mimik noch Gestik noch Worten erkennen, dass das Opfer verletzt ist, und dementsprechend fällt es natürlich auch leichter, zum Täter zu werden, weil einem nicht bewusst ist, dass es andere Leute verletzt."

    Wer Opfer von Cyberbullying wird, kann meist nur hilflos reagieren. Ein mangelndes Selbstbewusstsein verschärft die Situation. Als Außenseiter ist auch von der Internetcommunity kein Beistand zu erwarten. Steht erst einmal ein entwürdigendes Video im Netz, können Hunderte oder Tausende es sehen - und so schnell lässt sich das Stigma nicht wieder entfernen. Dazu kommt die Ungewissheit: Wer steckt dahinter?

    Wer in der Schule und im Netz belästigt wird, findet nicht einmal zu Hause seine Ruhe. Manche Opfer schalten Computer und Handy aus und suchen sich Hilfe. Doch viele schaffen das nicht. Sie reden weder mit den Eltern noch mit ihrem Lehrer, weil sie nicht auf Verständnis hoffen können.

    "Also es gibt, glaube ich, eine große Diskrepanz zwischen der Medienkompetenz der Eltern und der Medienkompetenz der Jugendlichen, sodass viele selbst gar nicht wissen, was ihr Kind im Internet oder am Computer oder auf dem Handy tut, und dann möglicherweise tatsächlich nur mit Hinweisen reagieren wie: Dann schalt doch das Handy ab, mach den Computer aus, dann musst du es nicht mehr sehen."

    "Also ich denke, neben der Forschung, die ganz wichtig ist, um einfach auch mehr Aufklärung zu bringen, muss viel stärker in die Schulen hineingetragen werden, dass das ein Problem ist. Aber auch die Sensibilität muss erhöht werden, gerade auch bei den Erwachsenen, dass sie wissen, dass Cyberbullying eben ein Problem darstellt und eben auch wirklich negative Auswirkungen auf die Opfer haben kann. Denn vielfach argumentieren die Erwachsenen: Ja, das ist ja alles nur virtuell, das spielt ja keine Rolle. Und ich sage immer, die Tränen, die im Netz geweint werden, sind genauso echt, wie im realen Umfeld."