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Historische Bachstätte virtuell rekonstruiert
Blick in die Weimarer Schlosskirche

Die Weimarer Schlosskirche, die "Himmelsburg", war für Johann Sebastian Bach fast zehn Jahre Arbeitsmittelpunkt. Ein Brand im Jahr 1774 zerstörte alles. Nun wurde die „Himmelsburg“ wieder aufgebaut. Virtuell. Marie König ist auf digitale Erkundungstour gegangen.

Ein historischer Stadtplan zeigt Weimar aus der Vogelperspektive um 1600.
Die Himmelsburg war in das Schlossensemble mit eingebunden. Das Schloss, das Bach kannte, war eine ringförmige Anlage. (picture-alliance / akg-images)
Die „Himmelsburg“ ist für Bach-Fans ein echter Sehnsuchtsort. Gemeint ist die historische Weimarer Schlosskapelle, wo Johann Sebastian Bach als junger Mann als Hoforganist und Konzertmeister des Fürstenhofes gewirkt hat. Das Gebäude aus Bachs Zeiten gibt es leider nicht mehr, aber ein ambitioniertes Projekt lässt die „Himmelsburg“ nun virtuell wiederauferstehen, als Virtual-Reality-Ort. Das Gemeinschaftsprojekt der Thüringer Bachwochen und der Thüringer Tourismus GmbH wird nun in Weimar eröffnet.

Aufschluss der Pforte

Claudia Rathay, Projektleiterin bei der Thüringer Tourismus GmbH, steht vor einem verschlossenen Baucontainer. Darin "versteckt" sich also ein ganzer Kirchenraum. Innen ist er ausgebaut, an der rechten Wand stehen drei kleine Kirchenbänke. Darauf sollen die Besucher Platz nehmen. Hier erhält man die Virtual-Reality-Brillen, die die Interessierten ins 18. Jahrhundert katapultieren.

Im wahrsten Sinne "eintauchen"

"Sie sieht ein bisschen aus wie eine Taucherbrille, finde ich. Taucherbrille mit Ohrwärmern, aus denen dann Musik kommt", so Rathay. Die Brille wurde speziell für dieses Projekt entwickelt. Sie ermöglicht das Eintauchen in die virtuelle Rekonstruktion der Weimarer Schlosskapelle. Dieser Ort war neun Jahre – von 1708 bis 1717 – der zentrale Arbeitsplatz von Johann Sebastian Bach. Als Hoforganist spielte er im Gottesdienst, als Konzertmeister schrieb er hier einige seiner bedeutendsten Kantaten.

Ein hoher Himmel

In bläuliches Licht getaucht, erscheint vor mir ein gigantischer Raum. Ich blicke auf den Altar, der einen riesigen Obelisken trägt. Mit dem Blick folge ich der Säule nach oben: Drei Emporen hat die Kapelle, und auf der obersten Galerie, in etwa 20 Metern Höhe, blitzt eine Orgel. Und schon erklingt Musik: „Himmelskönig, sei willkommen“.
Diese Kantate komponierte Bach speziell für die Schlosskapelle. Auf der Galerie neben der Orgel standen die Ausführenden. Von hier aus strömte die Musik nach unten zu den Zuhörerbänken wie sphärische Klänge aus dem Jenseits. Wegen seiner Architektur wurde der aufstrebende Raum „Himmelsburg“ genannt.

Der Nachbau

Die echte Kapelle ist einem Brand im Jahr 1774 zum Opfer gefallen. Wie sie ausgesehen hat, wissen wir hauptsächlich von einem Ölgemälde von Christian Richter. Sein Bild war die Grundlage für die virtuelle Rekonstruktion, nebst historischen Zeichnungen und Bauplänen.
Ein schwarz-weiß-Bild zeigt die Ruinen des Stadtschlosses, bei dem nur einige Fassadenwände und Kaminschornsteine übrig geblieben sind.
Am 10. Mai 1774 verwüstete ein Brand weite Teile der Weimarer Schlossanlage, die damals noch vollständig von Wasser umgeben war. (picture-alliance / akg-images)
Daraus hat Rolf Kruse, Professor für Informatik an der Fachhochschule Erfurt, mit einem interdisziplinären Team einen virtuellen Raum geschaffen. Dabei konnte er auf eine Diplomarbeit zurückgreifen: Schon 2005 hatte der Architekt Florian Scharf ein virtuelles Modell entworfen. Dieses wird nun erlebbar gemacht.
"Man gibt den Dingen eine Höhe", sagt Kruse, "Bögen müssen eingefügt werden, Skulpturen nachempfunden werden, Materialien müssen zugewiesen werden, damit auch die entsprechende Wirkung dann entsteht. Ob es matt ist, hell ist, bläulich ist und so weiter, die ganzen Materialzuschreibungen. Und dann, was recht wichtig ist, dass man natürlich auch eine entsprechende, plausible Licht-Situation hat, wo man sagt: Ja, wie stand das Gebäude, von wo kam eigentlich die Sonne?"

Den Raum erkunden

Niemand muss auf der unteren Kirchbank sitzen bleiben. Mit der Fernbedienung in die Hand, die jede Besucherin erhält, kann man sich eine Etage höher beamen. Wen dieser elekrisierende Effem schwindelig macht, kann sich mit der rechten Hand an einer Ballettstange festhalten.
Insgesamt sechs Positionen können im Kirchraum ausprobiert werden. Der Raum kann also aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden.

Historisches Hörerlebnis

Die „Himmelsburg“ ist aber nicht nur ein visuelles Erlebnis. Beim Rundgang durch das Gebäude kann jeder auch Musik hören. Und zwar so, wie sie im historischen Raum am ausgewählten Ort gewirkt haben muss. Verantwortlich für dieses technische Wunderwerk, die akustische Rekonstruktion, ist Stefan Weinzierl, Professor an der TU Berlin.
"Bei einem normalen Hörerlebnis erlebt man immer eine Mischung dessen, was die Schallquelle erzeugt, also den Klang, den Musikinstrumente erzeugen und dessen, was der Raum dazu beiträgt. In einer solchen Simulation werden die beiden Dinge getrennt. Das heißt, man nimmt die Musik zunächst mal ohne jeglichen Raumanteil auf und simuliert die Signatur des Raums separat, um sie eben am Schluss miteinander zu verrechnen."

Akustisches Verfahren

Die Musik wurde vom Ensemble „Cantus Thuringia & Capella“ im reflexionsarmen Raum der TU Berlin ausgenommen. Diese Einspielung wurde dann mit den akustischen Eigenschaften der Himmelsburg kombiniert. Das ist schon im Labor ein faszinierender Moment, noch ganz ohne virtuellen Raum, sagt Stefan Weinzierl. Aus Medieninformatik, Musikwissenschaft, Akustik, Musik, Architektur und Touristik wurden Kräfte gebündelt, um die virtuelle Himmelsburg wieder auferstehen zu lassen.
Deren Besuch ist kostenlos – und dauert rund sieben Minuten. In dieser Zeit kann man den Raum spielerisch entdecken, einer guten Aufnahme lauschen und staunen, was technisch möglich ist. Und nicht zuletzt: dem historischen Bach ein bisschen näher kommen. In der nächsten Zeit steht der Container in Weimar, danach geht die virtuelle Himmelsburg auf Reisen, unter anderem nach Leipzig und Stuttgart.